Forscher stellen Bericht auf Bischofskonferenz vor

Missbrauchsskandal: Erschütterndes Ausmaß

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Heute wurden die Ergebnisse der groß angelegten Studie zum Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche offiziell vorgestellt. Hier bestätigte sich einiges, was die Kirche lange zurückgewiesen hatte. Kein Fehlverhalten einzelner, sondern spezifische Strukturmerkmale seien es, die sexuellen Missbrauch begünstigten und die Prävention erschwerten. Das Risiko bestehe grundsätzlich fort, resümierte der Verbundkoordinator des Forschungskonsortiums.

Seit 30 Jahren arbeitet Prof. Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim in der forensischen Psychiatrie. Dort habe er sich eine "professionelle Distanz" zu den Themen, mit denen er sich befassen müsse, angeeignet. Trotzdem hätten ihn das Ausmaß des kirchlichen Missbrauchsskandals und der Umgang damit erschüttert. 366 Seiten umfasst die Studie "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz", die heute auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda vorgestellt wurde.

Die Studie habe es sich zum Ziel gesetzt, Häufigkeit und Form sexuellen Missbrauchs zu beschreiben, und lege nahe, dass es Strukturen in der katholischen Kirche gegeben habe und weiterhin gebe, die Missbrauch begünstigen könnten, so Verbundkoordinator Dreßing. Hierbei handle es sich um eine wissenschaftliche Studie, stellt Dreßing klar, keine Aufarbeitung, das müsse die Kirche selbst machen. Er betonte ferner, dass niemand aus dem siebenköpfigen Forschungskonsortium vorab Informationen an die Medien herausgegeben habe. Vor zwei Wochen hatten verschiedene Medien bereits vorab über einige Ergebnisse der Studie berichtet.

Auch zur oft kritisierten Methodik nahm Dreßing Stellung: Aus Datenschutzgründen sei es den Forschern nicht möglich gewesen, selbst in die Kirchenarchive gehen. Als Wissenschaftler könne man sich dann entscheiden, so eine Studie nicht zu machen oder sich ein intelligentes Forschungsdesign zu überlegen, das es unter den gegebenen Bedingungen erlaube, das Maximum an Daten herauszuholen und diese mit anderen Quellen abzugleichen, wie beispielsweise den Strafakten beschuldigter Kleriker oder Online-Befragungen. Dafür hätten sie sich entschieden. Dabei hätten sie keinen juristischen oder kriminalistischen Forschungsansatz verfolgt und sprächen daher nur von "Beschuldigten" und nicht von "Tätern". Eine Beeinflussung der Studie durch die Kirche schließt der Psychiater aus. Auch einen anderen Kritikpunkt aus der bisherigen Berichterstattung greift er auf: Es habe keine Beauftragung durch die Orden gegeben, weshalb diese auch nicht Teil der Studie gewesen seien.

Das Forschungskonsortium rund um Prof. Dreßing untersuchte im Zeitraum von 1946 bis 2014 etwa 38.000 Personalakten, bei 1.670 Personen fanden sich Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs. Das sei eine "untere Schätzgröße", die tatsächliche Zahl sei "vermutlich in einem nicht unbeträchtlichen Maße" höher. "Weniger war es sicher nicht (…) und das sind Befunde, die niemand mehr in Abrede stellen kann". Und ja – teilweise seien Akten vernichtet worden oder nicht mehr vollständig, in manchen Diözesen seien auch eindeutige Hinweise auf Manipulation gefunden worden.

Ein interessantes Detail der Studie bestätigt, was Kritiker schon lange vermuteten: Diakone werden deutlich seltener straffällig als Diözesanpriester. Der Unterschied: Diakone sind nicht zum Zölibat verpflichtet und "mit deutlich geringerer klerikaler Macht ausgestattet".

Neben den Beschuldigten in den Personalakten fanden die Wissenschaftler in Strafakten und Online-Befragungen weitere beschuldigte Kleriker. So waren es insgesamt 1929 Beschuldigte, die innerhalb der Studie untersucht wurden, mit dem Ergebnis, dass es bei Priestern etwa 14 Jahre nach der Weihe zur ersten Beschuldigung kam. Bei 28 Prozent der Untersuchten gab es Hinweise auf Pädophilie, eine homosexuelle Orientierung war überproportional vorhanden. Darüber hinaus fand man auch Hinweise auf generelle Überforderung, mangelnde soziale Kompetenz oder auf "Substanzmittelmissbrauch" und Vereinsamung.

Die aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragenen 4605 Betroffenen waren 13 Jahre alt und jünger; und: überwiegend männlich, was beim sexuellen Missbrauch Minderjähriger in anderen Kontexten signifikant anders sei. Als eine Ursache nennt der Forscher, dass bei Klerikern früher mehr Kontakt zu Jungen als zu Mädchen bestand. Eine weitere Begründung sei ein komplexes Zusammenspiel von sexueller Unreife, verleugneten homosexuellen Neigungen "in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung", die zölibatäre Lebensweise sowie insgesamt ein problematischer Umgang mit Sexualität. Auch die Zahl der Betroffenen sei vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs, so Dreßing.

Es überwiegen Mehrfachtaten an einzelnen Betroffenen über einen längeren Zeitraum, fand das Forscherkonsortium heraus. 80 Prozent der Fälle waren sogenannte "Hands-on-Taten", also ein Berühren des Körpers bis hin zur Penetration. Die Folgen bei den Betroffenen seien auch Jahrzehnte später posttraumatische Symptome, soziale Probleme und "ein konflikthaftes Erleben im Bereich Glauben und Spiritualität".

Dass beschuldigte Kleriker versetzt wurden, sei kein "systematisches Geschehen" gewesen, habe die Kirche wiederholt beteuert. Die Forscher kamen jetzt zu einem anderen Schluss: Die Versetzungen von Beschuldigten waren signifikant häufiger als jene von Nicht-Beschuldigten. Entsprechende "Informationen" seien in den Personalakten im Falle einer Versetzung nicht transparent weitergegeben worden.

In einem Drittel der Fälle wurden kirchenrechtliche Verfahren eingeleitet. Im Schnitt geschah das nach 22 Jahren, nach 23 Jahren wurde ein geringer Anteil auch an die Glaubenskongregation gemeldet. Das Ergebnis seien ungenügende oder auch keine Sanktionen gewesen.

Die Reaktion der Kirche sei "inadäquat" gewesen, "der Schutz von Institution und Beschuldigten hatte offenbar Vorrang vor den Interessen der Betroffenen", so das vernichtende Urteil des Verbundkoordinators. Die Fortschritte bei der Prävention seien "heterogen", im Jahr 2014 hätten noch nicht alle Priester eine entsprechende Schulung absolviert, außerdem habe es intern Widerstand gegeben. Die Empfehlungen an die Kirche für das weitere Vorgehen wurden nicht öffentlich vorgetragen. Dreßing riet aber zum "Mut zur Veränderung".

Er betont: Es handle sich beim Missbrauch nicht um ein historisches Phänomen, das in der Vergangenheit abgeschlossen sei, es sei ein "anhaltendes Problem". Deshalb brauche es weitere Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention. In den letzten Jahren habe es allerdings eine "systematische Unterschätzung" der Problematik gegeben.