Kommentar

Kulturchristentum und Menschenwürde

Der Brand der Kathedrale von Notre-Dame hat viele Menschen erschüttert. Erschütternd ist jedoch auch, dass hunderte Millionen Euro für ihren Wiederaufbau im Handumdrehen aufgetrieben waren, während in Europa für humanitäre Zwecke um jeden Euro gefeilscht wird. Ein Kommentar von Falko Pietsch.

Europa, Du machst mich manchmal sehr sehr traurig. Wenn wir alle mal eine Sekunde durchatmen könnten, um die Verhältnisse klar zu sehen? Wäre das okay? Wir können danach immer noch unsere Urlaubsschnappschüsse von den Paris-Besuchen der letzten Jahre hochladen und uns darüber freuen, dass wir Notre-Dame im vormaligen Zustand gesehen haben. Dank des Wagemuts vieler Einsatzkräfte steht das Kirchenschiff sogar noch, samt Holzgebänk und Kruzifix. Also: Durchatmen.

Was mir eher Schnappatmung verursacht: Milliardärsfamilien, die sonst mit immensen Mitteln für niedrigere Steuersätze lobbyieren, machen binnen 24 Stunden 300 Millionen Euro flüssig, um eine von zehntausenden zusehends ungenutzten Kirchen in Europa wieder zu restaurieren. Für ein fotogenes Baudenkmal. Gibt es keine dringlicheren Sorgen auf der Welt? Das Geld sitzt locker, wenn man die Chance wittert, dass der Familienname auf Jahrhunderte hinaus mit gönnerhaftem Mäzenatentum verknüpft sein möge. Darf's noch eine namentliche Erwähnung in Reihe 1 des Kirchengestühls sein? Auf dem Grundstein oder dem Turmkreuz vielleicht? Im Mittelalter saßen die Adligen auch in den ersten Reihen, die sie durch Schenkungen an die Kirchen auf Generationen gepachtet hatten, damit auch jede*r in der Gemeinde sehen konnte, wer die Frömmsten sind.

Klamme französische Kommunen, die den ärmsten Bürger*innen in Problemvierteln seit Jahren und Jahrzehnten keine besseren Beihilfen und Perspektiven bieten können, haben plötzlich 60 Millionen Euro für eine Kirchensanierung übrig. Frankreich, Du, oh Mutterland des Laizismus? Ja, Notre-Dame ist Staatsbesitz. Die katholische Kirche darf die Kathedrale für liturgische Zwecke einfach so mitnutzen. Übrigens die gleiche Lage wie beispielsweise bei der katholischen Hofkirche zu Dresden, die vom Staat geeignet, unterhalten, finanziert und saniert wird – aber zum "ewigen Nutznieß" der katholischen Kirche überlassen bleibt.

Mittlerweile sollen insgesamt schon 700 Millionen Euro an Spendenzusagen für Notre-Dame eingegangen sein. Sorgt man sich in Paris um den Tourismus? Fragt doch mal Athen, ob man auch mit Tempelruinen noch genug Menschen ins Land locken kann. Aber in Griechenland sind es ja die Tempel für tote Gottheiten. "Unseren" Gott haben viele noch nicht so richtig gehen lassen. Irgendwie brauchen den ja einige wieder, um "ihr Europa" auch hinreichend ab- und ausgrenzend definieren zu können. Alles für den Nationalstolz und das Kulturchristentum! Lasst uns doch bitte krampfhaft an Relikte klammern, weil uns sonst nix Identität gibt – oder wir uns selbst eine geben müssten. Frankreich war auch mal das Land von Sartre, von Existentialismus und wagemutigem Selbst-Entwurf.

Jetzt wird eine internationale Geber-Konferenz angekündigt. Weitere hunderte Millionen Euro sollen fließen. Derweil halten die wohlhabenden Industrienationen nicht mal die Zusage ein, popelige 0,7 Prozent des BNE in die Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Ist der Welthunger schon ad acta gelegt? Haben wir Malaria ausgerottet? Haben alle Menschen Zugang zu sauberem Trinkwasser ohne Keime oder parasitäre Erreger? Haben wir alles Erdenkliche getan, um künftige Ernteausfälle und Hungersnöte in Subsahara-Afrika zu verhindern? Haben wir hinreichend Nahrungsmittelreserven für die Benachteiligtsten angelegt? Haben wir die europäischen Fischfangflotten aus den Gewässern rund um andere Kontinente abgezogen, um die natürlichen Ressourcen anderer Menschen zu schonen? Oder geht unsere eigene Versorgung mit Nahrungsmitteln und sonstigen Ressourcen immer noch maßgeblich zu Lasten der Ärmsten? Hat jemand mal nachgeschaut, ob es vielleicht noch Länder gibt, in denen die Kindersterblichkeit bei 10 Prozent liegt? Ich frag ja nur. Das könnte ja vielleicht Priorität haben.

Ich höre die Einwände: "Das darf man nicht gegeneinander aufrechnen, hier geht's doch um ein identitätsstiftendes Kulturdenkmal! Ein Weltkulturerbe!" Darf ich zurückfragen, was sieben Milliarden Nicht-Europäer von einer Kathedrale mitten in Paris haben? Darf ich fragen, wie besorgt und betroffen der Rest der Welt war, als Palmyra und zahllose andere, jahrtausendealte Kulturdenkmäler im Nahen Osten den dortigen Konflikten zum Opfer fielen?

Ja freilich darf – nein: muss! – man in einer Welt mit begrenzten Ressourcen immer fragen, wo jene Mittel fehlen werden (oder bereits fehlen), die nun zu Zweck X eingesetzt werden sollen. Und wenn der Nationalstolz Frankreichs oder der kulturchristliche Stolz Europas schwerer wiegen als die Würde bzw. das Wohlergehen hunderter Millionen Menschen, für deren alltägliches Leiden keine internationale Geber-Konferenz einberufen wird, dann kann sich Europa seinen Stolz dorthin stecken, wo keine Sonne scheint.

Der Text erschien am 17.04.2019 bei Facebook. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors.