Zum Jahreswechsel blickt der Vorsitzende des Koordinierungsrates säkularer Organisationen – KORSO e. V., Dr. Rainer Rosenzweig, auf die bisherige Arbeit des Vereines zurück und wagt einen Ausblick in die Zukunft.
Liebe Säkulare,
zum Start ins neue Jahrzehnt lohnt sich ein Blick nach vorn – nach einem kurzen Schulterblick auf die beiden vorangegangenen Dekaden. War das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre noch vom vorsichtigen Abtasten säkularer Verbandsvertreter untereinander in einer "Sichtungskommission" geprägt, so begann der Ende 2008 gegründete Koordinierungsrat säkularer Organisationen KORSO nach einer Phase der Selbstorganisation damit, die Grundlagen für ein gemeinsames Agieren der Säkularen zu legen: In einem strukturierten Prozess mit 80 Fragen forderte er die beteiligten Verbände auf, ihre Positionen zu verschiedenen säkularen Einzelforderungen zu klären und offenzulegen. Die interne Abstimmung darüber erzeugte Bewegung im säkularen Spektrum und führte zu langjährigen verbandsinternen Klärungsprozessen, die in drei KORSO-Klausurtagungen verbandsübergreifend diskutiert wurden (2014 in Kassel, 2016 in Klingberg und 2018 in Berlin) und in einigen Mitgliedsorganisationen bis heute andauern. Diese Koordination war und ist zwingend erforderlich, damit der KORSO seinem satzungsgemäßen Auftrag nachgehen kann, "die Interessen der Konfessionsfreien … in der Öffentlichkeit zu vertreten" (§ 2 Abs. 2 der KORSO-Satzung).
Erste Gespräche von KORSO-Vertretern mit religionspolitischen Sprechern von Fraktionen des deutschen Bundestages haben kürzlich stattgefunden. Der KORSO ist dort nun also in seiner Funktion als Ansprechpartner für Belange säkularer Interessensvertretungen eingeführt und bekannt, die Grundlagen für weitere Gespräche im Sinne der öffentlichen Vertretung säkularer Interessen sind gelegt.
Dem einen oder der anderen mag das alles noch etwas langsam erscheinen. Betrachtet man den KORSO dagegen in seiner derzeitigen Ausstattung ohne hauptamtliches Personal mit einem rein ehrenamtlich agierenden Vorstand, erscheint das bisher Erreichte unter einem etwas anderen Licht. Und verglichen mit anderen weltanschaulichen Gruppierungen, deren Zeitskala eher in Jahrtausenden geeicht ist als in Jahrzehnten, ist diese Entwicklung geradezu rasant. Und sie wird weitergehen. Nicht etwa weil die säkularen Organisationen so erfolgreich agieren, sondern weil die Gesellschaft sich wandelt – auch ohne das Zutun der säkularen Verbände. Die Aufgabe des KORSO besteht also darin, säkulare Interessen in diesem gesellschaftlichen Prozess mal mehr, mal weniger lautstark einzubringen und dafür zu sorgen, dass die Entwicklung nicht an den Interessen der säkularen Menschen und deren Organisationen vorbei geleitet wird.
Im kommenden Jahrzehnt steht uns ein historischer Umbruch bevor: Bald werden Menschen, die keiner der beiden christlichen Konfessionen angehören, in Deutschland eine Mehrheit bilden. Zwar ist derzeit noch eine knappe Mehrheit von 53,2 Prozent beim Standesamt entweder als "evangelisch" oder als "katholisch" registriert (aktuelle Zahlen bei fowid). Die Tendenz ist und bleibt allerdings fallend.
Natürlich sind die Übrigen nicht alle dem säkularen Spektrum zuzuordnen. Allerdings war es noch vor 20 bis 30 Jahren völlig normal, eine "christliche" (also evangelische plus katholische) Mehrheitsgesellschaft in Deutschland stillschweigend vorauszusetzen und bei politischen Entscheidungen implizit zugrunde zu legen. Dies wird im Laufe des vor uns liegenden Jahrzehnts nun auch rein zahlenmäßig der Vergangenheit angehören. Die psychologische Wucht dieses Kipp-Punktes sollten die Säkularen nicht unterschätzen. Er wird einen gesellschaftsverändernden Schwung mit sich bringen, eine Sogwirkung, der sich die Politik auf Dauer nicht entziehen kann. Der KORSO und die säkularen Verbände müssen darauf vorbereitet sein und sich als verlässlichen Partner der Politik für notwendige gesellschaftliche Veränderungen erweisen und etablieren.
Wer diesen Prozess mitgestalten möchte, ist dazu eingeladen, sich in den Verbänden für den gemeinsamen Kurs stark zu machen – weg von kleinkarierten Partikularinteressen, hin zu gemeinsamen Positionen, die nach sorgfältiger interner Abstimmung mit der geballten Kraft aller relevanten säkularen Kräfte in Deutschland vorgebracht werden können. Dies ist der Auftrag des KORSO für die kommenden Jahre.
Die Rolle des KORSO war und ist dabei nicht etwa die einer neuen Kraft im säkularen Spektrum mit undurchschaubaren Eigeninteressen. Vielmehr ist es die eines Dienstleisters für die säkularen Verbände zur Gestaltung eines religionsneutralen Staates. Wie dieser auszusehen hat, was die Menschen, die in unseren Verbänden organisiert sind, unter "säkular" verstehen und wie ein Zusammenleben von Menschen organisiert werden könnte, ohne eine bestimmte Religion oder Weltanschauung dabei zu bevorzugen, darüber werden wir im nächsten Jahr, im nächsten Jahrzehnt sprechen, streiten und uns auseinandersetzen.
Bei der nächsten KORSO-Ratsversammlung am 29. Februar in Leipzig wird es dazu eine erste Gelegenheit geben, eine weitere bei einer Klausurtagung der im KORSO organisierten säkularen Verbände im Oktober 2020. Dort wird zu verhandeln sein, wie die Verbände diesem gesellschaftlichen Wandel begegnen, welchen Stellenwert sie einem gemeinsamen Vorgehen einräumen und wie sie den KORSO für die Zukunft aufstellen und ausstatten werden.
Ein spannendes Jahrzehnt steht vor uns, gefüllt mit vielen Chancen für Säkulare in Deutschland und Europa. Ich freue mich auf den Gedankenaustausch mit allen, die diese Entwicklung konstruktiv mitgestalten möchten.
Für den gemeinsamen "Aufbruch ins säkulare Jahrzehnt" wünsche ich den vielen engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreitern alles Gute und viel Erfolg!
Dr. Rainer Rosenzweig
Vorsitzender
des Koordinierungsrates säkularer Organisationen KORSO e. V.
Erstveröffentlichung auf der Webseite des KORSO.
16 Kommentare
Kommentare
Konrad Schiemert am Permanenter Link
"Ein spannendes Jahrzehnt steht vor uns..."
Kleine Korrektur: Das aktuelle Jahrzehnt dauert noch ein Jahr.
Rainer Rosenzweig am Permanenter Link
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird ein Jahrzehnt üblicherweise nach den Jahresziffern zusammengefasst.
Unechter Pole am Permanenter Link
Dann würden aber folgerichtig die Nullerjahre des 20. Jahrhunderts aus den Jahren 1901-1909 und 2000 bestehen...
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Das ist aber nur ein schlampiger allgemeiner Sprachgebrauch. Da es kein Jahr "0"gab, dauerte (rechnerisch) das erste Jahrzehnt vom Jahr 1 - 10, was ja auch Sinn macht.
Dieser Unsinn der Zeitrechnung wurde offenbar, als der Jahrtausendwechsel ein Jahr zu früh (und ohne mich) gefeiert wurde. Ich habe es dafür 2001 krachen lassen.
Ich finde die korrekte Version auch viel einfacher zu handhaben. Ein neues Jahrzehnt beginnt am 1.1.x1. Aber zu pedantisch sollte man auch nicht sein. Und einen Aufbruch in ein neues säkulares Jahrzehnt muss man allemal begrüßen. Am besten jeden Tag!
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Ja, man kann auch so betrachten, wie Sie das beschreiben und sehr viele Leute verwenden das so.
Stefan Dewald am Permanenter Link
In der Moderne beginnt die Zählung bei der Null.
Nick Rudnick am Permanenter Link
Die astronomische Zeitrechnung beginnt zwar mit Null, aber die positiven Jahreszahlen uZ (nChr) beginnen sowohl bei der astronomischen, als auch der historischen Zeitrechnung mit dem Jahr 1.
Axel Stier am Permanenter Link
Mein Mathe-Prof nannte sowas "Selbstbefriedigung der Mathematiker"
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Der eingeschlagene Weg ist der einzig richtige und ich hoffe, dass uns allen die humanistisch-atheistisch eingestellt sind der Erfolg noch gelingen wird.
ohne die Geisel des Glaubens. Wenn schon Glaube, dann an die Kraft der Vernunft und die eigene Kreativität, zum Wohle aller.
Daran werde auch ich nach meinen Kräften mitarbeiten solange ich noch kann.
Wolfgang Graff am Permanenter Link
Der laizistische Staat als Ziel. Ich bin überzeugt, dass es gelingt, dahinter alle säkularen Vereinigungen zu versammeln. Und das wäre schon viel mehr als ein kleiner gemeinsamer Nenner.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ja, ein "spannendes Jahrzehnt"! Auf in die neuen Zwanzigerjahre...
Deine Worte machen Mut, lieber Rainer - auch wenn die antisäkulare Reaktion weltweit mit den Hufen scharrt.
Ehrenfried Wohlfarth am Permanenter Link
"Die psychologische Wucht dieses Kipp-Punktes sollten die Säkularen nicht unterschätzen." Dem stimme ich voll zu.
Rainer Rosenzweig am Permanenter Link
Pessimismus sehe ich nicht, Kleinmut schon eher, am meisten aber - zumindest bisher - das Schielen auf die eigenen Partikularinteressen - daher auch die (frühere) Neigung zu Isolation und Konkurrenzdenken.
Werner Koch am Permanenter Link
Ich wünsche KORSO viel Erfolg. Es gibt viel zu tun.
Ein Aspekt als Beispiel: Das Thema Religionsfreiheit, lobt „Christ in der Gegenwart“ wird in der Bundesregierung immer mehr beachtet.
„In der deutschen Politik wird das Thema Religionsfreiheit immer stärker beachtet.
In Regierung, Auswärtigem Amt und im Entwicklungsministerium entstünden „immer mehr Stäbe, Stellen und Kompetenzzentren, die sich für Religionsfreiheit weltweit einsetzen. Das war vor fünf, zehn Jahren noch nicht der Fall. Auch in den Debatten des Bundestags wird das Thema Religionsfreiheit immer öfter – und differenzierter – aufgegriffen.“
Leider nur aus der Sicht der Religiösen – die Freiheit von der Religion spielt keine Rolle, ebenso wenig ist ein Thema, dass Atheisten in vielen Ländern verfolgt und mit dem Tode bedroht werden, ist für Christen und für die Bundesregierung anscheinend kein Thema.
Siehe auch: Überraschend positiv: Religionsfreiheit im Jahr 2019
https://www.herder.de/cig/cig-ausgaben/archiv/2020/1-2020/ueberraschend-positiv-religionsfreiheit-im-jahr-2019
Axel Stier am Permanenter Link
re:In der deutschen Politik wird das Thema Religionsfreiheit immer stärker beachtet
Gibt es für Bundes- und/oder Landesebene eine Aufstellung, welche Parteien
- Punkte im Parteiprogramm
- ständige Ausschüsse
- Interessengruppen
- Ansprechpartner
für säkulare Fragen veröffentlicht haben?
Oder wird dieses Thema auf die interstellare, globale Ebene geschoben. um sich nicht real damit auseinandersetzen zu müssen?
Wäre das nicht eine zielorientierte Aufgabe für KORSO?
Rainer Rosenzweig am Permanenter Link
Das ist sicher eine lohnende Aufgabe, nicht unaufwändig, aber nach und nach im Rahmen unserer Möglichkeiten anzugehen, danke für die Anregung!
In diesem Zusammenhang verweise ich auf die Antworten der Parteien auf die vor der Bundestagswahl 2017 vom KORSO erfragten Wahlprüfsteine. Diese Antworten sind aufschlussreich und hier nachlesbar:
http://www.korso-deutschland.de/der-korso-hat-gefragt-und-die-parteien-haben-geantwortet/