Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung

Opfer, die keine Opfer sein wollen

Eine Initiative hat am vergangenen Wochenende einen an die Parteivorsitzenden der Grünen, der Linken und der SPD gerichteten offenen Brief veröffentlicht. Darin fordern die säkularen und atheistischen MigrantInnen die Politiker*innen auf, endlich auch ihre Interessen zu unterstützen.

Der hpd veröffentlicht den Offenen Brief im Wortlaut:

Sehr geehrte Frau Kipping, sehr geehrte Frau Baerbock, sehr geehrte Frau Esken, sehr geehrter Herr Riexinger, sehr geehrter Herr Habeck, sehr geehrter Herr Walter-Borjans,

wir sind Frauen, muslimisch sozialisierte Deutsche mit Migrationshintergrund, Migrantinnen sowie Geflüchtete, und appellieren nachdrücklich an Sie, an Ihre Vernunft und Ihre Solidarität, endlich unsere Interessen zu vertreten.

Sei es in unseren Herkunftsländern oder in der Bundesrepublik, sei es in unserem familiären oder sozialen Umfeld: Fortwährend müssen wir beobachten, wie sich der fundamentalistische und politische Islam unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit und des Minderheitenschutzes verbreitet. So werden kontinuierlich Menschenrechte von drei besonders verwundbaren Gruppen bedroht: Säkulare oder atheistische MigrantInnen aus sogenannten muslimischen Ländern; LGBTQI; Mädchen und Frauen, die in patriarchalen Strukturen verhaftet sind und nicht frei, selbstbestimmt und gleichberechtigt leben können.

Seit mehr als einem Jahrzehnt verfolgen hierzulande die VertreterInnen des konservativen und politischen Islams eine identitäre und kommunitaristische Politik: Mit der Aufwertung der religiösen Identität sowie dem damit einhergehenden Zwang, sich einem ethnischen Kollektiv zugehörig zu fühlen bzw. fühlen zu müssen, fördern sie eine Abspaltung von der Gesellschaft und setzen schrittweise ihre archaischen Normen in den sogenannten muslimischen Gemeinschaften durch.

Bereits seit Jahren weisen wir, säkulare Migrantinnen, unermüdlich darauf hin, dass nicht wenige muslimisch sozialisierte Mädchen und Frauen zahlreichen Diskriminierungs- und Gewaltformen ausgesetzt sind. Sie leiden unter der Nichtteilnahme an sportlichen, kulturellen und schulischen Aktivitäten, unter Früh- und Zwangsverheiratungen, sowie unter Früh- und Zwangsverschleierung und vielem mehr. Dies kommt noch zu den ausländerfeindlichen Ausgrenzungen und rassistischen Angriffen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft hinzu. Für uns rechtfertigen weder Kultur noch Tradition oder Religion geschlechtsspezifische Diskriminierungen.

Wir sind verwundert, dass Ihre Parteien, die einst unsere Interessen vertreten wollten, heute mit reaktionären und ideologischen Kräften in den Dialog treten und ihnen eine politische Bühne bieten und somit dazu beitragen, dass die religiösen und traditionellen, frauenverachtenden Moralvorstellungen, welche uns fesseln, verfestigt werden. Es kann nicht sein, dass Sie uns nicht unterstützen, wenn wir uns dafür einsetzen, dass muslimisch sozialisierte Mädchen und Frauen dieselben Rechte wie ihre nicht-muslimischen Mitbürgerinnen erhalten. Noch unfassbarer ist für uns, wenn viele aus Ihren Reihen die Frühsexualisierung und Objektifizierung von Mädchen und Frauen aus falsch verstandener Toleranz zulassen.

Müssen wir Sie daran erinnern, dass Frauenrechte universal, unteilbar und unverhandelbar sind? Sie gelten für alle – unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Konfession oder Kultur.

Die Rechte von Mädchen und Frauen aus den sogenannten muslimischen Gemeinschaften und Familien dürfen weder hier in der Bundesrepublik noch woanders auf dem Globus ignoriert werden. Mädchen und Frauen können nur dann mündige Bürgerinnen werden, wenn sie die Chance erhalten, kritisch zu denken und ihre Lebensrealität dadurch zu hinterfragen. Dafür müssen sie zunächst offen über ihre Erfahrungen sprechen und diese reflektieren dürfen. Aktuell wird uns - säkularen und atheistischen, muslimisch geprägten Frauen - dieser Prozess auch von Teilen Ihrer Parteien verwehrt. Nicht selten wird uns "antimuslimischer Rassismus", "Islamophobie" oder "rechte Hetze" vorgeworfen. Diese Rhetorik ähnelt sehr der der Islamisten. Sie wird als Knebel verwendet, um die Diskussion und die Kritik an chauvinistischen Unterdrückungsmechanismen zu verhindern. Religionskritik wird als Rassismus denunziert. Müssen wir Sie daran erinnern, dass Religionskritik eine wertvolle Errungenschaft der Aufklärung ist, die dazu beigetragen hat, dass Frauen und Männer sich von jeglichem Dogmatismus emanzipieren konnten, um eine moderne und humanistische Gesellschaft aufzubauen?

Unsere Ziele sind

  • die Einstellung aller Kooperationen mit politisch-religiösen und nationalistischen Akteuren,
  • die Einstellung aller finanzieller Förderungen für islamistische Verbände und Vereine,
  • der Schutz aller Kinder vor sexistischer Indoktrinierung und vor religiösem Mobbing,
  • eine kritische Auseinandersetzung mit allen Religionen sowie die aktive Förderung des Säkularismus.

Konkret fordern wir von den angesprochenen Parteien und von allen AkteurInnen der Zivilgesellschaft, Religion grundsätzlich als Privatsache zu behandeln und Religionsfreiheit – d. h. eine Religion auch ablegen sowie frei von Religion leben zu dürfen – als Grundrecht auf alle Kinder zu beziehen.

Weiterhin fordern wir das Verbot aller vermeintlich religiösen, geschlechtsspezifischen Kleidungsvorschriften wie Kinderkopftuch und Vollverschleierung. Zuletzt muss ein Konzept für einen bundesweiten, verpflichtenden Ethikunterricht für alle SchülerInnen ausgearbeitet werden, unabhängig von der Konfession der Eltern. Denn nur so können die Gleichheit aller BürgerInnen sowie der gesellschaftliche Zusammenhalt gewährleistet werden.

Dem Rassismusvorwurf gegen säkulare und atheistische MigrantInnen muss Einhalt geboten werden!

Mit säkularen Grüßen

Aghdas Shabani, Sozialarbeiterin, Hannover
Ameneh Bamedi, Frauenrechtlerin, Stuttgart
Dalile Sarhangi , Frauenrechtlerin, Essen
Farsaneh Parizadehgan, Frauenrechtlerin, Stuttgart
Fariba Cheraghloo, Frauenrechtlerin, Dortmund
Fariba Farnousch, Heilpraktikerin, Bonn
Farrokh Ashrafi, Frauenrechtlerin, Essen
Fatma Keser, Studentin, Offenbach am Main
Fateme Tadjdini, Krankenschwester und Mediatorin, Köln
Hamideh Kazemi, iranische Menschenrechtsinitiative, Hamburg
Hamila Vasiri, Mitarbeiterin 2. Autonomes Frauenhaus, Köln
Hellen Vaziri, Informatikerin, Köln
Hourvash Pourkian, Vorsitzende des Vereins Kulturbrücke e. V., Hamburg
Jale Borji, Frauenrechtlerin, Dortmund
Khatereh Karimi, Pädagogin, Mönchengladbach
Mahbube Peukert, Frauenrechtlerin, Dortmund
Mahshid Pegahi, Frauenrechtlerin, Langen (Hessen)
Maryam Alizadeh, Frauenrechtlerin, Essen
Maryam Mousavi, Krankenschwester, Hamburg
Mina Porkar, Architektin, Hamburg
Mitra Fazeli, Informatikerin, Dortmund
Manijeh Erfani-Far, Frauenrechtlerin, Frankfurt am Main
Manijeh Zahedian, Frauenrechtlerin, Dortmund
Mona Eslami, Angestellte, Müllheim am Main
Monireh Kazemi, Frauenrechtlerin, Frankfurt am Main
Naila Chikhi, unabhängige Referentin, Berlin
Nassrin Amirsadeghi, Exiliranerin, DaF- und DaZ-Dozentin, Berlin
Niloofar Beyzaie, Theaterautorin und -regisseurin, Frankfurt am Main
Nosrat Feld, Psychotherapeutin, Hamburg
Pouran Amiry, Frauenrechtlerin, Essen
Rezvan, Moghaddam, Frauenrechtlerin, Berlin
Shaghayegh Kamali, Frauenrechtlerin, Berlin
Shahla Karim Manesh, Frauenrechtlerin, Essen
Shamla Sarabi, Frauenrechtlerin, Essen
Sima Asgari, Frauenrechtlerin, Essen
Turan Nazemi, Menschenrechtlerin, Frankfurt am Main
Vajiheh Monadi, Frauenrechtlerin, Essen

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