Kommentar

Tiere: Das virale Drehkreuz zum Humanismus

Wenn es so etwas wie "die Wildnis" gäbe, so ließe sich aktuell gut von der "Wut der Wildnis" reden. Oder es ließe sich sagen: "Die Natur rächt sich, weil wir ihr allzu dicht auf die Pelle gerückt sind." Unser Naturverhältnis krankt nicht nur: es macht krank. Und wenn wir die erforderlichen Maßnahmen nicht umsetzen, stehen wir diesbezüglich erst am Anfang.

Am Anfang menschlicher Intelligenz steht einer bekannten These zufolge das Tier. Genauer gesagt: das Fleisch. Als unsere hominiden Urahnen sich vermehrt auf die Jagd machten oder damit begannen, Fallen zu stellen und reichlich tierische Proteine zu sich zu nehmen, da sollen ihre Gehirne größer geworden sein. Auf diese Weise, so die These, erwuchs uns eine alle anderen Spezies überragende Intelligenz. In der Tat: Mit unserem Elefantengedächtnis müssen wir von dieser These nur einmal gehört haben, um sie niemals wieder zu vergessen und sie papageienhaft wiederholen zu können. Wobei die Hirne von Elefanten deutlich größer sind als die von Menschen – ohne dass Elefanten jemals Fleisch äßen. Und wobei Graupapageien zu erstaunlichen kognitiven Leistungen imstande sind, obwohl sie sich von Nüssen und Grünfutter ernähren.

Aber nehmen wir einmal an, dass die These vom Zusammenhang zwischen vermehrtem Fleischkonsum und zunehmender Intelligenz bei unseren Urahnen zutrifft. So müssen wir doch Folgendes konstatieren: Unsere lange Vorgeschichte der Akkumulation tierischer Proteine hat uns offenbar nicht intelligent genug gemacht, um Jahrzehntausende später einzusehen, dass es längst an der Zeit ist, mit dem ungeheuren Fleischverzehr aufzuhören. Warum sollten wir dies schnellstens tun? Die Antwort auf diese Frage fällt zweiteilig aus.

Erstens (Massentierhaltung als virale Brutstätte):

Fast könnte man sagen: Mit dem Virus Sars-CoV-2 und dem aktuellen Verlauf der von diesem Virus ausgelösten Krankheit Covid-19 haben wir noch großes Glück gehabt: Es ist weitaus weniger tödlich als die Vogelgrippen H5N1 oder H7N9. Das Virus H5N1 oszilliert zwischen Wildvögeln und Geflügel und ging erstmals 1997 auf Menschen über. Nach einer Infektion mit dem Vogelgrippe-Virus H5N1 starb etwa die Hälfte aller betroffenen Personen. Noch hat es nicht die Mutationen ausgebildet, die eine massenhafte Übertragung von Mensch zu Mensch ermöglichen würden. Werden also die Massentierhaltung und die Darbietung frisch geschlachteter Tiere auf Blutmärkten nicht sehr kurzfristig und weltweit abgeschafft, so könnte die Krankheit Covid-19 sich im Nachhinein als ein schwacher Vorgeschmack auf kommende Pandemien – etwa in Gestalt von H5N1 – erweisen. Sofern es keine vorgängige Immunität gegen Zoonosen (von Tieren auf Menschen übertragene Krankheiten) gibt, drohen Pandemien mit zahllosen Opfern, wenn wir uns jetzt nicht besinnen. Nur ein Hinweis: Nachdem das H5N1-Virus 2007 auf bayerischen Geflügelhöfen gefunden wurde, kam es zur bis dahin größten Keulungsmaßnahme in Deutschland: 500.000 Enten wurden getötet.

Diese Zeilen werden Ende April 2020 geschrieben, und allerorten hört man: "In diesen Zeiten von Corona …" Das virale Geschehen dieser Wochen und Monate demonstriert uns, dass die Zeit überreif ist, die Massentierhaltung ein für allemal abzuschaffen. Massentierhaltungen sind eine Brutstätte für neuartige Krankheitserreger, die von dort aus auf Menschen überzugehen drohen. Natürlich wird dies mit wirtschaftlichen Opfern verbunden sein – aber genau diese Opfer werden ja bereits in diesen Zeiten des vergleichsweise harmlosen Covid-19 der Gesamtbevölkerung auferlegt. Für einen übergeordneten solidarischen Zweck wird man wirtschaftliche Opfer – unter Anbietung von Entschädigungen – folglich auch den Massentierhaltern abverlangen können. Die Regierung ist seit Jahren von Experten gewarnt, denen sie jetzt vertraut, und wird die Corona-Pandemie als Fanal zur Abschaffung der industriellen Fleischwirtschaft nehmen, da diese eine unerhörte Bedrohung für unser Wohl darstellt.

Blutmärkte

Nicht nur die Massentierhaltung gehört abgeschafft, auch die Blutmärkte der Erde, auf denen gerade noch lebende, verletzte oder frisch geschlachtete und häufig auch – aus hiesiger Sicht – "exotische" Tiere feilgeboten werden. Auch wenn sich herausstellen sollte, dass das Coronavirus Sars-CoV-2 nicht von Schuppentieren auf den Menschen übertragen wurde, nachdem die Schuppentiere von Fledermäusen infiziert worden waren: Blutmärkte sind eine unkalkulierbare Quelle für Zoonosen.

Fledermausgrippe "bei uns"?

Um der viralen Gefahr ins Auge zu sehen, muss man gar nicht nach (Süd)-Ostasien oder Afrika schauen. In einem Archivbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von 2011 mit dem Titel "Gefährliche Eindringlinge - Droht nach der Schweine- und Vogelgrippe in Zukunft eine Fledermausgrippe?" steht zu lesen: "Besonders in Fledermäusen existiert weltweit und auch in Europa ein enorm großes Reservoir an neuen Coronaviren, von denen neue SARS-Epidemien ausgehen könnten." Hieraus ist allerdings nicht der Schluss zu ziehen, dass man die Fledermäuse abschaffen sollte. Ganz im Gegenteil: Auch wenn ein undistanzierter Kontakt zu Fledermäusen krank machen kann, so ist es doch unser Naturverhältnis, das krankt. Es ist geboten, den Fledermäusen ihre angestammten Lebensräume zu überlassen und bestehende Viehbestände abzubauen, damit die Flugsäuger ihre Ruheplätze nicht in der Nähe von Viehbeständen wählen.

Zweitens (evolutionärer Humanismus):

Nicht nur die Massentierhaltung und der Massenkonsum von Fleisch sind einzustellen. Sondern generell die Vernutzung von Tieren, sofern es Alternativen gibt. Der evolutionäre Humanismus betont unsere Verankerung im Tierreich. Demnach sind wir durchaus nicht "naturfremd". Wir sind nicht das ganz Andere der Tiere und keiner Extra-Schöpfung entsprungen. Sondern wir teilen bestimmte Bedürfnisse mit ungezählten Individuen zahlreicher Tierarten. Insbesondere das Bedürfnis nach Schmerzfreiheit und Leidensfreiheit. Der evolutionäre Humanismus ist also gerade nicht anthropozentrisch. Ihm sollte es folglich nicht nur um das Wohl von Menschen gehen, sondern auch um das Wohl jener empfindenden Wesen, mit denen wir gemeinsame Vorfahren haben. Der evolutionäre Humanismus ist von Haus aus eine Einstellung, die jenem monotheistischen Wahlspruch widerspricht, der da lautet: "… herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht." (1. Mose 1, 28)

Nehmen wir einmal an, die These vom fleischlichen Ursprung unserer Intelligenz sei erwiesen. Dann wäre es plakativ gesagt so, dass wir unseren tierischen Ahnen das, was den Menschen zum Menschen macht (unter anderem die weise Voraussicht) zu einem Gutteil den gleichsam hinter uns zurückgebliebenen Tieren verdanken. Unsere Intelligenz wäre somit auf doppelte Weise im Tierreich verankert: Zum einen, weil wir generell tierische Vorfahren haben, zum anderen, weil unsere frühmenschlichen Ahnen das Fleisch von Tieren in höhere Intelligenz umgesetzt hätten.

Wäre es vor diesem Hintergrund nicht endlich an der Zeit, den Tieren etwas zurückzugeben, nachdem sie uns über Jahrhunderttausende als Steigbügel gedient haben? Selbstverständlich kann man die bislang geschundenen und getöteten Billionen Tiere nicht mehr entschädigen. Aber man könnte sie gleichsam symbolisch entschädigen, indem man sagt: "Tierliche Leiber haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Daher verzichten wir von heute an darauf, Tierleiber zu züchten, zu mästen, zu transportieren, zu schlachten und zu verspeisen."

Man kann sich den evolutionären Humanismus als nach vorwärts und nach rückwärts offen denken: Der Vorwärtspfeil verweist auf unsere künftig vielleicht erst noch auszubildenden kognitiven und moralischen Fähigkeiten. Der Rückwärtspfeil verweist auf unsere evolutionäre tierische Vorgeschichte. Nochmals metaphorisch: Auf dem Rücken von Lasttieren wurden wir zu dem, was wir sind. Und die Zeit für eine symbolische Entschädigung von Billionen von Tieren ist gekommen, indem wir jetzt in einem umfassenden humanistischen Bekenntnis darauf verzichten, die aktuell lebenden Tiere zu vernichten und zu vernutzen und davon Abstand nehmen, weitere Tiere zu züchten, nur um sie zu verbrauchen.

Tiere sind das virale Drehkreuz zum Humanismus: Allein schon unser Eigeninteresse gebietet es, endlich von der Massentierhaltung Abstand zu nehmen. Und der evolutionäre Humanismus legt eine im generellen Fleischverzicht bestehende symbolische Würdigung der Wesen nahe, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind: zu humanen Wesen.

Und wenn die These vom tierischen Protein als einem unverzichtbaren Steigbügel für menschliche Intelligenz am Ende gar nicht zutrifft? Dann gäbe es aus Sicht des evolutionären Humanismus immer noch hinreichende Gründe, künftig auf Fleisch zu verzichten: Evolutionärer Humanismus besagt ja insbesondere auch, dass unsere Menschlichkeit sich weiterentwickeln kann, dass wir mehr sein können als Komplizen tierquälerischer Ausbeutung – und warum sollte unsere Menschlichkeit sich nicht auf unsere tierische Vergangenheit erstrecken, die neben uns in Gestalt unserer tierischen Mitbewohner gegenwärtig und präsent ist?

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