Offener Brief an Kultusminister

HVD Niedersachsen fordert Einhaltung von vertraglichen Vereinbarungen

Im Jahr 1992 wurde in Niedersachsen das Schulfach "Religionskunde" durch das Fach "Werte und Normen" ersetzt, jetzt wird Letzteres auch an Grundschulen eingeführt. Womit der Humanistische Verband Niedersachsen jedoch nicht einverstanden ist, ist die Abnahme religionskundlicher Inhalte in diesem Schulfach. Aus diesem Anlass hat der Verband einen Offenen Brief an den niedersächsischen Kultusminster, Grant Hendrik Tonne (SPD), geschrieben.

Sehr geehrter Herr Kultusminister,

mit großer Freude hat der Humanistische Verband Deutschlands – Niedersachsen, K.d.ö.R. die Nachricht aufgenommen, dass das Fach Werte und Normen nun auch an Grundschulen eingeführt wird. Das Fach Werte und Normen erfüllt eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe, da in ihm "religionskundliche Kenntnisse, das Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und der Zugang zu philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen zu vermitteln" sind (Paragraf 128, 2 Niedersächsisches Schulgesetz). Das Fach Werte und Normen trägt in seiner Kernidee substanziell und auf einzigartige Weise zur interkulturellen Bildung sowie zur Demokratiebildung bei. Hier entwickeln die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Entwicklung ihrer Persönlichkeit eine ethisch reflektierte Werthaltung und erwerben die für den gesellschaftlichen Dialog notwendigen religionskundlichen Kenntnisse.

Leider haben sich die curricularen Vorgaben des Faches in den letzten Jahrzehnten dergestalt entwickelt, dass das Fach der im Schulgesetz festgelegten Ausrichtung nur noch in Teilen nachkommt.

Das Fach Werte und Normen ist laut den Vereinbarungen zwischen dem Land Niedersachsen und dem Humanistischen Verband Niedersachsen im Schwerpunkt ein religionskundliches Fach. Demgegenüber wird das Fach in den aktuellen Kerncurricula jedoch von Themen dominiert, die vor allem unter philosophischen beziehungsweise ethischen Fragestellungen behandelt werden sollen. Die didaktischen Leitprinzipien der Kerncurricula legen zudem fest, dass Themen aus anderen Bezugswissenschaften (zum Beispiel Soziologie, Psychologie) unter ethischen oder philosophischen Fragestellungen zu behandeln sind. Besonders problematisch – weil fachwissenschaftlich unhaltbar – ist diese Engführung im Bereich religionskundlicher Unterrichtsinhalte. Diese Engführung führt dazu, dass die Vielfalt und die Diversität gesellschaftlichen Lebens nicht mehr hinreichend abgebildet beziehungsweise nur sehr einseitig vermittelt wird. Den Schülerinnen und Schülern wird damit die Auseinandersetzung mit einem wichtigen Bestandteil ihres eigenen Lebens verwehrt.

Auch in quantitativer Hinsicht ist an den Kerncurricula Kritik zu üben: Nur drei der insgesamt 15 Leitthemen in der Sekundarstufe I haben eine (mehr oder weniger) religionskundliche Ausrichtung. Bei den insgesamt 52 Kompetenzbereichen beträgt der Anteil derer, die zumindest dem Etikett nach eine religionskundliche Ausrichtung haben, lediglich 19 Prozent. 81 Prozent der Lerninhalte werden somit den anderen Bezugswissenschaften eingeräumt. Durch die Mitwirkung des Humanistischen Verbandes an den letzten Curricula konnte immerhin eine weitere Reduktion der religionskundlichen Inhalte verhindert werden. Klar gegen die vertraglichen Vereinbarungen verstößt zudem die Tatsache, dass religionskundliche Inhalte nicht in der Qualifikationsphase, sondern lediglich in der Einführungsphase der Sekundarstufe II angeboten werden und somit nicht Bestandteil von Abiturprüfungen sein können.

Die oben skizzierten Tatsachen konterkarieren die im Vertrag vom 17. August 1992 (Ablösung des Faches Religionskunde durch das Fach Werte und Normen) festgehaltenen Regelungen:

"(2) Im Fach Werte und Normen sind religionskundliche Kenntnisse, das Verständnis für die in der Gesellschaft wirksamen Wertvorstellungen und Normen und der Zugang zu philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Fragen zu vermitteln."

Aus den vertraglichen Vereinbarungen ergibt sich, dass der inhaltliche und didaktische Fokus des Faches ganz klar auf die Bereiche Religionskunde und Ethik mit Werteorientierung gelegt werden muss. Aus dem zitierten Passus geht im Übrigen nicht hervor, dass das Fach Werte und Normen eine Vorstufe des Philosophieunterrichts sein soll – wie es an Universitäten, in der Lehrerbildung und auch in Schulen immer wieder offensiv propagiert wird.

Der Humanistische Verband Niedersachsen kommt daher zu der Auffassung, dass der religionskundliche Unterricht mit insgesamt 19 Prozent am Gesamtumfang sowie in seiner inhaltlichen Festlegung nicht annähernd angemessen im Fach Werte und Normen repräsentiert wird. Wir sehen daher die im Staatsvertrag sowie in den vertraglichen Regelungen zur Ablösung des Religionskundeunterrichts festgehaltenen Absprachen nur mangelhaft umgesetzt. Eine Integration eines gesamten Faches in ein anderes erfordert unserer Auffassung nach eine Abbildung der Inhalte des integrierten Faches mit wenigstens 50 Prozent.

Im Übrigen möchten wir darauf hinweisen, dass wir im Rahmen der Einführung des Faches Werte und Normen an Grundschulen bisher nicht die Gelegenheit hatten, die uns zustehenden zwei Vertreter beziehungsweise Vertreterinnen in die entsprechenden Lehrplan-Kommissionen zu entsenden und daher nicht wie zugesichert an der inhaltlichen Ausgestaltung des Faches mitwirken können (siehe hierzu die Vertraglichen Vereinbarungen vom 17. August 1992, Punkt 5). Ferner möchten wir darauf hinweisen, dass eine Benennung im Rahmen einer ordentlichen Mitgliedschaft mit Stimmberechtigung zu erfolgen hat. Eine lediglich beratende Funktion von Vertreterinnen beziehungsweise Vertretern erfüllt die vertraglichen Vereinbarungen nicht.

Des Weiteren kommt es immer noch zu einer substanziellen Ungleichbehandlung und Benachteiligung von Lehrkräften im Fach Werte und Normen. Diese Ungleichbehandlung zeigt sich darin, dass Lehrkräfte im Fach Philosophie automatisch eine Fakultas für das Fach Werte und Normen erhalten. Dies ist nicht nur fachlich, sondern auch rechtlich untragbar: Philosophie ist zwar eine Bezugsdisziplin für ein Lehramtsstudium und den Unterricht Werte und Normen (siehe hierzu vertragliche Vereinbarungen vom 17. August 1992, Punkt 6), für Philosophie-Lehrkräfte sind jedoch religionswissenschaftliche Studieninhalte nicht obligatorisch, sodass sie für einen vertraglich vereinbarten und essenziellen Gegenstandsbereich des Faches Werte und Normen gar nicht ausgebildet sind. Es kommt daher zu einer Situation, dass Lehrkräfte Planstellen für ein Fach besetzen dürfen, für das sie nicht vollumfänglich ausgebildet sind. Um einen der prominentesten Vertreter der Religionswissenschaft und Präsidenten der IAHR (Internationale Vereinigung für die Geschichte der Religionen), Tim Jensen, zu zitieren: "Nobody would dream of having school subjects like biology, history, literature, mathematics, and social sciences taught by teachers who did not know about and teach in line with the scientific field or discipline in question."

In diesem Zusammenhang möchten wir noch einmal auf die von verschiedenen Seiten mehrfach geforderte Einbindung der Religionswissenschaft in die Ausarbeitung der Lehrpläne hinweisen. Die Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft (DVRW) ist sicherlich bereit, ihre Fachexpertise zur Verfügung zu stellen.

Schließlich bemängeln wir die Tatsache, dass es zu nicht rechtskonformen Mischformen zwischen dem Unterricht im Fach Werte und Normen und dem Religionsunterricht an verschiedenen Schulen beziehungsweise Schulformen kommt. Wir möchten an dieser Stelle noch einmal nachfragen, wann diese Mischformen aufgelöst und die im Grundgesetz verankerte negative Religionsfreiheit gewährleistet wird.

Darüber hinaus erwarten wir, dass

  1. der religionskundliche Anteil in den Kerncurricula Werte und Normen signifikant erhöht wird,
  2. die Religionswissenschaft sowie die religionskundliche Didaktik auch in den Kompetenzbeschreibungen und im Bildungsbeitrag der Kerncurricula abgebildet werden,

  3. der Humanistische Verband Niedersachsen grundsätzlich bei der Entwicklung der Curricularen Vorgaben sowie der Kerncurricula im oben aufgeführten Sinne eingebunden wird,

  4. die Religionswissenschaft einen Mindestanteil von 50 Prozent an der universitären Lehrerausbildung aller Schulformen einnimmt sowie

  5. unverzüglich die Praxis eingestellt wird, dass Lehrkräften des Faches Philosophie automatisch die Lehrbefähigung für das Fach Werte und Normen erteilt wird.

Sehr geehrter Herr Kultusminister, wir fordern Sie hiermit auf, dafür Sorge zu tragen, dass die vertraglichen Vereinbarungen, die zwischen dem HVD Niedersachsen und dem Land Niedersachsen im Staatsvertrag aus dem Jahre 1970 und den ergänzenden Regelungen aus dem Jahre 1992 zur Ablösung des religionskundlichen Unterrichts durch das Fach Werte und Normen beiderseitig verpflichtend festgehalten wurden, eingehalten werden.

Mit freundlichen Grüßen

Guido Wiesner

Präsident

Catrin Schmühl

Landesgeschäftsführung

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