Olympische Tierquälerei?

Seit dem skandalösen Ritt der Modernen Fünfkämpferin Annika Schleu bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokyo wird mit Vehemenz darüber gestritten, ob das nun Tierquälerei war – sprich: ein möglicherweise strafbarer Verstoß gegen das Tierschutzgesetz – oder nicht. Schleu hatte das ihr kurz vor dem Wettkampf zugeloste Pferd "Saint Boy" über einen Hindernisparcours zu zwingen versucht. Das scheuende und offenkundig extrem gestresste Pferd – panisch aufgerissene Augen und über und über schweißbedeckt – wurde mit Gertenschlägen und wiederholten Sporentritten in die Flanken angetrieben.

Zweimal lief Saint Boy in die bis zu 1,20 Meter hohen Hindernisse – was für ein Pferd extrem schmerzhaft sein kann – und verweigerte mehrere weitere Sprünge. In einem bis heute online abrufbaren ARD-Video ist die Bundestrainerin Kim Raisner zu hören, wie sie Schleu die Anweisung gibt: "Hau mal richtig drauf, hau richtig drauf!" Auch Raisner selbst hatte das Pferd vom Rande des Parcours aus mit der Faust geboxt.

Ob das als Tierquälerei im Sinne des Tierschutzgesetzes zu werten ist oder nicht, werden Gerichte klären müssen: Der Deutsche Tierschutzbund jedenfalls hat Strafanzeige gegen Schleu und Raisner gestellt. Schleu selbst ist sich keines Vergehens bewusst. In der Wochenzeitung Die Zeit wehrte sie sich gegen den Vorwurf, das Pferd im Wettkampf gequält zu haben. "Ich habe das Pferd nicht extrem hart behandelt. Ich hatte eine Gerte dabei, die vorher kontrolliert wurde. Genauso wie die Sporen. Ich bin mir wirklich keiner Tierquälerei bewusst." Nicht unerwähnt bleiben darf an dieser Stelle, dass eine Pferde-Expertin nach dem Ansehen der TV-Bilder mutmaßte, die Gehorsamsverweigerung des Pferdes beim Überspringen der Hindernisse könne vielleicht an einem falschen Trensenknebel, dem Mundstück zum Einschnallen der Zügel, gelegen haben: "Das Pferd hatte keine Springreittrense, sondern eine für Polo. Die ist schärfer und im Springreiten nicht zugelassen, da sie auch auf das Genick des Pferdes Auswirkungen hat."

Ungeachtet des Umstandes, dass es im Reitsport gewiss noch sehr viel brutalere Gewalt gegen Pferde gibt als die beim verunglückten Olympiaritt der fünffachen Weltmeisterin Schleu vor laufenden Kameras gezeigte: Aus tierethischer Sicht ist der bloße Einsatz eines Pferdes als Sportgerät entschieden abzulehnen. Egal, ob dieser Einsatz nun die Grenze zu strafbarer Tierquälerei überschreitet oder nicht.

Auch wenn der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nicht von Tierquälerei sprechen mochte, plädierte er doch "dringend" für eine Veränderung des Regelwerks, demzufolge den Fünfkämpfer*innen das für die Reitdisziplin notwendige Pferd erst wenige Minuten vor dem Wettkampf zugelost wird. Die Athlet*innen sollten mit eigenen Pferden antreten oder die ihnen zugelosten wenigstens am Vortag des Wettkampfes kennenlernen dürfen.

Der Weltverband der Modernen Fünfkämpfer Union Internationale de Pentathlon Moderne (UIPM) hingegen sieht insofern keinen größeren Änderungsbedarf, allenfalls sollten die Pferde weniger Sprünge über niedrigere und vielleicht etwas weniger anspruchsvolle Hindernisse absolvieren müssen. Eine Streichung der Teildisziplin Reiten, wie von Tierschützern gefordert, oder deren Ersatz etwa durch Mountainbikefahren, werde es unter keinen Umständen geben, so Verbandspräsident Klaus Schorrmann. Das Reiten bleibe "integraler Bestandteil des Modernen Fünfkampfs – basierend auf der Vision von Pierre de Coubertin". Das Prinzip der Pferdezulosung werde als unerlässlicher "Teil des dramatischen Spektakels" des Modernen Fünfkampfes auf jeden Fall bestehen bleiben: gerade dieses Losprinzip mache den Wettkampf so "einzigartig und fesselnd", wie er, auch nach Ansicht vieler Amateur-Pferdesportler*innen und Reitsportfans, denn sei.

Schlachtfeld des 19. Jahrhunderts

Was genau war oder ist denn nun die Vision des Pierre der Coubertin, auf die Fünfkampf-Präsident Schorrmann abstellt? In der Tat wurde der "Moderne Fünfkampf" von dem französischen Baron (1863–1937) und Begründer der "Olympischen Spiele der Neuzeit" höchstpersönlich erfunden. Er simuliert das Geschehen auf einem Schlachtfeld des 19. Jahrhunderts, sprich die Flucht eines Offiziers: da wird mit Pistole geschossen, mit Degen gefochten (den nur Offiziere trugen), es wird durchs Gelände davongerannt beziehungsweise davongeschwommen. Besonders interessant ist die Flucht zu Pferde, wenn dem Herrn Leutnant das eigene unterm Sattel weggeschossen wurde: er schnappt sich ein anderes, dem der Reiter weggeschossen wurde und galoppiert davon, über Stock und Stein (bis 1988 gab es im Fünfkampf daher einen Geländeritt, seither wird über einen  Hindernisparcours geritten).

Ebendas ist der Hintergrund, weswegen den Modernen Fünfkämpfer*innen ihr jeweiliges Pferd erst kurz vor dem Wettkampf zugelost wird: sie müssen unter Beweis stellen, ein fremdes Pferd in kürzester Zeit "einbrechen", sprich zu Gehorsam zwingen und entsprechend nutzen zu können. Bis 1948 wurde Moderner Fünfkampf in erster Linie von Angehörigen des Militärs betrieben, geritten wurde auf Militärpferden, geschossen wurde mit Militärpistolen. Auch die in Tokyo in Verruf geratene Fünfkampfreiterin Schleu ist "Sportsoldatin", das heißt: staatlich alimentierte Oberfeldwebelin der Bundeswehr.

Im Übrigen diente auch der "klassische Fünfkampf" (Pentathlon), wie überhaupt (fast) sämtliche "olympischen" Disziplinen, immer schon militärischer Ertüchtigung. Diskus oder Speer etwa zählten zu den ersten "Distanzwaffen", die in die Reihen der Gegner geschleudert wurden.

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