Kommentar

Hürdenlauf für Sterbewillige

Nach langen Vorgesprächen haben Katrin Helling-Plahr (FDP) und Renate Künast (Grüne) am Dienstag ihren gemeinsamen Gesetzentwurf vorgestellt. Damit wollen sie eine liberale Alternative zum Vorschlag von Lars Castellucci u. a. präsentieren, der die Suizidhilfe wieder im Strafgesetzbuch regelt. Ist das gelungen? Ein Kommentar von Ulla Bonnekoh.

Die schwierige Frage, ob der neue gemeinsame Gesetzentwurf gelungen ist, lässt sich etwas leichter beantworten, wenn man zunächst einen unverstellten Blick auf das Menschenbild wirf, das dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 zugrunde liegt:

"Der Verfassungsordnung des Grundgesetzes liegt ein Menschenbild zugrunde, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist. Dieses Menschenbild hat Ausgangspunkt jedes regulatorischen Ansatzes zu sein." (Rn. 274)

So urteilte das Bundesverfassungsgericht vor über drei Jahren. Daran soll der neue Entwurf nun gemessen werden. Geht der Entwurf von einem solchen Menschenbild aus, wie es dem Grundgesetz zugrunde liegt?

Alle Beteiligten sind von dem Bemühen geleitet, das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung festzustellen und die Ausübung dieses Rechts zu ermöglichen. Das gilt ebenfalls für das Recht von Ärzt:innen, die bereit sind, bei einem freiverantwortlichen Suizid zu helfen. So stellen die §§ 1 und 2 gleich zu Beginn das Recht auf Hilfe zur Selbsttötung und das Recht zur Hilfeleistung fest. Das ist unbedingt anzuerkennen.

In den konkreten Regelungen zur Umsetzung ist der Freiheitsgedanke, der dem o. g. Menschenbild zu eigen ist, nicht mehr spürbar. Der Zugang zur Suizidhilfe wird zum Hürdenlauf für Sterbewillige. Die Regelungen erscheinen praxisfern, zum Teil theoretisch konstruiert und vor allem getrieben von einem ängstlichen oder besorgten Wunsch nach Kontrolle über Sterbewillige. Damit wird die "Vorgabe für jeden regulatorischen Ansatz" verfehlt.

Das Verfassungsgericht hat als Bedingung für die Zulässigkeit einer Freitodhilfe die Freiverantwortlichkeit zwingend vorgegeben und auch die Kriterien für die Freiverantwortlichkeit definiert. Der Suizidwunsch muss wohlüberlegt, frei gebildet, ohne Druck und Beeinflussung durch Dritte, in Kenntnis möglicher Alternativen und von einer gewissen Dauerhaftigkeit sein. Nun erweckt der Gesetzentwurf den Eindruck, als traue man das den Bürger:innen im Allgemeinen nicht zu, weshalb man ihnen eine Beratungspflicht auferlegt. Hier sollen sie informiert und zum Reflektieren über Alternativen angeregt werden, was ihnen ohne eine auferlegte Beratung nicht gelingen würde. Dieses Misstrauen und mangelnde Zutrauen in die Urteilsfähigkeit gehen eben nicht von der Vorstellung mündiger Bürger:innen aus, die autonom und eigenverantwortlich ihr Leben und ihr Sterben gestalten. Häufig hört man von Betroffenen: "Ich habe mein ganzes Leben selbstbestimmt gelebt, Krisen bewältigt, Lösungen gefunden und nun, am Ende, traut man mir das nicht zu. Ich muss mich von fremden Menschen, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen, beraten lassen. Das kommt einer Demütigung und Entmündigung gleich." Unbenommen ist natürlich, dass professionelle Beratungsangebote sehr sinnvoll sind und allen, die Beratungsbedarf haben, niederschwellig und kostenlos zur Verfügung stehen sollten. Dazu gehört auch, dass für viele Sterbewillige eine aufsuchende Beratung, also eine Beratung bei ihnen zu Hause zwingend notwendig ist. Dies haben die Verfasser:innen des neuen Entwurfs richtig erkannt und berücksichtigt.

Die praktische Umsetzung der Beratung und deren Regelung obliegt den Ländern. Offen bleibt, welche Qualifikation Berater:innen mitbringen müssen, die Zulassungskriterien, die Finanzierung gerade auch angesichts des enormen Aufwands einer aufsuchenden Beratung – lange Wege bedingen lange Fahrzeiten, die zwar unproduktiv sind, aber hohe Kosten verursachen.

Der Gesetzentwurf verbietet in § 4 eine Verbindung der Beratungsstellen mit Einrichtungen, in denen Hilfe zum Suizid geleistet wird und die mit der Beratungsstelle organisatorisch oder durch wirtschaftliche Interessen verbunden sind, da ein materielles Interesse der Beratungsstelle an der Durchführung der Hilfe zum Suizid unterstellt werden könnte.

Hinsichtlich der Trägerschaft von Beratungsstellen ist nun aber zu erwarten, dass insbesondere die kirchlichen Träger mit ihrer dichten Infrastruktur in der Lage sein werden, ein Netz von Beratungsstellen aufzubauen. Hier sieht der Gesetzentwurf aber keine problematische Verbindung von Beratungsstelle mit Einrichtungen wie Hospizen, Palliativstationen oder Pflegeheimen. Doch auch in diesen Beratungsstellen kann eine Interessenverknüpfung bestehen. In diesem Fall bestünde das materielle Interesse darin, Ratsuchende zum Weiterleben zu animieren, um den Einrichtungen des eigenen Trägers Patienten und Bewohner zu erhalten oder zuweisen zu können. Diese Verquickung materieller Interessen sollte genauso ausgeschlossen werden.

Man kann sich anonym beraten lassen, bekommt dann aber keinen Beratungsschein. Die Möglichkeit, trotz anonymer Beratung einen Beratungsschein zu erhalten, wäre gegeben, wenn man sich an der Praxis der Schwangerschaftskonfliktberatung orientiert hätte. Dort hat man dieses Problem gelöst. Die Beratung erfolgt anonym, andere Mitarbeitende der Beratungsstelle stellen den Beratungsschein mit Namen und Datum aus, ohne dass die Berater:innen Kenntnis von den persönlichen Daten der beratenden Person bekommen.

Bei Zweifeln an der Freiverantwortlichkeit soll dies auf dem Beratungsschein vermerkt werden. Es ist ein weiteres Zeichen für das Kontrollbedürfnis gegenüber Sterbewilligen und sicherlich keine vertrauensbildende Maßnahme für Menschen, die sich einer Zwangsberatung unterziehen müssen. Ärztinnen und Ärzte dürfen nur bei freiverantwortlichen Suizidwünschen Hilfe leisten und müssen sich dazu selbst ein Bild machen. Die Beurteilung der Freiverantwortlichkeit steht den Beratungsstellen nicht zu und könnte Menschen davon abhalten, sich in einer Beratung zu öffnen.

Nachdem der Pflichtteil absolviert wurde und Sterbewillige den Beratungsschein in der Tasche haben, treffen sie auf die nächste Hürde. Sie müssen einen Arzt finden. Wenn das nicht gelingt, kann der Sterbewunsch nicht verwirklicht werden und man landet in einer Sackgasse. Erste Anlaufstelle wird die behandelnde Ärztin sein. Nun gehen die Verfasser:innen des Gesetzentwurfs von einer Fehlannahme aus. Sie verweisen auf neuere Umfragen, z. B. unter Schmerzmedizinern, nach denen eine Mehrheit in der Ärzteschaft zur Suizidhilfe bereit sein: "Neben der allgemein befürwortenden Haltung zeigt sich, dass Ärztinnen und Ärzte besonders nach erfolgloser Palliativversorgung bereit wären, beim Suizid zu unterstützen. Auch bei chronisch erkrankten Patientinnen und Patienten wäre ein Großteil der befragten Ärztinnen und Ärzte zum ärztlich assistierten Suizid bereit. Bei psychiatrischen Erkrankungen würden in Ausnahmefällen bis zu 50 Prozent den Suizid unterstützen. Für Patientinnen und Patienten mit akuten Erkrankungen lehnen die meisten Ärztinnen und Ärzte Suizidassistenz ab."

Ärzt:innen legen ihre eigenen individuellen Kriterien fest, in welchen Fällen sie helfen und in welchen nicht. Damit fallen viele Suizidwillige durch, wenn sie nicht die Voraussetzungen erfüllen, wie gescheiterte palliativmedizinische Begleitung. Viele wollen ihr Leben bereits beenden, bevor eine Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass sie palliativmedizinisch behandelt werden. Wenn die Ärzteschaft bestimmt, wann sie helfen, in welchem Krankheitsstadium usw. trifft das Selbstbestimmungsrecht auf Fremdbestimmung. Suizidhilfe gibt es nur zu den Bedingungen der Helfenden. Wer die nicht erfüllt, muss sich weiter auf die Suche machen. Nun bei fremden Arztpraxen anfragen. Man kann sich schon vorstellen, wie es um die Chancen steht, dass man bei einem Arzt Hilfe findet, der einen noch nicht kennt. Das Ganze mündet in einem Spießrutenlauf von Praxis zu Praxis. Wird man nicht fündig, bleibt noch die Behörde.

Die Regelung ist so unbestimmt, dass Zweifel berechtigt sind, ob hier eine echte Chance besteht, an ein Sterbemittel zu kommen. Letztlich wird die Fixierung auf den Arzt und die Ärztin als Zugangstor zum Freitod, zu einer Engführung der Suizidhilfe auf schwere fortgeschrittene Krankheiten oder gar finale Erkrankungen mit hohem Leidensdruck führen. Menschen mit Suizidwünschen aufgrund von Lebenssattheit, hohem Alter ohne zum Tode führende Krankheiten werden kaum auf Hilfebereitschaft in der Ärzteschaft hoffen können.

Damit spielt der Freiheitsgedanke, der das gesamte Urteil durchzieht und weltweit einmalig hierzulande das Recht auf selbstbestimmte Lebensbeendigung zum Grundrecht erhebt, keine Rolle mehr. Die Rechtfertigung für die Sterbehilfe ist nicht mehr die Freiheit, sondern das Leiden. Damit würde Deutschland auf das Niveau anderer Länder zurückfallen, die die Möglichkeit von Sterbehilfe an materielle Kriterien gebunden haben. Das hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausdrücklich ausgeschlossen, aber darauf könnte es in der gelebten Praxis hinauslaufen.

Auch die Rechte der Heimbewohner auf Ausübung des Grundrechts auf selbstbestimmte Lebensbeendigung sind nicht ausreichend gesichert. Der Entwurf enthält in § 2 ein Diskriminierungsverbot für Beschäftigte, die Hilfe zur Selbsttötung leisten, ihre Bereitschaft dazu bekunden oder die Leistung von Hilfe zur Selbsttötung verweigern. Damit wurde das Recht zur Hilfeleistung für Mitarbeiter:innen in Gesundheitseinrichtung ausdrücklich geschützt, was besonders positiv hervorzuheben ist. Allerdings ist man bei der Verpflichtung von Einrichtungsträgern nicht konsequent genug, auch hier die Grundrechtssicherung der Bewohner:innen von Einrichtungen gesetzlich festzuschreiben. Diese ist zwar bereits gegeben, da niemand durch zivilrechtliche Verträge an der Ausübung seines Grundrechts gehindert werden darf, aber angesichts der Forderung von kirchlichen Trägern nach Schutzräumen wäre dies ein positiver Beitrag für die Bewohner:innen von Pflegeheimen gewesen. Diese müssen sonst, wenn der Träger ihnen die Suizidhilfe im Heim untersagt, für den letzten Schritt in ihrem Leben das Heim verlassen und wären darauf angewiesen, dass Angehörige oder Nahestehende ihnen ihre Wohnung für die Suizidhilfe zur Verfügung stellen. Für viele Pflegebedürftige oder Schwerstkranke in Hospizen ist das eine Tortur.

In der Begründung stellen die Verfasser:innen richtig klar, dass die Regelungen auch in Einrichtungen beziehungsweise bei juristischen Personen gelten, weil diese die Grundrechtsverwirklichung von Suizidwilligen nicht grundsätzlich ausschließen dürfen. Haben dann aber nicht den Mut, dies eindeutig im Gesetzestext festzuschreiben: "Eventuelle Konflikte zwischen den Grundrechten der Einrichtungsnutzer und -nutzerinnen und der Einrichtungsbetreiber müssen in möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden." Ein Grundrecht steht über zivilrechtlichen Interessen von Einrichtungsbetreibern. Grundrechtsausübung steht über dem Hausrecht von Trägern. In der Pressekonferenz zum gemeinsamen Gesetzentwurf wurde klar, dass Renate Künast dieses Konzept verstanden hat, Katrin Helling-Plahr hingegen (noch) nicht. Schade, dass man sich da nicht einigen konnte und entsprechende Rechte von Einrichtungsnutzer:innen gesetzlich gesichert hat.

Eine Regelung der Suizidhilfe, die nicht nur die Freiverantwortlichkeit, sondern auch die Grundrechtsausübung, das heißt das Recht, sein Leben selbst zu beenden, gewährleistet, erfordert einen anderen Ansatz. Ein solches Gesetz sollte klare Kriterien festlegen, die die Freiverantwortlichkeit der Suizidwilligen sicherstellen, ohne sie mit unnötigen Hürden und Kontrollmechanismen zu belasten. Darüber hinaus ist es wichtig, Regelungen zu finden, die sicherstellen, dass alle Sterbewilligen auch eine Möglichkeit finden, ihren Freitodwunsch zu realisieren. Dazu gehört die gesetzliche Absicherung der Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen, insbesondere von Bewohnern von Pflegeheimen, aber auch von Menschen, die in anderen Einrichtungen leben oder ihre letzte Lebensphase in einem Hospiz verbringen. Solange nicht genügend hilfebereite Ärzt:innen zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig vom Grund des Sterbewunsches, werden auch Sterbehilfeorganisationen notwendig sein, um das Selbstbestimmungsrecht ausüben zu können. Eine Aufklärung der Bevölkerung über die Rechte am Lebensende und darüber, unter welchen Bedingungen und wo Hilfe in Anspruch genommen werden kann, ist dringend erforderlich. Da niemand zur Hilfe beim Suizid verpflichtet werden kann, was auch richtig ist, brauchen wir ein weiteres Element. Das wäre eine Überleitungspflicht für Ärzt:innen, die nicht bereit sind, Suizidhilfe zu leisten. Diese müssten ihre Patient:innen zumindest darüber informieren, an welche Stellen, Organisationen oder Kolleg:innen sie sich wenden können, um eine Suizidhilfe zu erhalten. Wir brauchen einen konstruktiven Dialog und die Bereitschaft aller Beteiligten, aufeinander zuzugehen. Dazu müssen unbedingt auch Personen und Organisationen einbezogen werden, die bereits viel Erfahrung mit Suizidhilfe haben. Dann bin ich zuversichtlich, dass eine solche Regelung erreicht werden kann.

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