Gesetz zum selbstbestimmten Sterben

Experten verurteilen die Suizidhilfekritik ärztlicher Standesvertreter als inakzeptabel

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Im Bundestag
Abstimmung im Bundestag

Vor der anberaumten Abstimmung im Bundestag haben Ärzte- und Psychiatriefunktionäre in letzter Minute lautstark gewarnt, die Suizidhilfe rechtlich zu regeln. Es wurde gar mit einem ärztlichen Boykott gedroht, falls der als liberal geltende Entwurf eine Mehrheit erringt. Sechs namhafte Expert*innen aus den Bereichen (Palliativ-)Medizin, Psychiatrie, Ethik und Recht begründen hier, warum dieser Verhinderungsversuch zurückzuweisen ist.

Eine Initiativgruppe aus Bundesärztekammer, Deutscher Gesellschaft für Palliativmedizin und Deutscher Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie hat sich mit dem "Nationalen Suizidpräventionsprogramm" zusammengetan. Sie warnen in einer gemeinsamen Mitteilung unter dem mahnenden Motto "Der Suizid darf nicht zur gesellschaftlichen Normalität werden" – welches auch die Kirchen vertreten – einhellig vor einem (vermeintlich) übereilten Schnellschuss. Die Suizidhilferegelung sei im Bundestag diesbezüglich nicht ausdiskutiert – wenngleich dort die erste Lesung nach einer Orientierungsdebatte dazu bereits vor einem Jahr stattgefunden hat.

Ein Beitrag in den ZDF-Nachrichten vom 29. Juni hat Zitate von Vertretern der beteiligten Organisationen ausführlich präsentiert. Angesichts der seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom Februar 2020 dazu geführten Kontroversen lautet die Einleitung im ZDF: "Nächste Woche könnte eine seit Jahren schwelende Diskussion beendet werden. … Doch jetzt melden sich Ärzteverbände und Kirchen: Die vorliegenden Gesetzesentwürfe würden nichts wirklich regeln."

Es geht um Gesetzentwürfe der Parlamentariergruppe um Lars Castellucci (Religionsbeauftragter der SPD) mit Unterstützung der meisten Unionsabgeordneten einerseits und um Katrin Helling-Plahr (rechtspolitische Sprecherin der FDP), Renate Künast (Grüne) und Helge Lindh (SPD) andererseits. Nachdem letztere sich zu einem als liberal geltenden Gesetzentwurf zusammengeschlossen haben und dieser nunmehr Aussicht auf Erfolg hat, ist die ärztlich-psychiatrische Interessengruppe offensichtlich aufgeschreckt.

Bundesärztekammerpräsident droht mit Boykott einer liberalen Regelung

Im ZDF-Beitrag kündigte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, an: "Wenn Künast/Helling-Plahr sich im Bundestag durchsetzen, wird die Bundesärztekammer der Ärzteschaft raten, sich nicht zu beteiligen". Wolfgang Putz, einer der renommiertesten deutschen Medizinrechtler, entgegnet: "Die Bundesärztekammer darf nach dem Urteil der Verfassungsrichter vom Februar 2020 ihren Mitgliedern weder untersagen noch davon abraten, im gesetzlichen Rahmen freiwillig legale Suizidhilfe zu leisten. Denn dies haben die Karlsruher Richter ebenso als Grundrecht der Ärzte festgestellt wie die Inanspruchnahme angebotener Suizidhilfe als Grundrecht von Suizidwilligen."

So versucht der BÄK-Chef offenbar, sein Verweigerungsziel auf anderem Wege zu erreichen: Als Begründung für ein Abraten von Hilfen zur Selbsttötung oder auch nur Begutachtung von Suizidwilligen bemüht Reinhardt eine verquere Rechtsauffassung: Das Gesetz sei "nicht rechtssicher" und es bleibe "ein strafrechtliches Risiko, dass sich zum Beispiel ein Arzt der Beihilfe zum Mord schuldig macht." Dazu stellt Putz klar: "Die Aussage des Präsidenten der Bundesärztekammer verkennt die beständige deutsche Rechtslage und die Bedeutung eines neuen Gesetzes, in dem doch ärztlich längst anerkannte Sorgfaltskriterien zum Schutz der Autonomie allgemeinbindend verankert werden sollen. So ein Gesetz erhöht also die Rechtssicherheit für legale Suizidhilfe und somit zwangsläufig auch den Schutz von vulnerablen, nicht freiverantwortlichen Suizidwilligen. Ein Arzt geht sowohl heute als auch im Falle dieses Suizidhilfegesetzes ausschließlich dann ein Strafbarkeitsrisiko ein, wenn er fahrlässig oder absichtlich Freiverantwortlichkeit attestiert oder voraussetzt, wo sie nicht gegeben ist."

Psychiatrische Prävention als Verhinderung auch freiverantwortlicher Suizide

Die Karlsruher Richter*innen hatten 2020 ein Suizidhilfeverbot laut Paragraf 217 StGB gekippt, allerdings ist seitdem die ärztliche Verschreibung tödlicher Mittel ungeregelt geblieben. Das heißt, wie Bettina Schöne-Seifert, Professorin für Medizinethik, es in der FAZ vom 24. Juni formulierte: "Heute müssen Ärzte als Suizidhelfer noch immer Helden sein, und Schwerkranken wird der Weg, freiverantwortlich 'zu gehen', vielfach versperrt." Nun sollen ernsthaft und andauernd suizidwillige Menschen gemäß Helling-Plahr unter anderem nach verpflichtender Beratung und suizidpräventiven Informationen Hilfe zur Selbsttötung von Ärzt*innen erwarten dürfen und erhalten können. Für die Verschreibung tödlicher Mittel soll im Gesetz ein Passus zum Betäubungsmittelrecht eingefügt werden. Im Gegenantrag der Gruppe um Castellucci ist dazu in einem neuen Strafrechtsparagrafen 217 vorgesehen, dass dies unter anderem nur nach zweifacher psychiatrischer Begutachtung eines Sterbewilligen erlaubt sein soll.

Das Nationale Suizidpräventionsprogramm sieht durch eine liberale Suizidhilferegelung seine bisher ohnehin dürftigen Erfolge weiter gefährdet. Unterstützung erhält es vor allem von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), die ihr Ziel in der Verhinderung jeder Selbsttötung sieht, auch wenn diese auf Freiverantwortlichkeit beruhen sollte, die allerdings in DGPPN-Verlautbarungen für so gut wie ausgeschlossen erklärt wird. Dr. Anna Elisabeth Landis, Fachärztin für Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie und Psychoanalytikerin, die auch im ärztlichen Qualitätsmanagement tätig ist, merkt zu dem jüngsten gemeinsamen Aufruf der Fachgesellschaften an: "Unsere Standesvertreter, die sich hier geäußert haben, sind z. T. bar jeder Logik. Was soll das denn heißen, wenn ich als Ärztin zu verantworten habe, ob ein Suizidwunsch erfüllt wird oder nicht, dann sei das Gesetz eben 'nicht rechtssicher'? Die Polemik richtet sich offenkundig gegen diejenigen Kollegen, die sich eines verzweifelten Anliegens lebensmüder Menschen annehmen."

Der Präsident der DGPPN, Andreas Meyer-Lindenberg, äußerte im ZDF-Beitrag, der "von der Künast/Helling-Plahr-Gruppe" vorgelegte Gesetzentwurf stelle gar "eine gravierende Gefährdung für psychisch kranke Menschen" dar. Demgegenüber weist Schöne-Seifert darauf hin, dass durch eine als reine Suizidzahlenreduzierung verstandene Prävention zwei unabhängig voneinander berechtigte Ziele unzulässig miteinander verquickt würden: "Das der nicht-autonomieverletzenden Prävention bei suizidgefährdeten Patienten und das der verfassungsmäßig gebotenen autonomiekonformen Suizidhilfe-Ermöglichung." Diese dürften nicht gegeneinander ausgespielt oder verrechnet werden. Stabil freiverantwortliche Selbsttötungsvorhaben zu vereiteln wäre demnach "keine Prävention im sinnvollen Verständnis, sondern Suizid-Sabotage".

Landis schlägt vor: "Wie wäre es, wenn man uns, die mit der Realität dieser Patientengruppen befasst sind, einmal anhören würde? Ich möchte als Frage aufwerfen: Wie kann man das Leben und die Kraft dazu verteidigen, wenn man den Tod und auch den Wunsch danach derart scheut?" Diese Frage könnte auch an Heiner Melching, Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, gerichtet werden. Er beklagte im ZDF-Beitrag, die rein juristische Denkwelt blende doch aus, dass Suizid "aber immer mit Emotionen zu tun" habe.

Abgeordnete sollen sich nicht durch leicht durchschaubares Störfeuer beirren lassen

Melching müsste eigentlich den allgemein von den Fachgruppen behaupteten Vorwurf einer vorschnellen Gesetzesverabschiedung zurückweisen. Schließlich war er als Sachverständiger im Rechtsausschuss des Bundestages Ende 2022 anwesend, als dort – nach bereits erster Lesung – vorliegende Gesetzesinitiativen über fünf Stunden lang (!) behandelt wurden. Der Palliativmediziner Matthias Thöns vermutet, dass so wirklichkeitsfern von "übereilt" zu sprechen nur eine gezielte Nebelkerze sein könne und dass "trotz des Wissens um unterschiedliche Einstellungen innerhalb der Ärzteschaft von Funktionären wohl eher eine Regelung gutgeheißen und vertreten wird, die geistig klare, freiverantwortliche schwer leidende Menschen zukünftig zu Psychiatern und vor ein 'Lebensschutztribunal' zwingt." Das würde jedoch, so Thöns, "den Menschen nicht gerecht, die nicht mehr leben wollen, sei es nun wegen schweren Krebsleidens, chronischer Muskelkrankheit, befürchteter Demenz oder weil sie ihre weitere Existenz als würdelos empfinden. Wem die Suizidhilfevereine oder eventuell wieder die Schweiz zu teuer sind, dem bliebe dann der sogenannte Brutalsuizid."

Die gemeinsame Mitteilung der ärztlich-psychiatrischen Gruppe gegen eine vermeintliche gesellschaftliche Normierung ist auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) veröffentlicht, wo Melching als DGP-Vertreter ausführt: "Es kann aus unserer Sicht nicht gelingen, die Anliegen schwerstkranker Menschen, einsamer Hochaltriger oder auch junger Menschen, die in einer Krise ihr Leben beenden wollen, in eine Rechtsnorm zu pressen." Eben dagegen wenden die beiden renommierten Professoren der Palliativmedizin und Medizinethik Ralf J. Jox und Gian Domenico Borasio ein: "Ärztinnen und Ärzte, die aus einer Gewissensentscheidung heraus bereit sind, ihren Patienten in schwersten Notlagen Suizidhilfe zu leisten, brauchen vor allem eins: Rechtssicherheit. Diese wird es ohne ein Gesetz nicht geben. Dass einzelne Ärztefunktionäre das nun in Abrede stellen, erscheint wie der verzweifelte Versuch, den Zugang zur Suizidhilfe entgegen dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 und der großen Mehrheit der Bevölkerung in letzter Minute doch noch zu verhindern."

Borasio und Jox enden mit einem Appell: Angesichts der nachgewiesenen Meinungspluralität in der deutschen Ärzteschaft solle sich der Bundestag "durch ein derart durchsichtiges ideologisches Störfeuer nicht daran hindern lassen, eine gesetzliche Regelung der Suizidhilfe mit Leben zu erfüllen. Nach jahrelanger intensiver Debatte im Parlament und lange zuvor schon in der Zivilgesellschaft ist die Gesetzgebung nicht überhastet, sondern überfällig."

Ähnlich betont ein versendeter Brief des Humanistischen Verbandes an die Abgeordneten, die Parlamentariergruppe um Helling-Plahr, Künast, Lindh und andere habe das Ziel der Verhinderung von Selbsttötungen insbesondere aufgrund psychischer Erkrankungen keineswegs aus dem Blick verloren: "Vielmehr bereitet die im fusionierten Gesetz vorgesehene flächendeckende Beratungsstruktur geradezu den Weg für 'evidenzbasierte Maßnahmen', wie diese in ihrem parallelen Entschließungsantrag zur Suizidprävention gefordert werden. Von einem teilweise kritisierten 'übereilten Hauruckverfahren' kurz vor der Sommerpause kann keine Rede sein. Bitte lassen Sie sich nicht von einer ideologisierten Gemengelage beirren."

Dieser Text erschien zuerst bei diesseits.

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