Der Bedeutungsverlust der Religionen führte zu individuellen Freiheiten

Religionen haben die Welt nicht besser gemacht

Die Welt ist laut Bibel ein Jammertal, seit Gott Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hat. Seither regiert angeblich das Böse. Und dies hat laut traditioneller christlicher Lesart zwei Hörner. Zwar versuchen die Religionen, dem Chaos ihre Moral und Ethik entgegenzusetzen, doch der Erfolg ist überschaubar.

Die christlichen Kirchen beklagen sich, zumindest im Westen herrsche derzeit Sodom und Gomorra, weil viele Leute den Kirchen den Rücken kehren würden. Und somit die christlichen Gebote missachteten.

Doch haben die Religionen tatsächlich Ethik und Moral in die Welt gebracht? Es ist unbestritten, dass die Leute früher angepasster und somit weniger "sündig" waren. Das Leben verlief in geordneten Bahnen, die Leute hielten sich an Normen, auch an die religiösen.

Ob dies primär das Werk der Glaubensgemeinschaften war, muss bezweifelt werden. Dafür sorgten wohl in erster Linie die sozialen und politischen Zwänge, die angepasstes Verhalten bewirkten. Die autoritären Strukturen und die enge soziale Kontrolle hatten eine disziplinierende Wirkung.

Bei diesem Disziplinierungsprozess – man kann es auch Unterdrückung nennen – spielten die christlichen Kirchen stets eine wichtige Rolle. Sie waren autoritäre Institutionen, die die Gläubigen mit moralischen und religiösen Dogmen auf die Linie brachten. Und mit sozialer Kontrolle. Da sie eng mit politischen Gremien verbandelt waren, waren sie Teil des Unterdrückungssystems.

Bei der Inquisition spielten Kleriker Richter

Dies war im Mittelalter zumindest sehr ausgeprägt: Es gab die Inquisition, bei der die Kleriker Richter spielten. Und zwar rein weltliche. Und da war der Ablasshandel, der den Reichen trotz sündigem Verhalten die Tür in den Himmel öffnen sollte. Gleichzeitig machte der Klerus dem gewöhnlichen Volk die Hölle heiß.

Auch bei uns funktionierte diese Disziplinierung mit der religiösen Keule bestens. Dies erlebte auch Anna Göldi, die 1782 als Hexe hingerichtet wurde. Der evangelische Rat, der sich paritätisch aus katholischen und protestantischen Personen zusammensetzte, verurteilte sie zum Tod durch das Schwert. Das Urteil war deshalb nicht rechtens.

Noch in meiner Jugend hatten die Vikare und Pfarrer ein hohes Ansehen und waren als Vertreter Gottes unantastbare Autoritätspersonen, die über die Beichte und die Seelsorge die Gläubigen kontrollieren und disziplinieren konnten. Das Verhalten wurde nicht in erster Linie durch Einsicht, Moral und Ethik geprägt, sondern durch Anpassungszwang und Kontrolle. Noch in den 1970er-Jahren war in manchen Kantonen das Konkubinat verboten. Es waren primär religiöse Kreise, die entsprechende Gesetze durchsetzten.

Die katholische Kirche verfolgt die Disziplinierung der Gläubigen auch heute noch: Katholiken dürfen keine Empfängnisverhütung betreiben und Geschiedene nicht mehr zur Kommunion antreten. Aufklärung, Wohlstand und Säkularisierung haben die Welt freier und gerechter gemacht. Viele Menschen wurden selbstbestimmter und glücklicher. Der Makel liegt allerdings darin, dass viele die Freiheiten für individuelle Bedürfnisse ausnutzen und egoistisch handeln. Mit dem Mangel an religiösem Glauben und dem Bedeutungsverlust der Religionen hat dies aber nichts zu tun.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.