Filmkritik

Das vorhersehbare Versagen des Joseph Ratzinger

In ausgewählten Kinos kann man seit wenigen Tagen die Dokumentation "Verteidiger des Glaubens" über Joseph Ratzinger sehen. Der kritische Film, der in katholischen Kreisen für einigen Aufruhr sorgt, verrät viel über Charakter und Gedankenwelt des ehemaligen Papstes Benedikt XVI., seine Rolle im Missbrauchsskandal und was zu seinem Rücktritt führte.

Am Reformationstag, an dem an eine innerkirchliche Erneuerungsbewegung und den Versuch, die römisch-katholische Kirche zu reformieren, erinnert wird, kam ein Film von Christoph Röhl in die Kinos, der bestimmter und aufrichtiger Zustände der katholischen Kirche beim Namen nennt, als es der Vatikan selbst wahrhaben möchte. "Verteidiger des Glaubens" zeigt nicht nur auf, dass die schon seit der Reformation bekämpfte Korruption im Vatikan noch immer allgegenwärtig ist, sondern schafft es mit gut ausgewählten Interviewpartnern, das dunkle Thema des massenhaften Kindesmissbrauchs und die Hintergründe der systematischen Vertuschung durch die katholische Kirche und nicht zuletzt durch Papst Benedikt XVI. begreifbar zu machen. Am 2. November lief Röhls neuer Dokumentarfilm im ausverkauften Arthouse-Kino "Liliom" in Augsburg an. Im Anschluss stand der mehrfach ausgezeichnete Filmemacher Rede und Antwort.

In der ersten Szene werden Bilder zur Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst gezeigt. Sofort folgt ein Rückblick auf die Ereignisse des 2. Vatikanischen Konzils und welche Rolle schon damals Joseph A. Ratzinger spielte. Der junge Geistliche bevorzugte schon immer das Bild der triumphierenden Kirche. Im Film wird über Ratzingers Angst als Jungprofessor in Tübingen gesprochen; als Proteste und deren Beweggründe für seine Vorlesungen angekündigt wurden, blieb er ihnen sogar fern.

Er verließ Tübingen und ging zu seinem Bruder Georg Ratzinger nach Regensburg, mit dem er zuvor schon das Priesterseminar der Erzdiözese München und Freising besuchte und dort 1951 gemeinsam die Priesterweihe durch Kardinal Faulhaber erhielt. Vielleicht etwas zu kurz angeschnitten wird, welche Rolle Georg Ratzinger, der 1964 Domkapellmeister und damit Chef der Regensburger Domspatzen wurde und 30 Jahre blieb, im dortigen Missbrauchsskandal spielte. Nicht viel verrät der Film darüber, was die Brüder Ratzinger wirklich darüber wussten und noch weniger, welche aktive Rolle beide schon damals bei der systematischen Vertuschung der körperlichen und sexuellen Missbräuche bei den Domspatzen spielten. Vermutlich wäre wegen der Menge der Taten ein ganz eigener Dokumentarfilm möglich, der Joseph Ratzinger noch bitterer belasten würde.

Filmplakat
Filmplakat

Immer wieder werden Szenen von einem im Vatikan von Röhl gedrehten Interview mit Georg Gänswein eingeflochten. Der Privatsekretär von Papst Benedikt kommt mehrfach zu Wort und zieht mitunter fragwürdige Vergleiche, wie den der Freiheit mit einer Baumbeschneidung, die den Zuschauer schwanken lassen zwischen Grinsen und Entsetzen. Diese und andere Aussagen Gänsweins lassen den auf Wunsch Ratzingers schon 1996 in die Kongregation der Glaubenslehre nach Rom geholten Mann im Film nicht gut wegkommen. Ratzingers beständiges Ziel, die christliche Botschaft vor Beliebigkeit und Gefährdung des Glaubens – und damit seiner Kirche – zu bewahren und seine herausragende theologische Begabung sollen Grund für die Ernennung zum Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre gewesen sein. Dort entließ er progressive Geistliche und ersetzte sie mit konservativen und romtreuen, was sich noch rächen sollte.

Der Film vermittelt glaubhaft, dass laut Ratzinger Andersdenkende die von ihm geliebte Ordnung durcheinanderbrachten. Das geordnete Refugium der Familie und der Familie der Kirche war stets sein schützenswertes oberstes Ziel. Diese Strenge hatte er teilweise auch gegenüber Beeinflussungsversuchen, er ließ sich nie bestechen, zumindest nicht auf finanzielle Art. Kardinal Bertone, der zu den einflussreichsten Männern im Vatikan zählte, nahm es damit nicht so genau. Dabei spielten die "Legionäre Christi" und deren Gründer eine nicht unwesentliche Rolle, wie Insider – neben weiteren interessanten Details – im Dokumentarfilm berichten.

Ein Missbrauchsopfer stellt die vom Trailer bekannte Frage "Welche Person ist die richtige für dieses Amt?" und beantwortet sie damit, dass es Ratzinger sicher nicht sei. Sie beantwortet ihre zweite Frage "Ist das Amt das Richtige für Ratzinger?" trefflich mit "Ja", da er sich selbst als Beschützer der Wahrheit wahrnimmt. Und neu dürfte für viele Zuschauer eine im Film gezeigte und wenig bekannte Original-Szene sein, in der Ratzinger seine boshafte und klar als aufklärungsfeindlich erkennbare Haltung gegenüber der Presse und damit der Öffentlichkeit zeigt.

Vertreter der katholischen Kirche sind empört

Das schon im Trailer gezeigte Zitat, Ratzinger sei ein bemerkenswert wirklichkeitsfremder Mensch, wird von verschiedenen Protagonisten mit sehr konkreten Aussagen untermauert. Welche Rolle der deutsche Papst schon vor seinem Pontifikat für das Gesamtsystem der Kirche, eines "wohlkontrollierten Apparates", gespielt hat, welches er selbst mit aufgebaut hat, wird in treffsicheren Beiträgen benannt. Ratzingers Aussage "Der Teufel hat uns im Priesterjahr Dreck ins Gesicht geschmissen!", die er in diesem selbst ausgerufenen Zeitraum bekanntgab, war genau der falsche Umgang mit dem gerade bekanntwerdenden massenhaften Missbrauch durch katholische Geistliche in seinem Heimatland.

Da ihm immer mehr klar wurde, dass die Kirche, die er als schützenswerte Ordnung empfand und der er sein gesamtes Leben gewidmet hatte, durch und durch korrupt und unzweckmäßig war, trat er schlussendlich zurück. Indem von seinem Vorgänger und ihm selbst nur konservative Bischöfe, die – wie im Film genannt – "unfähig waren zu denken", installiert wurden, entstand dem deutschen Papst daraus eine untragbare, aber selbst mitverschuldete Last, welcher er nur mit einem Rückzug entfliehen konnte.

In der anschließenden Gesprächsrunde mit dem Regisseur, der sich selbst als nicht gläubig bezeichnet, interessierte neben anderen die Frage, was seine persönlichen Beweggründe für diesen umfangreich recherchierten Film waren. Er antwortete, dass er während der Dreharbeiten für seine Filme "Und wir sind nicht die Einzigen" und "Die Auserwählten" über die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule viele Kontakte aufbaute und dem Druck nachgeben musste, dass dieses Thema viel umfangreicher als gedacht gewesen sei und er einen weiteren Film mit noch tiefergehendere Recherche habe machen müssen. Und er habe unbedingt den Mythos der Person Ratzinger, der behauptete, er sei nur Opfer des Systems gewesen, öffentlich widerlegen wollen, meinte Röhl.

Auf die Frage, warum er genau diese Protagonisten ausgewählt habe, erwiderte er, dass er bewusst neue und in der Öffentlichkeit so noch nicht bekannte Personen zeigen wollte. Um das Interview mit Gänswein kämpfte er mehr als drei Jahre: Dieser sei damals positiv überrascht gewesen, dass sich ein säkularer Mensch so umfangreich informiert hatte und großes Interesse an der Kirche zeigte. Kurz vor der Erscheinung des Films und nach Veröffentlichung des Trailers hatte Gänswein den Film jedoch scharf kritisiert. Auf die Frage, was er von dem Film halte, erklärte er: "Das ist eine Sauerei, ein Debakel – ich kann es nicht anders sagen"; und er könne vor diesem "geschickt gemachten", "nicht objektiven" und "miserablen" Film nur warnen. Röhl sehe sich zudem mit dem Vorwurf der Volksverhetzung konfrontiert, teilte er den Kinogästen mit. Er selbst kann die scharfe Kritik nicht nachvollziehen, wie er katholisch.de mitteilte. Die Deutsche Bischofskonferenz veröffentlichte als Reaktion auf den Film neben anderen die steile These, Ratzinger sei "über Jahrzehnte (…) eine treibende Kraft gegen Missbrauch" gewesen und zählt drei Beispiele dafür auf.

Selbst für einen mit dem Missbrauchsskandal der katholischen Kirche umfangreich befassten Zuschauer ist der Dokumentarfilm "Verteidiger des Glaubens" eine sehr interessante Ergänzung mit vielen neuen Hintergründen und Zusatzinformationen. Die klug zusammengestellten Interviewmomente ergeben mit den eingefügten Filmdokumenten und oft sehr gut passenden Bildstimmungen einen kurzweiligen und dennoch tiefgründigen Aufklärungsfilm. Er räumt endlich und tiefgreifend mit einem Mythos über Papst Benedikt auf, er sei Opfer und nicht Macher des Systemversagens der katholischen Kirche im anhaltenden Missbrauchsskandal. Auch wenn sich der aufgeklärte Kinobesucher eine noch tiefergehende Analyse über die tatsächliche Dimension von Ratzingers Verantwortung bei der systematischen Vertuschung wünschen würde. Es handelt sich hierbei um einen starken Film, der dem Versuch, den unvorstellbar vielen Betroffenen jeglicher Art von Gewalt durch die katholische Kirche eine Stimme zu geben, in jedem Fall gerecht wird. Er ermutigt zu noch mehr öffentlicher Aufklärung und leistet damit einen Beitrag zu einer konstruktiven Debatte.

Infos zum Film und den bundesweiten Spielplan gibt es hier.