Während der Abschlussfeier der Olympischen Spiele hatte Hollywood-Star Tom Cruise einen Gastauftritt, der von einem weiblichen Fan-Übergriff begleitet wurde. Doch der mediale Aufschrei bleibt aus. Hätte ein Mann sich gegenüber einer Frau so verhalten, wäre das ganz anders verlaufen.
Am Sonntagabend fand die Abschiedsfeier der Olympischen Spiele in Paris statt. Geprägt von Extravaganz und Superlativen, musste der nächste Gastgeber – Los Angeles – noch einen draufsetzen: Der Hauptdarsteller der "Mission Impossible"-Reihe, Tom Cruise, sauste an einem Seil herab ins Stade de France und lief durch die Spalier stehende Menge aus Athleten, Betreuern, Trainern und Verantwortlichen. Mit dem aufnehmenden Handy in der Hand streckte eine Frau den Arm nach dem Schauspieler aus und drückte ihm Küsse auf beide Wangen (Zu sehen in diesem Video).
Doch am Tag danach war es ruhig im Blätterwald. Berichte zu dem Vorfall gibt es auch bis heute kaum, nur in den Sozialen Netzwerken fanden sich ein paar empörte Kommentare, die vereinzelte Medien aufgriffen. Nicht vergleichbar mit dem Vorfall, als der Präsident des spanischen Fußballverbands vor ziemlich genau einem Jahr eine Spielerin des bei der Weltmeisterschaft siegreichen Frauen-Teams auf den Mund küsste. Von "einer Form der sexuellen Gewalt" war die Rede, geäußert von höchster politischer Ebene. Der Präsident musste zurücktreten und hat sich nun vor Gericht zu verantworten.
Die Spielerin hatte erklärt, ihr habe der Kuss nicht gefallen. Von Tom Cruise ist eine derartige Äußerung zum jetzigen Zeitpunkt nicht bekannt. Das ist sicherlich ein entscheidender Punkt. Doch nur, weil er sich nicht geäußert hat, kann man nicht automatisch davon ausgehen, dass ihm das nicht ebenfalls unangenehm war – auch wenn es nur Wangenküsse waren, kein Kuss auf den Mund. Weiter könnte man einwenden, dass sich der Vorfall in Frankreich abspielte, wo es üblich ist, sich zur Begrüßung auf beide Wangen zu küssen. Aber weder Tom Cruise noch allem Anschein nach die küssende Frau sind Franzosen. Außerdem handelt es sich um ein internationales Event, wo nationale Konventionen nicht als selbstverständlich für alle vorausgesetzt werden können. Ein weiterer Faktor könnte das Machtgefälle sein, das bei der Bewertung übergriffigen Verhaltens stets eine Rolle spielt: Tom Cruise ist ein Promi, die Küsserin ist eine öffentlich nicht weiter identifizierte Person. Für ihre Fans scheinen Prominente ja mitunter weniger Menschen als allgemeinverfügbare Objekte zu sein. Dass sich ein A-Klasse-Schauspieler ohne Personenschutz und Zaun in eine Menschenmenge begibt, ist deshalb sowieso ungewöhnlich, das sei hier aber nur am Rande erwähnt.
Nach in Betracht ziehen all dieser Gesichtspunkte und ihrer Abwägung drängt sich dennoch ein Verdacht auf: Wäre es anders herum gewesen, hätte ein anonymer Mann, der allerdings mutmaßlich auf die ein oder andere Weise in den internationalen Spitzensport involviert ist, eine prominente Frau einseitig geküsst, hätte es einen Aufschrei gegeben. Das ist hier nicht passiert. Dies zeigt auf, dass bei aller Berechtigung und Notwendigkeit des Anprangerns von sexueller Gewalt an Frauen, eine Schieflage in der Debatte besteht. Auf keinen Fall dürfen sexuelle Übergriffe gegen Frauen verharmlost werden. Das wurden sie die meiste Zeit der menschlichen Zivilisationsgeschichte. Dass dies nicht mehr so ist, ist eine große Errungenschaft der Emanzipation, auch wenn wir noch lange nicht am Ziel sind: Noch immer besteht in vielen Bereichen und an vielen Orten der Welt ein asymmetrisches Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen. Ein verändertes Bewusstsein darf aber nicht mit sich bringen, dass wiederum Übergriffe auf Männer nicht ernst genommen werden. Wie der aktuelle Fall veranschaulicht, erzeugen sie jedenfalls nicht die gleiche öffentliche Empörung wie anders herum. In einer gleichberechtigten Gesellschaft sollte das aber nicht so sein. Wenn es angebracht ist und nach Einbezug aller relevanten Faktoren müssen beide Geschlechter für ihr Verhalten kritisiert werden können. Denn Gleichberechtigung ist keine Einbahnstraße.
23 Kommentare
Kommentare
AW am Permanenter Link
Das man/frau dem Scientology Flaggschiff so einen Auftritt gewährt , ist doch der eigentliche Skandal.
Ringo Paulusch am Permanenter Link
So ist es!
Horst Neumohr am Permanenter Link
Liebe Gisa Bodenstein, Sie scheinen in einer weltfremden Realität zu leben. Ich kenne keinen Mann, dem es nicht gefallen würde, von einer hübschen jungen Frau geküsst zu werden. Auch wenn er sie nicht kennt.
Mutant am Permanenter Link
Ich bin ein heterosexueller Mann und habe kein Interesse daran das mich ein fremder Mensch küsst.
Frank Bohnsack am Permanenter Link
Das ist typischer Altherren-Chauvinismus, der aber nicht mehr in unsere Zeit passt. Männer sind angeblich allzeit bereit, wollen immer.
AW am Permanenter Link
Aber jung und hübsch, soll sie schon sein?
dietmar scheele am Permanenter Link
Männer die keine Lust haben auf Infektionserkrankungen, lassen sich nur ungerne von distanzlosen fremden Frauen abschlecken. Es verrät viel über IHRE Haltung zu diesem Thema wenn sie das für ganz normal halten.
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Sollte man diesen von Geist vollständig befreiten Beitrag überhaupt kommentieren?
Reinhard Huchthausen am Permanenter Link
Adam Sedgwick
Soll man sich über solch einen arroganten Menschen wie Sie überhaupt aufregen? Eher nicht, ist es nicht wert...
G.B. am Permanenter Link
Wie gesagt, es ist in Frankreich Sitte sich auf die Wangen zu küssen, als bitte, was soll
der Artikel, man kann ja alles kritisieren, muss es aber nicht!
Klaus am Permanenter Link
Man kann ja alles kommentieren. Muss es aber nicht!
Frank Bohnsack am Permanenter Link
Ja, genau, man kann auch jeden Kommentar kommentieren, muss man aber nicht :-p
Klaus am Permanenter Link
Ja, Frank Bohnsack, da muss ich Ihnen recht geben. Natürlich gilt das auch für mich. Adressiert war mein Kommentar aber unmittelbar an G.B.
Joseph Klein am Permanenter Link
es gab keinen "Übergriff" – hat der hpd bei Tom Cruise angefragt, wie er die Wangenküsse bewertet?
Katja am Permanenter Link
Danke. Ich habe das auch gedacht. Tom Cruise dreht seinen Kopf übrigens in einer Weise weg, die zeigt, er selbst grenzt sich ab.
René am Permanenter Link
Unsinn. Viel mehr ist im Video zu sehen, dass er die Geste freudig erwidert.
Ich habe das Gefühl, dass einige Leute in ihrer eigenen Wahrnehmungsblase sind, und bei winzigsten Triggern irgendwelche Skandale herbeifantasieren.
Bombe 20 am Permanenter Link
Eine Schieflage der Debatte erkennt man übrigens auch daran, daß ein Satz wie "Auf keinen Fall dürfen sexuelle Übergriffe gegen Männer verharmlost werden" in einem Artikel über einen Fall mit umgekehrten Ges
Dabei geschieht genau das seit Anbeginn der Zeit und auch heute noch -- wie dieser Fall und selbst einige Kommentare hier zeigen.
B20
René am Permanenter Link
Die Logik dieser "Kritik" geht also so:
Bei der Abschiedsfeier der Olympischen Spiele in Paris ist etwas passiert, was die Autorin irgendwie mit dem Übergriff des Präsidenten des spanischen Fußballverbands auf eine Sportlerrin assoziiert, was aber eigentlich ganz anders und gar nicht vergleichbar war. (So sinngemäß im Artikel erwähnt.)
Daraus schließt die Autorin nun, dass - würde es zu einem Vorfall kommen, der vergleichbar wäre - die Menge sich nicht empören würde, falls ein Mann vom Übergriff betroffen wäre.
Ouff... vielen Dank für die vermutlich beabsichtigte Solidarität mit von Übergriffen betroffenen Männern. Aber argumentativ finde ich die Kritik hier sehr schwach.
S.K. am Permanenter Link
Vielen Dank Frau Bodenstein für diesen sehr differenzierten Artikel.
Frank am Permanenter Link
Wie immer im Leben sind die Dinge immer nur ganz schlimm, wenn es Frauen passiert: (häusliche) Gewalt, sexuelle Belästigung/Vergewaltigung, Selbstmord, etc.
Klaus am Permanenter Link
Frau Bodenstein weist in Ihrem Artikel sehr sachlich darauf hin, dass a) gewisse Spielregeln symmetrich anzuwenden sind und dass b) das Empörungspotential der Öffentlichkeit beim Übertreten dieser Spielregeln in die e
Ihrer Darstellung stimme ich ohne Einschränkung zu.
Danke Frau Bodenstein, dass Sie das und wie Sie es angesprochen haben.
Die subjektiven Relativierungen der Kommentierenden mögen Wünsche und Sehnsüchte des einen oder der anderen abbilden, sind aber eher amüs- als relev-ant.
Was ich mich beim Lesen der Kommentare auf hpd.de gelegentlich frage: welche Werte teilen eigentlich Menschen, die sich einer säkularen Weltanschauung verbunden fühlen. Mitunter fühle ich mich "allein unter Humanisten".
Franz-Christian... am Permanenter Link
Gisa Bodenstein hat jedenfalls mit einem ihrer Sätze völlig Recht:
"Nicht vergleichbar mit dem Vorfall, als der Präsident des spanischen Fußballverbands ..."
Was immer Bodenstein mit Ihrem Aufsatz erreichen wollte, geht wegen des nicht haltbaren Vergleichs ins Leere. Der "operierende Thetan" der Scientology Sekte wurde gewiss nicht sexuell belästigt, und der hätte sich dem französischen Grußkuss jederzeit entziehen können.
Eiliger Geist am Permanenter Link
Manche Geschlechtsgenossen schwelgen offenbar in unerfüllten Träumen. Wie sonst könnte ihre vehemente Verteidigung dieses Übergriffs zu erklären sein. Und ein Übergriff war es zweifellos.
Ich wundere mich seit Jahrzehnten darüber, dass derartiges Verhalten immer nur in die eine Richtung erkannt und kritisiert wird. Was Männern den Vorwurf der sexuellen Belästigung einbringt, heißt im umgekehrten Fall "mit den Waffen einer Frau".
Mag sein, dass der eine oder andere sich geehrt fühlt, wenn er von einer wildfremden Frau (noch dazu in aller Öffentlichkeit) geküsst wird. Vielleicht braucht er auch die Bestätigung für sein männliches Ego. Das gilt aber ganz sicher nicht für alle Männer.
"Aber jung und hübsch soll sie schon sein?" heißt es in einem der vorherigen Kommentare. Ja, das wünsche sich die Kritiker dieses Artikels wohl. Wenn ich einen solchen Übergriff aber einer jungen, hübschen Frau erlaube, dann muss es der zahnlosen Oma aber auch gestattet sein und einem schwulen Mann ebenfalls. Alles andere wäre Diskriminierung. Also, vielleicht denken die unerschrockenen Herren der Schöpfung ja noch einmal darüber nach?
Es ist eine Frage des Respekts, das Selbstbestimmungsrecht des Anderen zu achten und im Übrigen in Art. 1 GG auch deutlich zum Ausdruck gebracht.