Debatte

Vom Sein der Geschlechter

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Konzepte wie "Geschlecht", "Mann/männlich" oder "Frau/weiblich" sind, auch wenn sie mit biologischen Merkmalen verknüpft werden, historische, kulturelle, politische und soziale Konstrukte und damit weder objektiv noch unveränderbar. Eine Betrachtung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive.

Die Vorstellung von einem "biologischen Geschlecht" beinhaltet eine Reihe von Merkmalen, die zur Unterscheidung von "Frauen" und "Männern" herangezogen werden. So gilt etwa in der Genetik ein XX-Chromosomensatz als "weiblich" und ein XY-Chromosomensatz als "männlich". Es finden sich aber auch andere Chromosomenkombinationen (zum Beispiel X, XXY oder XYY1), was gegen die These, es gebe nur zwei Geschlechter, wie sie jüngst auch auf einem Banner der rechtsextremen Demonstration gegen den Bautzener CSD zu lesen war, spräche.

Wenn Ärzt*innen und Hebammen Neugeborenen ein Geschlecht zuweisen, untersuchen sie dafür in der Regel weder Chromosomen noch Hormonspiegel noch innere Organe, sondern treffen ihre Entscheidung auf der Basis des äußeren Erscheinungsbildes der Genitalien. Diese lassen sich zwar nach wissenschaftlichen Kriterien klassifizieren (zum Beispiel wird ein Schwellkörper, der kleiner als 9 mm ist, als "Klitoris" und ein Schwellkörper, der größer als 25 mm ist, als "Penis" bezeichnet2), aber ihre Verknüpfung mit einem "männlichen" oder "weiblichen" "Geschlecht" bleibt ein durch kulturelle Praktiken herausgebildetes soziales Konstrukt, wie Linus Giese, ein trans Mann, in seinem Beitrag zum unlängst erschienenen Sammelband "Unlearn Patriarchy" anschaulich darlegt:

"Doch warum heißt in der Vorstellung vieler Menschen ein Hautlappen in der Körpermitte Schamlippen, und weshalb bezeichnen viele Menschen Schamlippen auch noch als weiblich? Der Hautlappen ist zweifelsohne biologisch – er ist reale Materie, er hängt dort, darüber lässt sich nur schwer diskutieren. Aber diesen Hautlappen ‚Schamlippen‘ und ‚weiblich‘ zu nennen, ist nichts Biologisches, sondern eine kulturelle Übereinkunft. Dass wir bestimmten Körperteilen bestimmte Geschlechtsattribute zuweisen, liegt an der tief verwurzelten gesellschaftlichen Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit: Warum gibt es weibliche Brüste, aber keine weiblichen Nieren oder weibliche Ohren? Warum wird einer intimen Anatomie überhaupt ein Geschlecht zugewiesen? […] Wenn Menschen sagen, dass ich biologisch eine Frau sei, dann meinen sie eigentlich, dass ich an bestimmten Stellen einen Hautlappen und an anderen Stellen Brustgewebe besitze. Der Hautlappen und das Brustgewebe sind biologisch, aber beides als weiblich zu bezeichnen, ist gesellschaftlich und kulturell bedingt. Ich wünsche mir, dass wir damit beginnen, diese normierten Geschlechterzuschreibungen zu hinterfragen – und irgendwann lernen, über diese binäre Zweigeschlechtlichkeit hinaus zu denken."3

Allem ein Geschlecht zuordnen zu wollen, scheint einem allgemeinen menschlichen Bedürfnis zu entspringen und schließt auch die nichtmenschliche Welt ein. Der "Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne" veranlasste Friedrich Nietzsche zu folgender spöttischer Bemerkung:

"Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: – den ungeheuren Umfang dieses Irrtums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden."4

Doch zurück zu den Geschlechtszuteilungen für neugeborene Menschen, die weitreichende Folgen für das ganze Leben haben können. Menschen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wird, werden als Mädchen erzogen und als erwachsene Frauen werden von ihnen bestimmte als "weiblich" geltende Rollen und Verhaltensweisen erwartet. Demgegenüber werden Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugeordnet wird, als Jungen erzogen und als erwachsene Männer werden von ihnen bestimmte als "männlich" geltende Rollen und Verhaltensweisen erwartet. Wie Geschlechternormen unser Verhalten beschränken können, beschreibt die Neurowissenschaftlerin Daphna Joel in ihrem vor wenigen Jahren erschienenen Buch "Das Gehirn hat kein Geschlecht. Wie die Neurowissenschaft die Genderdebatte revolutioniert":

"In vielen Ländern, darunter auch westlichen, erleben die Menschen, die sich als transgender oder genderqueer bezeichnen, regelmäßig Gewalt, bloß weil sie sich geschlechtsuntypisch verhalten. Doch selbst in der Sicherheit unseres Zuhauses, wenn niemand uns zusieht, vermeiden wir manchmal Tätigkeiten, die wir – häufig unbewusst – als ‚unpassend für mein Geschlecht‘ empfinden, wie ein Ikea-Bücherregal aufzubauen oder ein Kochbuch aufzuschlagen und Suppe zu kochen."5

Natürlich gab und gibt es immer Menschen, die aus dem starren System der Zweigeschlechtlichkeit mit seinen Rollenzuschreibungen, Schubladen und Stereotypen ausbrechen, wie zum Beispiel die 1877 in einem anarchistischen Haushalt nahe Genf geborene Isabelle Eberhardt, die schon als Kind keine "Mädchenkleider" und als erwachsene Frau "Männerklamotten" trug, mit einer "Hand voll Datteln, etwas Kaffee und Haschisch" als Aussteigerin in Nordafrika lebte und schließlich 1904 in ihrer kleinen Lehmhütte während eines Gewitters in der Wüste ertrank.6 Es gibt aber auch Menschen, die sich schwertun, die vorgegebenen Schubladen, in die sie einsortiert werden, zu verlassen, auch wenn sie sich in ihnen nicht wohl und ihnen nicht zugehörig fühlen. Für sie bedeuten diese Schubladen eine Begrenzung, die Giese mit folgenden Beispielen illustriert:

"Ich würde gern Basketball spielen, aber Mädchen können nicht werfen.’
'Ich würde mir gern die Nägel lackieren, aber Männer tun so etwas nicht.'
'Mir ist die Karriere wichtiger als ein Kind, aber von Frauen wird etwas anderes erwartet.'"
7

Den beschränkenden und zugleich simplifizierenden Charakter unseres binären Geschlechtersystems beschreibt die Psychiaterin Dagmar Pauli in ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch "Die anderen Geschlechter" folgendermaßen:

"Geschlecht wird als primär kategoriales Konstrukt beschrieben und von uns so wahrgenommen. Sämtliche das Geschlecht definierende äußere Merkmale, Eigenschaften oder Verhaltensweisen sind jedoch dimensional (d. h. zeigen unendlich viele Ausprägungen zwischen den Polen)."8

Dass in zweigeschlechtlich organisierten Gesellschaften, in denen davon ausgegangen wird, es gebe nur zwei, klar voneinander trennbare und unterschiedliche Rollen einzunehmen zu habende Geschlechter, zwangsläufig manche Menschen unter die Räder kommen, zeigt eindrücklich das Schicksal der Französin Adélaïde Herculine Barbin, die von ihrer Umgebung Alexina Barbin genannt wurde. 1838 in Saint-Jean-d’Angély in Armut geboren, wurde sie als Mädchen in einem fast ausschließlich weiblichen und religiösen Umfeld – in einem Hospital, im Ursulinenkloster von Chavagnes sowie in Mädchenpensionaten – aufgezogen. Später besuchte sie die vom Orden der Filles de la Sagesse geführte Ecole normale von Oléron, an der sie ein Diplom erwarb, mit dem sie anschließend als Lehrerin zu arbeiten begann. Doch als ein Priester und ein Arzt ihren ihnen unweiblich erscheinenden Körper bemerkten, brachten sie ein Verfahren in Gang, das über eine aufgezwungene ärztliche Begutachtung ihrer Anatomie zu einer gerichtlich angeordneten Änderung ihres Personenstandes und schließlich zu ihrem tragischen Tode im Alter von nur 29 Jahren führte.

Barbin hinterließ ein Manuskript mit Erinnerungen, das der Sexualpathologe Ambroise Tardieu 1874 veröffentlichte. Über ein Jahrhundert später wurde dieses Dokument von Michel Foucault neu herausgegeben und mit folgenden Worten eingeleitet:

"Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht? Mit einer Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlandes dies bejaht. Hartnäckig haben sie diese Frage nach dem 'wahren Geschlecht' in einer Ordnung der Dinge ins Spiel gebracht, in der – wie man sich vorstellen könnte – allein die Realität der Körper und die Intensität der Lüste zählen."9

Um die Genese dieser Ansprüche aufzuzeigen, unternimmt Foucault einen historischen Exkurs, beginnend mit dem Mittelalter. Damals hätten das kanonische und zivile Recht zwar vorgeschrieben, dass "Hermaphroditen" genannte Menschen, "in denen die beiden Geschlechter zu variablen Anteilen nebeneinanderlagen", zum Zeitpunkt ihrer Taufe von ihrem Vater oder Paten ein Geschlecht zugewiesen bekamen, aber bei Erreichen eines heiratsfähigen Alters habe es ihnen freigestanden, selbst zu entscheiden, zu welchem Geschlecht sie gehören wollten.10

"Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle" hätten dann "seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie Entscheidung der zweifelhaften Individuen zu beschränken". In der Folge durfte nicht mehr das Individuum über seine Geschlechtszugehörigkeit in rechtlicher und sozialer Hinsicht entscheiden, sondern ein "Experte" legte fest, "welches Geschlecht die Natur für es ausgewählt" habe "und an welches sich zu halten die Gesellschaft darum von ihm verlangen" müsse.11

Auch heutzutage sei "die Vorstellung, dass man am Ende doch ein wahres Geschlecht haben müsse, bei weitem nicht ausgeräumt". Zwar sei man toleranter geworden, aber in der öffentlichen Meinung finde sich noch immer die Vorstellung, dass von den Geschlechternormen abweichende Menschen, etwa eine "männliche" Frau, der Wahrheit hohnsprächen, da ihre Handlungsweise nicht der Wirklichkeit entspräche. Viele Menschen dächten: "Wacht auf, ihr jungen Leute, aus euren trügerischen Genüssen; legt eure Verkleidungen ab und erinnert euch daran, daß ihr ein Geschlecht habt, ein wahres."12

Dieses "grausame Spiel der Wahrheit"13, wie es Foucault nennt, hatte für Barbin und andere Opfer fatale Auswirkungen. Ihr Schicksal sollte uns zur Mahnung gereichen, dass das Geschlecht eines Menschen keine öffentlich zu verhandelnde Angelegenheit ist. Insbesondere humanistisch eingestellte Menschen sollten sich, vom Primat der Menschenwürde geleitet, solcher Debatten enthalten, auch wenn sie sich im Besitz einer "Wahrheit" wähnen mögen. Schließlich geht es um den "Respekt vor den Wünschen eines Menschen, vor dem Anderssein, vor der Einzigartigkeit von Identität und Geschlechtlichkeit"14, wie es Pauli auf den Punkt bringt.

Für eine Dekonstruktion unserer binären Vorstellungen von "Weiblich-/Männlichkeit" eröffnet das foucaultsche Werk "fruchtbare Forschungsperspektiven", wie Andrea D. Bührmann in ihrem Aufsatz "Geschlecht und Subjektivierung" herausarbeitet:

"Die […] Überlegungen Foucaults zur Formierung und Transformierung moderner Subjektivierungsweisen – insbesondere aber seine Annahme von der grundsätzlichen Kontingenz moderner Subjektivierungsweisen – öffnet den Blick für die Infragestellung eines mimetischen Zusammenhanges zwischen Geschlechtsidentität und Geschlechtskörper, die Dekonstruktion des Systems der biologischen Zweigeschlechtlichkeit sowie die damit verbundene diskursive und nicht-diskursive Formierung und Transformierung weiblicher und männlicher Subjektivierungsweisen."15

Schlussendlich geht es darum, Geschlecht weniger an körperlichen Aspekten, Chromosomen und Hormonspiegeln, sondern mehr am individuellen inneren Empfinden festzumachen. Wenn es uns gelänge, andere Menschen nicht mehr automatisch in eine "weibliche" oder "männliche" Kategorie einzuordnen, bestünde die Chance, dass das binäre Geschlechtersystem "in unserem Leben nicht mehr diese enorme, fast wahnhafte Wichtigkeit einnimmt"16, wie es Juli Faber unlängst ausdrückte. "Und wer weiß", schreibt Faber, "vielleicht kommen wir irgendwann mit viel reduzierteren Geschlechterkonzepten aus, die unseren Alltag weniger bestimmen"17. Es mag sein, dass durch eine Auflösung der Geschlechterbinarität, wie wir sie kennen, die Geschlechterordnung an Einfachheit und Übersichtlichkeit verlöre, aber dafür müssten Menschen nicht mehr unter einer bei ihrer Geburt erfolgten Geschlechtszuweisung, mit der die sich nicht identifizieren können, leiden und wir alle gewännen, wie es Lydia Meyer in ihrem im vergangenen Jahr erschienenen Buch "Die Zukunft ist nicht binär" formuliert, neue "Möglichkeiten – im Ausdruck, im Denken und in den Begegnungen mit anderen Menschen".18

Zu einer Replik aus biologischer Perspektive gelangen Sie hier.


Literatur

Barker/Scheele 2021: Meg-John Barker/Jules Scheele, Gender. Eine illustrierte Einführung. Aus dem Englischen übersetzt von Emilia Gagalski. Unrast, Münster 2021.

Bührmann 2001: Andrea D. Bührmann, Geschlecht und Subjektivierung. In: Marcus S. Kleiner, Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Campus, Frankfurt am Main/New York 2001, S. 123–136.

Demski 2022: Eva Demski, Mein anarchistisches Album. Insel, Berlin 2022.

Faber 2024: Juli Faber, Unerhört! Unschlagbare Argumente für gendergerechte Sprache. Edition Michael Fischer, Igling 2024.

Foucault 1998: Michel Foucault, Das wahre Geschlecht. In: Herculine Barbin/Michel Foucault, Über Hermaphrodismus. Herausgegeben von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1998, S. 7–18.

Giese 2024: Linus Giese, Unlearn Gender. In: Lisa Jaspers/Naomi Ryland/Silvie Horch (Hrsg.), Unlearn Patriarchy. Ullstein Taschenbuch, Berlin 2024, S. 36–53.

Joel 2021: Daphna Joel, Das Gehirn hat kein Geschlecht. Wie die Neurowissenschaft die Genderdebatte revolutioniert. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Johanna Wais. dtv, München 2021.

Meyer 2023: Lydia Meyer, Die Zukunft ist nicht binär. Rowohlt, Hamburg 2023.

Nietzsche 1954: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Erster Band. Herausgegeben von Karl Schlechta. Hanser, München 1954.

Pauli 2023: Dagmar Pauli, Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und andere (ganz) trans* normale Sachen. C.H.Beck, München 2023.

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  1. Barker/Scheele 2021, S. 36. ↩︎
  2. Barker/Scheele 2021, S. 34. ↩︎
  3. Giese 2024, S. 38 f. ↩︎
  4. Nietzsche 1954, S. 1017. ↩︎
  5. Joel 2021, S. 183. ↩︎
  6. Demski 2022, S. 145–147. ↩︎
  7. Giese 2024, S. 40 f. ↩︎
  8. Pauli 2023, S. 254. ↩︎
  9. Foucault 1998, S. 7. ↩︎
  10. Foucault 1998, S. 8. ↩︎
  11. Foucault 1998, S. 8 f. ↩︎
  12. Foucault 1998, S. 10 f. ↩︎
  13. Foucault 1998, S. 12. ↩︎
  14. Pauli 2023, S. 84. ↩︎
  15. Bührmann 2001, S. 136. ↩︎
  16. Faber 2024, S. 134. ↩︎
  17. Faber 2024, S. 93. ↩︎
  18. Meyer 2023, S. 154. ↩︎