Interview mit Mohammed Khallouk

"Die Nachahmung des Modells Marokko empfehle ich nicht"

Anläßlich des Erscheinens der 2. Auflage seines Buches "Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas – Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität" führte Joachim Münch ein Interview mit Mohammed Khallouk.

hpd: Der Titel Ihres Buches klingt plakativ. Welche Absicht steht dahinter?

Mohammed Khallouk: Mit der Paraphrase "vor den Toren Europas" für Marokko verbindet sich die Hoffnung, dass die Europäer sich von der verbreiteten Ignoranz befreien, Islamismus und Islamischer Fundamentalismus seien Kennzeichen einer fremden, entfernten, ihnen prinzipiell feindlich gegenüberstehenden Zivilisation.

Das impliziert nämlich, sich von der Islamischen Welt abzuschotten und den Ideenaustausch, der gerade das Mittelalter auf marokkanischem Boden in erstrebenswerter Weise auszeichnete, ebenfalls zu ignorieren. Zugleich sollen die Leser anhand der im Buch nachgezeichneten Entwicklung in Marokko die verbreiteten und hier bewusst nahe gelegten Pauschalassoziationen von "Mittelalter" mit "Rückständigkeit" und "Westen" mit "Modernität schlechthin" auf ihre allgemeine Gültigkeit hinterfragen. Schließlich ist die hierin für Marokko als erstrebenswert beschriebene Fortschrittlichkeit eine, die sich gleichermaßen an westlichen Vorbildern wie an der eigenen kulturellreligiösen Tradition orientiert.

Weshalb haben Sie gerade Marokko als Gegenstand ihrer Expertise ausgewählt?

Zum einen legt mein eigenes Aufwachsen in Marokko und dementsprechend die Vertrautheit mit der Gesellschaft in diesem Land nahe, das Königreich auch zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse eines aktuell viel diskutierten Sachverhalts zu erheben. Zum anderen variiert die Entwicklung in Marokko, insbesondere in Bezug auf Islamismus, deutlich von anderen Staaten der Arabischen und Islamischen Welt. Diese Abweichung ist in den letzten Jahren noch deutlicher geworden.

Marokko ist aber auch deshalb für die europäische politikwissenschaftliche Debatte interessant, da es eben nicht nur geographisch "vor den Toren Europa" liegt, sondern seit mittelalterlicher Zeit in einen permanenten kulturellen und ökonomischen Austausch mit Europa steht.

Durch die französische Protektoratsherrschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich die europäische Beschäftigung mit Marokko seither allerdings im Wesentlichen auf die französischsprachige wissenschaftliche Literatur beschränkt. Dabei gerät in Deutschland, aber auch in Marokko selbst immer mehr in Vergessenheit, dass mit dem Einfluss der Brüder Mannesmann in der Zeit vorher immer auch deutsche Ökonomen, Wissenschaftler und Literaten sich für Marokko interessiert und dabei wertvolle Erkenntnisse gewonnen haben. Um diese Kooperation auf eine neue Grundlage zu stellen, erschien es mir wichtig, die politische Entwicklung in Marokko in einer deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Monographie vorzustellen und unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen Religion und Politik zu problematisieren.

Worin sind die wesentlichen Neuerungen dieser zweiten Auflage?

Es handelt sich um Ergänzungen, in denen die politische Entwicklung Marokkos nach Erscheinen der ersten Auflage beschrieben und interpretiert wird. Dabei ist Marokko ein unglaublich spannendes Experiment, denn es ist nahezu das einzige arabische Land, in dem durch die Protestwelle 2011 und die Reaktionen des Monarchen darauf eine Entwicklung hin zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingetreten ist, seither angehalten hat und mit der PJD bekennende Islamisten, die nach wie vor die größte Regierungspartei in einer Koalition mit eher säkularistisch orientierten anderen Parteien darstellen, einen wesentlichen Anteil haben.

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (französisch: "Parti de la justice et du développement", PJD) ist eine politische Partei in Marokko, die gemäßigt islamistische Positionen vertritt. (wikipedia)

Marokko dient somit auch für andere arabische Staaten und deren Verantwortungsträger, sofern sie eine demokratische Modernisierung anstreben und zugleich nach geeigneten Wegen im Umgang mit Islamisten suchen, als Modellcharakter. Die permanente Kompromisssuche in Marokko zwischen Koalitionsparteien unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung auf der einen und zwischen Königshof und gewählter Regierung auf der anderen Seite markiert sozusagen das Gegenmodell zur aktuellen Situation in Staaten wie Syrien, Libyen oder Jemen, wo politisch-ideologische Auseinandersetzungen mit Gewalt ausgetragen werden und dadurch eine Weiterentwicklung des Gemeinwesens, die der gesamten Gesellschaft dienlich ist, verhindert wird.

In nichtarabischen Islamischen Staaten mit parlamentarischen Systemen wie der Türkei, Malaysia oder Indonesien sind Islamisten schon erheblich länger in Regierungspositionen als in Marokko. Speziell die Türkei steht zuletzt aber mehr mit Eingriffen der Exekutive in die Judikative und die Medien im öffentlichen Fokus. Inwiefern unterscheiden sich die regierenden Islamisten der PJD in Marokko von gleichnamigen Parteien anderer Staaten wie der türkischen AKP?

Zunächst einmal unterscheidet sich das marokkanische Grundsystem fundamental von den genannten Staaten. In Marokko besteht eine konstitutionelle Monarchie, die sich laut jüngster Verfassung von 2011 auch als "demokratisch und sozial" definiert, zugleich aber explizit im Islam gründet. Der König bezeichnet sich als Emir el Muminin (Führer aller Gläubigen) und stellt somit den Garanten dafür, dass jegliches staatliche Handeln mit islamischen Grundsätzen übereinstimmen sollte. Die Scharia bildet im Zivilrecht sogar offiziell das Fundament. Vor diesem Hintergrund sind in Marokko auch nominell säkulare Kräfte, die zentrale Aufgaben im Gemeinwesen übernehmen, gehalten, ihre gesellschaftlichen Entscheidungen nach islamischen Grundsätzen zu treffen. Für eine islamistische Partei wie die PJD ist es in diesem Rahmen leichter, mit "Nichtislamisten" zu einem Konsens zu kommen.

Zentrale Konflikte mit Islamisten entstehen in Marokko eher dadurch, dass einige Islamisten aus ihrem Islamverständnis heraus die religiöse Legitimationsgrundlage des Königs anzweifeln. Dieses Konfliktpotential wird in meinem Buch bezogen auf die größte systemkritische Bewegung Gerechtigkeit und Spiritualität auch herausgearbeitet. Mit der jüngsten Verfassung, in der sich der Monarch nicht mehr als "heilig" definiert, und mehr noch mit der zeitweiligen Kooperation der Gerechtigkeit und Spiritualität mit anderen z.T. säkularen Oppositionsbewegungen als Reaktion darauf, wird aber auch ein Weg vorgezeichnet, wie diesem Konfliktpotential im Sinne des gemeinschaftsdienlichen Fortschritts begegnet werden kann.

Cover

Wenn Sie das "Marokkanische Modell" als so einzigartig präsentieren, in wie fern kann es dann überhaupt anderen Arabischen oder Islamischen Staaten zur Nachahmung empfohlen werden?

Wer mein Buch gelesen hat, erkennt, dass ich anderen Staaten eine unreflektierte Nachahmung des Modells Marokko überhaupt nicht empfehle. Ich liege damit auf der gleichen argumentativen Linie wie die regierenden Islamisten der PJD, wonach für ein islamisches Staatswesen eben nicht entscheidend ist, ob es sich als Monarchie oder Republik konstituiert, sondern dass islamische Werte für staatliches Handeln maßgeblich sind.

Nicht zuletzt an dieser Argumentation markiere ich zudem den Unterschied zwischen radikalen und gemäßigten Muslimen. Während radikale Islamisten verlangen, dass in einem islamischen Gemeinwesen die Scharia an jedem Ort und zu jeder Zeit nach der Praxis des ersten islamischen Gemeinwesens in Medina ausgerichtet sein müsse, orientieren sich gemäßigte Muslime wie die PJD am bestehenden Kontext.

In einer laizistischen Republik wie der Türkei würde die PJD in der einen oder anderen Frage mutmaßlich anders entscheiden. Genau wie man für Marokko sich in einzelnen Angelegenheiten in der Tat an westlicher Modernität orientiert, lässt man die spezifisch marokkanischen Gegebenheiten für ein ganzheitliches Reformprogramm nicht außer Acht. In diesem Kontext ist ein Fortschritt möglich, der die verschiedenen geistigen Errungenschaften einer zuletzt im Wesentlichen vom Westen ausgehenden Entwicklung zu antizipieren in der Lage ist, zugleich aber von der Zivilgesellschaft nicht als "aufoktroyiert" erfahren wird. Die kulturellreligiöse Identität lässt sich auf diese Weise sogar noch stärken.

Mohammed Khallouk ist Politologe und Islamwissenschaftler sowie stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD).

Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas, Springer Wiesbaden, 2. Aufl. 2016, ISBN 978-3-531-91021-5, 49,99 Euro (eBook)