Lale Akgün im Gespräch mit dem hpd

Die Politik muss mit der Unterstützung des orthodoxen Islams aufhören

BERLIN. (hpd) Wie ist "der Islam" in Deutschland und Europa orientiert? Dominieren traditionelle Auffassungen, die sich als Mainstream-Islam etablieren wollen? Gibt es einen "aufgeklärten Islam"? Ist ein "aufgeklärter Islam" überhaupt möglich? Über diese und andere Fragen spricht Lale Akgün in einem Interview.

Gibt es in Deutschland eine Allianz von traditionellem Islam und politischer Klasse, die menschenrechtlich orientierte Auslegungen des Korans blockiert? Die (notwendige) Auseinandersetzung mit den Menschenrechtsverbrechen des IS, von Boko Haram und anderen islamistischen Terrorgruppen, die Frage danach, ob deren Ideologie etwas oder gar nichts mit dem Islam zu tun habe, hat mittlerweile dazu geführt, dass in der muslimischen Community Forderungen nach einer theologischen Reform "des Islam" lauter geworden sind. Gerade in diesen Tagen haben vier international bekannte muslimische Intellektuelle in einem Manifest die Frage thematisiert, warum Muslime zivilisatorisch versagt hätten.

Äußerungen zur Situation innerhalb der muslimischen Community finden sich in einem aktuellen Interview, das der hpd mit der Päda­gogin, Psycho­login und Politikerin Dr. Lale Akgün geführt hat. Akgün, in Istanbul geboren, von 2002 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundes­tages und Islam-Beauftragte der SPD-Bundes­tags­fraktion, plädiert seit Jahren für einen liberalen Islam und kritisiert die Politik der orthodox-konservativen Islam­verbände. Sie ist Mitglied des Liberalislamischen Bundes.

Lale Akgün fordert einen "aufgeklärten Islam", der sich an der Menschenrechtserklärung der UN und nicht der "Kairoer Menschenrechtserklärung" orientiert, lehnt die "schwarze Pädagogik" von Moscheen und Koranschulen ab und warnt davor, dass islamischer Religionsunterricht zu einer Fortsetzung der Koranschulen werden könnte. Sie warnt zudem eindringlich davor, bei einer Fokussierung auf die Bekämpfung der kleinen salafistischen Gruppen aus dem Auge zu verlieren, dass die politisch viel bedeutsamere Auseinandersetzung mit dem traditionellen (konservativ-orthodoxen) Islam geführt werden müsse.

 

hpd: Frau Dr. Akgün, gegenwärtig sind aus dem islamischen Spektrum im Zusammenhang mit dem Terror der IS und nach den Massakern von Paris stärker denn je Stimmen zu vernehmen, die eine theologische Auseinandersetzung darüber fordern, was Islam überhaupt bedeute und die für eine liberale mit Menschenrechten vereinbare Auslegung des Koran plädieren. In den aktuellen Diskussionen wird verlangt, den Koran in seinem historischen Kontext zu verstehen, und es wird immer wieder wird betont, die Bedeutung der Suren müsse danach differenziert betrachtet werden, ob sie in der mekkanischen (allgemeingültig-religiös) oder der medinensischen Zeit (zeitgebunden-politisch) des Propheten Mohammed offenbart sind. Islamwissenschaftler, wie etwa Prof. Ednan Aslan aus Wien, verlangen, die Rechtslehre im Islam zu reformieren und den Islam aus einer europäischen Aufklärungstradition heraus zu prägen. Was spielt sich gegenwärtig in der muslimischen Community ab und welche Entwicklungen deuten sich an?

Lale Akgün: An verschiedenen islamtheologischen Fakultäten in der EU haben sich junge Wissenschaftler eingefunden, die den Mut haben, die islamische Theologie von ihrem Ballast der letzten Jahrhunderte zu befreien. Sie sind bis jetzt zahlenmäßig nur wenige, aber dafür sind sie sehr couragiert. Denn das, was sie vertreten, wird weder vom Mainstream der Muslime getragen noch von den etablierten Verbänden.

 

Finden sich die erwähnten Stimmen, die eine Interpretation des Korans im historischen Kontext verlangen, lediglich im universitären Bereich oder auch in den Islamverbänden und Moscheegemeinden? Gibt es solche Debatten auch bei Otto-Normal-Muslim?

Das ist das eigentliche Problem: Die akademischen Diskurse kommen in den Gemeinden und bei den einfachen Gemeindemitgliedern überhaupt nicht an, und diese Situation wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern. Mir schrieb ein junger Mann auf einen Artikel von mir, ich könnte ja zum liberalen Islam "konvertieren". Diese Aussage ist deswegen sehr bezeichnend, weil der Mainstream-Islam, das heißt, was die Menschen seit Jahrhunderten glauben und praktizieren, als sakrosankt wahrgenommen wird, als "Gottes Befehl" – wie es von den Gläubigen formuliert wird.

Es wird nichts in Frage gestellt. Die geistlichen Führer des Islam haben es geschafft, das, was sie interpretiert und formuliert haben, den einfachen Menschen als "Gottes Befehl" darzustellen. Es ist unglaublich, was den Menschen als "Gottes Befehl" verkauft wird. In Bradford sagten mir junge Pakistani, es sei Gottes Befehl, den eigenen Cousin zu heiraten. In Ankara erzählte mir ein Imam grinsend, wie er den Frauen seiner Gemeinde erzählt habe, es sei Gottes Befehl, jeden Freitag die Moschee zu putzen.

Und wenn ein Ritual einmal festgelegt ist, dann wird es auch praktiziert. Das hat mit der historisch-kritischen Auslegung des Koran und der Sunna gar nichts zu tun. Das fatale an der Situation ist, dass die Veränderungen, die die kritisch-historische Auslegung des Koran und der Sunna mit sich bringen würden, sofort abgelehnt würden, weil jede Veränderung angstbesetzt ist und abgelehnt wird. In den Moscheen ist ja Angst ein probates Mittel. "Wenn Du das machst, oder jenes unterlässt dann kommst Du in die Hölle", ist ein sehr gängiger Spruch, den sicherlich jeder Moslem schon in jungen Jahren zu hören bekommen hat.

 

Gilt diese Aussage auch für Deutschland? Wird auch hier in den Moscheen "mit Angst gearbeitet", den Leuten mit der Hölle gedroht?

Und wie. Die schwarze Pädagogik ist auch in Deutschland aktuell, in den Moscheen, in den Koranschulen. Es wird das Bild eines rachsüchtigen, strafenden Gottes vermittelt. Reden Sie mal mit den Lehrern und Lehrerinnen, die muslimische Kinder und Jugendliche unterrichten. Sie werden Ihnen berichten, wie die jüngeren Kinder unter dem Eindruck der von den Imamen geschilderten Schreckensszenarien im Jenseits Angstsymptome entwickeln und die Älteren ihrerseits Mitschülern und Mitschülern diese Schreckensszenarien androhen, wenn sie sich nicht den Vorstellungen des Mainstreamislam beugen. Diese Schreckensszenarien ähneln Horrorfilmen, in dessen Mittelpunkt derjenige als Opfer steht, der die religiösen Anweisungen im Diesseits nicht befolgt hat, mit allem, was Angst einjagt: Schlangen, Ratten, Feuer, Wasser.

 

Sie haben wiederholt für einen "liberalen Islam" plädiert. Was ist darunter zu verstehen?

Vielleicht vorweg zur Klarstellung: der liberale Islam bedeutet weder Beliebigkeit noch Islam "light". Natürlich gibt es die "lauen" Muslime wie die "lauen" Christen. Aber es gibt auch durchaus gläubige Christen und Muslime, die einen demokratie-kompatiblen Islam (oder ein ebensolches Christentum) wollen und leben. Der liberale Islam ist somit ganz einfach zu erklären: er ist ein Islam, dessen Referenzpunkte die globalen Menschenrechte sind.

Der Unterschied zu den konservativen Muslimen lässt sich am folgenden Beispiel aufzeigen: August 1990 haben Vertreter von 57 mehrheitlich islamischen Staaten eine Erklärung unterschrieben, die so genannte Kairoer Menschenrechtserklärung. Die Menschenrechte werden in dieser Erklärung ausdrücklich der islamischen Gesetzgebung, der Scharia, untergeordnet. Allein Gottes Recht sei maßgeblich, alle von Menschenhand erlassenen Regeln und Gesetze nachgeordnet. Artikel 24 der Kairoer Erklärung: "Alle Rechte und Freiheit, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia."

Die "Kairoer Erklärung" führt die unterschiedlichen Denkansätze bei den Menschenrechten deutlich vor Augen. Während die Präambel der Allgemeinen UN-Menschenrechtserklärung von 1948 "die Völker der Vereinten Nationen" als Urheber von Recht und Gesetz im Dienste der Menschenrechte deklariert, beziehen sich die islamischen Menschenrechte der "Kairoer Erklärung" einzig und allein auf Gott.

Für die liberalen Muslime ist die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen maßgeblich, für die konservativen Muslime die Kairoer Menschenrechtserklärung.

 

Lässt sich ein liberaler Islam denn überhaupt theologisch begründen?

Theologisch ist der Koran auch für uns liberale Muslime Gottes Wort. Aber es ist die Aufgabe der Theologen, das Wort Gottes immer wieder aufs Neue im historischen Kontext zu deuten. Nur dann kann man überhaupt verstehen, was Gott heute den Menschen zu sagen hat. Im Gegensatz zu einem "fundamentalistischen" (im theologischen Sinne) Islam, der sich an das geschriebene Wort von vergangenen Jahrhunderten klammert, ohne dieses Wort für die heutigen Lebensumstände neu zu lesen. Wer sich im Jahre 2015 mit Bekleidungs- und Bestrafungsvorschriften aus dem Jahre 700 nach Christus beschäftigt, sieht am Kern der Botschaft Gottes vorbei. Harry Harun Behr, Theologe in Frankfurt, formuliert es so: "Ich meine, Theologie dient auch dazu, die Tradition aus dem Blickwinkel der Situation zu betrachten und umzuformulieren."

Für das orthodoxe Verständnis ist der Koran das unveränderlich Wort Gottes, und alle Suren sind heute unverändert gültig. Und die Sunna, also Leben und Worte des Propheten, bestimmt die verbindlichen Lebensregeln. Das geht soweit, dass bei einer aktuellen Situation nach einer ähnlichen aus dem Leben des Propheten gesucht wird, oder was er dazu gesagt hat, und das ist dann Richtschnur für das aktuelle Handeln. Muslimisches Leben heißt für die Konservativen: nach den Regeln des 7. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel zu leben.