Marsch für das Leben Berlin 2018

Marschieren mit Abtreibungsgegnern – ein Selbstversuch

Am Samstag war es wieder so weit: Der "Marsch für das Leben" lief schweigend durch Berlin. Gegendemonstranten versuchten die Stille nach Kräften zu stören, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung rief zu einer Gegenkundgebung auf. hpd-Autorin Gisa Bodenstein mischte sich als Pro-Choice-Aktivistin unter die Lebensschützer – ein Experiment mit unerwartetem Ausgang.

Am vergangenen Wochenende war Berlin wieder Schauplatz des Aufeinandertreffens der Pro-Life- und der Pro-Choice-Bewegungen. Der "Bundesverband Lebensrecht" hatte wie jedes Jahr zum "Marsch für das Leben" aufgerufen, um gegen das Recht auf Abtreibung zu demonstrieren, das "Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung" – dem neben Beratungsstellen, SPD, Linken und Grünen auch mehrere säkulare Gruppierungen angehören – zur Gegendemonstration für Selbstbestimmung unter dem Motto "Leben und lieben ohne Bevormundung".

Bei den "Lebensschützern" zahlte sich ihre bundes- und europaweite

BeispielbildAuch mehrere säkulare Organisationen unterstützten die Gegendemonstration (© Frank Nicolai)

Mobilisierungskampagne aus: Rund 5.000 Menschen nahmen an dem Schweigemarsch zum Gedenken an die abgetriebenen Föten teil. Bei der Kundgebung zu Beginn auf dem Washington-Platz vor dem Berliner Hauptbahnhof wurden sieben Forderungen an die Politik verlesen, unter anderem "Mehr Gesetze, die wirksam dem Leben dienen", "Mehr Aufmerksamkeit für suizidgefährdete und sterbende Menschen" mit dem Unterpunkt "keine Zulassung von Tötungsmitteln" oder "Mehr Solidarität zur Annahme jedes Kindes". Dabei meiden sie das Wort "Behinderung" und sprechen von "Kindern mit Besonderheiten". Dass die Krankenkassen Bluttests auf das Down-Syndrom beim Kind in den Vorsorgekatalog für Risiko-Schwangerschaften aufnehmen werden – aktuell muss man diese 400 bis 650 Euro teure Leistung selbst bezahlen – nennt der ehemalige Bundestags-Vizepräsident Johannes Singhammer (CSU) in seinem verlesenen Redebeitrag "ein verhängnisvolles Signal", denn sie widersprächen der UN-Behindertenkonvention.

Auch Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sandte schriftlich "im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (…) herzliche Grüße". "Der Marsch für das Leben ist für den Gesetzgeber und uns Politiker Erinnerung und Mahnung zugleich, den bestehenden Lebensschutz immer wieder zu hinterfragen und auf neue medizinische Entwicklungen lebensschützend und das Leben fördernd zu reagieren", heißt es in seinem Grußwort. Die Deutsche Bischofskonferenz ließ ebenfalls grüßen, mehrere Repräsentanten beider Kirchen nahmen auch persönlich am Marsch Teil. Genau wie einige Vertreter der AfD-Fraktion, die aber nicht offiziell begrüßt wurden. Hier zeigte sich die oft bestrittene, aber zweifellos vorhandene rechts-konservative Werte-Allianz.

Eine Stunde früher hatte bereits die Gegenkundgebung Unter den Linden in Sichtweite des Brandenburger Tors mit etwa 1.500 Demonstranten begonnen. Hier stand die Forderung nach der Streichung der Strafrechtsparagraphen 218 und 219a im Mittelpunkt, welche Abreibung als strafbare Handlung ausweisen beziehungsweise Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbieten – wozu aber de facto auch nur Informationen darüber gezählt werden.

Beispielbild
Die Gegendemonstration stand unter dem Motto "Sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht – Leben und Lieben ohne Bevormundung" (© Frank Nicolai)

Zu den Rednerinnen zählte die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) Elke Hannack, die klare Worte und viel Zustimmung fand: "Wer (…) unterstellt, Frauen seien so oberflächlich, pflichtvergessen, verantwortungslos, dass sie ihre Schwangerschaft beenden, weil die Werbung ein gutes Angebot verspricht, der hat sie doch nicht mehr alle!", erklärte sie unter Jubel und fragte in Richtung von Kirchen und AfD (ohne sie namentlich zu nennen): "Wo sind denn die, die heute für das Recht auf Leben für alle Menschen (…) auf die Straße gehen, wenn Kriege angezettelt werden oder Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend im Mittelmeer ertrinken, wo ist die Stimme derer (…), wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch an und Vergewaltigung von Kindern auch im eigenen Laden zu verhindern?" Die auf Grundlage von Paragraph 219a frisch angezeigte Berliner Frauenärztin Bettina Gaber bekundete unter Beifall, dass sie den Hinweis auf einen "medikamentösen, narkosefreien Schwangerschaftsabbruch" auf ihrer Website belassen werde und wenn nötig auch bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen werde. "Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der wir selbst entscheiden können, ob und wann wir Kinder bekommen und mit wem, wen wir lieben, was unser Geschlecht ist und wie wir leben", ist die klare Position des Bündnisses, das unter anderem von Gregor Gysi (Die Linke) und Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) unterstützt wird. Abtreibungen seien ein ganz normaler Bestandteil von Biographien und als Teil der Familienplanung zu betrachten. Die Demonstranten skandierten: "My body, my choice – raise your voice".

Doch nicht nur hinter dem Brandenburger Tor hatten sich die Befürworter der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen versammelt, auch vor dem Bahnhof war eine Gegendemo angemeldet, in Hörweite der Auftaktkundgebung des "Marsches für das Leben". Und die nutzten sie – mit Pfiffen, Gesang ("Wir sind die homosexuellen Frauen") und Sprechchören waren sie während der Redebeiträge deutlich zu hören. Als die weißen Kreuze an die "Lebensschützer" ausgegeben wurden und sie sich in Bewegung setzten, folgte ihnen die bunte Meute, die sich für sexuelle Selbstbestimmung einsetzt. Auf einer Treppe unweit des Hauptbahnhofs riefen sie den schweigenden Kreuzträgern, die unter ihnen vorbeizogen, "Hätt' Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben", "Mittelalter, Mittelalter, hey, hey!" oder "Eure Kinder werden so wie wir" zu. Was auffiel: Die Pro-Choice-Aktivisten waren deutlich kreativer, hatten ihre eigenen Schilder gebastelt, sich teilweise kostümiert. Die Marsch-Besucher trugen zum ganz überwiegenden Teil die vom Veranstalter ausgegebenen Materialien – hellgrüne Schilder, hellgrüne Luftballons und eben besagte Kreuze.

Beispielbild
Abtreibungsgegner und Entscheidungsbefürworter treffen aufeinander (© Gisa Bodenstein)

Ich selbst habe auch ein Schild dabei – "It is still every woman's own choice. Not yours." steht darauf. Damit habe ich mich unter die Lebensschützer gemischt, um zu sehen, wie sie darauf reagieren. Viele verstehen es nicht. Es ist auf Englisch. Während die Legalisierungs-Befürworter ihren Protest selbst zum Teil englischsprachig gestalten, stößt man hier häufig auf Unverständnis – und das, obwohl sich die Pro-Life-Bewegung redlich bemüht, sich jung und international zu präsentieren. Das Nicht-Verstehen hat kuriose Folgen: Menschen helfen mir, wenn der Wind mein Schild mal wieder vom Fahrrad reißt, wenn sie sich dann erkundigen, was da denn drauf stehe, wenden sie sich irritiert und enttäuscht von mir ab. Andere Lebensrechtler verstehen die Botschaft gleich, wollen, dass ich gehe oder reden unentwegt auf mich ein, obwohl ich sage, dass ich jetzt gerne den Rednern zuhören möchte. Als ich der Treppe mit den Pro-Choice-Protestlern gegenüber stehe, gesellt sich ein älterer Herr zu mir. Schlimm findet er die, sagt er, das seien Christenhasser. Die Frage nach dem Warum bleibt lange unbeantwortet. Die würden ihre Homosexualität zur Schau stellen, sagt er schließlich. Und was denn gewesen wäre, wenn Maria wirklich abgetrieben und es Jesus nie gegeben hätte!

Entlang der Strecke trifft man immer wieder auf kleine Grüppchen von Gegendemonstranten, die oft auch verbal aggressiv auftreten. "Haut ab!", "Verpisst euch!" oder "Fahrt zur Hölle!" rufen sie den Kreuzträgern zu. Die Stimmung ist emotional aufgeladen, das Thema polarisiert die Stadt. Die taz berichtet von einer Sitzblockade, ein Sprecher der Berliner Polizei bestätigte dies auf Nachfrage gegenüber dem hpd. Etwa 70 Personen seien daran beteiligt gewesen, Versuche von weiteren Sitzblockaden habe es immer wieder gegeben. Der Schweigemarsch sei dadurch zwar ins Stocken gekommen, aber nicht aufgehalten worden. Außerdem hätten Gegenprotestanten auf dem Washingtonplatz einen Farbtopf gezündet. Insgesamt seien die Aktionen auf beiden Seiten aber noch als "überwiegend störungsfrei" zu bewerten. Mir reißt ein Legalisierungs-Befürworter einmal das Schild vom Fahrrad – um es dann verschämt wieder anzubringen, als er es gelesen hat.

Auf Höhe der Museumsinsel wird mein Experiment dann abrupt beendet. Nachdem alle Polizeibeamten zuvor kein Problem damit hatten, baut sich jetzt ein junger Mann in Uniform vor mir auf und lässt mich nicht weiter mitlaufen. Als ich ihm erkläre, was ich hier mache, entgegnet er mit einem süffisanten Lächeln, das sei "unglaubwürdig". Meinen Redaktionsausweis akzeptiert er als erster Beamter nicht. Er habe jetzt auch keine Lust, mir zuzuhören und keine Zeit, die Richtigkeit meiner Aussagen zu überprüfen. Als ich ihn nach seinem Namen frage, nennt er einen offensichtlich falschen. Auch sein Vorgesetzter lässt mich nicht weiter. Der Hinweis auf die geltende Pressefreiheit beeindruckt ihn nicht. Also überlasse ich die Träger von "Nazis abtreiben"- und "Töten ist keine ärztliche Kunst"-Schildern sich selbst.