Beschneidungsdebatte

"Eine Kinderrechtsverletzung definiert sich danach, was mit einem Kind passiert"

Vergangene Woche wurde in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee über das Thema Beschneidung diskutiert. Die mitwirkenden Organisationen stellten die Anliegen ihrer Kampagne "Mein Körper – unversehrt und selbstbestimmt" vor und machten auf die Problematiken von Genitaleingriffen bei den verschiedenen Geschlechtern aufmerksam.

"Mein Körper – unversehrt und selbstbestimmt" ist eine Kampagne, die sich gegen Genitaleingriffe bei Kindern aller Geschlechter richtet. Vertreter der drei daran beteiligten Organisationen – Terres des Femmes – Menschenrechte für die Frau, Mogis – eine Stimme für Betroffene und 100% Mensch – kamen an diesem Abend in der liberalen Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zusammen. Gründerin und Leiterin des liberalen Gotteshauses, Seyran Ateş, saß selbst ebenfalls auf dem Podium. Gislinde Nauy, Theater- und Religionswissenschaftlerin übernahm die Moderation. Die drei Initiativen verfolgen unterschiedliche Ansätze: Während sich Terres des Femmes vor allem gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzt, will Mogis diese auch bei Jungen und Männern abschaffen. Die LGBTIQA*-Organisation 100% Mensch wendet sich gegen genital-angleichende Operationen bei Menschen, deren Geschlecht weder eindeutig männlich noch weiblich ist.

Holger Edmaier
Holger Edmaier, 100% Mensch (Foto: Evelin Frerk)

Über sexuelle Orientierung könne man mittlerweile relativ frei und offen reden, begann Holger Edmaier, Geschäftsführer der Organisation 100% Mensch, wohingegen das Thema Geschlecht immer noch stark tabuisiert würde, was auf das noch immer stark verhaftete binäre System (männlich-weiblich) bei der Vorstellung von Geschlechtern zurückzuführen sei. Die Wissenschaft sei hier schon viel weiter. "Aus dem Bedürfnis heraus, eine Eindeutigkeit herzustellen, gibt es momentan in Deutschland bis zu 1.700 genital-normierende Operationen an intergeschlechtlichen Kindern im Jahr und das sind einfach reinste Menschenrechtsverletzungen." Sie führten zu "wahnsinnigen Traumatisierungen". Auch könne man zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wissen, wie sich das Geschlechtsbewusstsein des Kindes manifestiere. Wichtig sei in der Debatte eine Unterscheidung zwischen Genital und Geschlecht: "Genital hat nichts mit Geschlecht zu tun. Das Genital sitzt zwischen den Beinen, das Geschlecht sitzt zwischen den Ohren", stellte er klar. Bei der Anerkennung, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, sei die Wirtschaft schneller gewesen als die Gesetzgebung. Nun stehe im Koalitionsvertrag, dass genital-normierende Operationen an Intersex-Kindern verboten werden sollen.

Katharina Vater
Katharina Vater, 100% Mensch (Foto: Evelin Frerk)

Katharina Vater, Referentin für Intergeschlechtlichkeit und trans* bei 100% Mensch, leitete ihr Statement mit einer Alltagserfahrung ein: Immer werde sie gefragt, ob sie ihre OP schon gehabt hätte. Sie sei mehr Sensation als Mensch. Die Frage nach ihren Genitalien erscheine den Menschen legitim, obwohl das niemanden etwas angehe. "Ich war nie ein Mann, ich war schon immer eine Frau, und für meine Genitalien, die ich von Geburt an hatte, kann ich nichts. (…) Für Menschen, die nicht (…) diese Problematik haben, ist es sehr schwer, das nachvollziehen zu können, aber jeder hat ein Bewusstsein darüber, wer und was er ist."

Charlotte Weil
Charlotte Weil, Terres des Femmes (Foto: Evelin Frerk)

"Man kann mittlerweile über weibliche Genitalverstümmelung reden, aber es war auch ein sehr langer Weg dahin", sagte Charlotte Weil, Referentin zu weiblicher Genitalverstümmelung bei Terres des Femmes. Obwohl es viel Gegenwind gab, indem die Praxis als Tradition und Teil von Kulturen verteidigt wurde, sei sie nun in vielen Ländern gesetzlich verboten und als Menschenrechtsverletzung anerkannt. Trotzdem sei es nach wie vor ein globales Problem und werde in den verschiedensten Teilen der Welt praktiziert. Mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen seien weltweit betroffen, in Deutschland gehe es um mehr als 70.000 – das entsprechende Gesetz wurde hierzulande erst 2013 verabschiedet. Aktuell gebe es eine Entwicklung hin zur medikalisierten Form der Genitalverstümmelung, also, dass diese von Gesundheitspersonal durchgeführt werde. Damit gehe eine Verharmlosung einher, bis hin zur Forderung nach einer Legalisierung.

Seyran Ateş
Seyran Ateş, Gründerin und Leiterin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee (Foto: Evelin Frerk)

Ein Beispiel dafür nannte Seyran Ateş: Die Rechtsanwältin sprach von einer Vortragenden auf dem feministischen Juristinnen-Tag 1998, die über die weibliche Genitalverstümmelung sagte, sie sei nicht absolut dagegen. Das sei unerträglich für sie gewesen. Seit damals habe sich in den Köpfen der Links-Liberalen nur wenig verändert. "Das ist ein Verrat am Feminismus, ein Verrat an Frauen, ein Verrat an Menschenrechten." Eine Beschneidung sei "zerstörend" für Frauen, für ihre Sexualität und ihr Körperbewusstsein. Aber es seien ja nicht nur die Frauen betroffen: Das Thema Jungenbeschneidung in islamischen Communities anzusprechen, sei in den Augen mancher bereits islamfeindlich. Im Islam sei es etwas anderes als im Judentum, nämlich lediglich eine Tradition.

Victor Schiering
Victor Schiering, Mogis (Foto: Evelin Frerk)

Hieran schloss Victor Schiering, Vorsitzender von Mogis, an: Auf Grund patriarchaler Vorstellungen hätten Männer es generell schwerer, in Kontexten der Verletzlichkeit wahrgenommen zu werden. Er selbst gehöre zur größten Betroffenheitsgruppe in Deutschland, nicht aufgrund eines religiösen Hintergrunds, sondern wegen einer medizinischen Falschdiagnose beschnitten worden zu sein. Das Verleugnen von Betroffenheit und Relativierungen seien in diesem Zusammenhang das größte Problem.

Nach den Eingangsstatements ging es um die Vorstellung der Kampagne: "Wir denken (…) vom Kind her", erklärte Victor Schiering. Einer der Grundsätze sei: "Eine Kinderrechtsverletzung definiert sich danach, was mit einem Kind passiert und nicht danach, was Erwachsene dabei denken." Wichtig sei in diesem Zusammenhang auch die Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes der Geschlechter: Es gebe mittlerweile viele, die sich gegen die weibliche Genitalverstümmelung aussprächen, oft hänge dem aber der Wunsch an, die männliche unbedingt legal zu halten. "Man muss sich entscheiden: Entweder wir erreichen alle zusammen mehr Kinderschutz für alle oder im Endeffekt weniger."

"Wenn man jemandem ein Auge ausschlägt, dann vermindert das die Sehkraft, das wird jeder nachvollziehen können. (…) Geschlechtsorgane haben wir zum Fühlen (…) und wenn man da was abschneidet, ohne das Einverständnis der betroffenen Person, dann nimmt man etwas von diesem Gefühl", fuhr der Mogis-Vorsitzende fort. Bei allen genital-verändernden Maßnahmen gehe es letztlich um Sexualfeindlichkeit. Bei Intersex-Kindern werde verhindert, dass sie ihr eigenes Genital später für sich entdecken und darüber bestimmen könnten. Jeder habe das Recht, sein eigenes Sexualpotenzial voll zu entdecken, völlig unabhängig von irgendeiner (Fortpflanzungs-)Funktion. Bei Gerichten und in den Medien trete aber immer wieder ein reaktionäres Denken zu Tage, anderen ihre Sexualität vorschreiben zu wollen und was die "normale Funktion" eines Penis sei.

Bei allen Genitaleingriffen versuche man, durch eine Normierung einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung gerecht zu werden, ergänzte Holger Edmaier. Oft werde den Kindern eine Intergeschlechtlichkeit sogar verheimlicht. Wir müssten dahin kommen, dass sich die Gesellschaft umgekehrt den existierenden Genitalien anpasse. Seyran Ateş brachte die Rolle der Religion ins Spiel: Sie sei ein Machtinstrument, das oft benutzt werde, um Sexualität zu kontrollieren.

Ein wichtiges Anliegen der Kampagne sei der Minderheitenschutz, erläuterte Charlotte Weil. Das gelte nicht nur für Trans- und Intersex-Personen oder beschnittene männliche Personen, sondern auch für Menschen, die aus praktizierenden Communities kämen und sich dagegen entschieden, ein Mädchen verstümmeln zu lassen. Ebenso für Mädchen, die vor einem Genitaleingriff fliehen oder Männer, die an den Folgen einer Beschneidung leiden. "Wir wollen (…) diesen Minderheiten eine Stimme geben."

Im Rahmen der Kampagne wurde ein Flyer mit "15 Fragen an die Politik in Deutschland" an sämtliche Bundestagsabgeordnete "des demokratischen Spektrums", wie es der Geschäftsführer von 100% Mensch formulierte, geschickt, mit der Aufforderung, bis zum 8. November darauf zu antworten. Sie wollten die Politiker dazu bringen, das Thema endlich anzugehen. Paragraph 1631d ("Beschneidung des männlichen Kindes") sei das einzige Gesetz, das die Gesundheit der Gesellschaft betreffe und nicht auf Folgen und Wirksamkeit evaluiert werde. "Ausgesprochen problematisch" findet er die Haltung vieler Politiker, in dieser Frage keine Stellung beziehen zu wollen.

Lena Nyhus
Lena Nyhus, intact Denmark (Foto: Evelin Frerk)

In der Fragerunde meldete sich eine Flüchtlingshelferin zu Wort, die vorschlug, entsprechende gesundheitliche Aufklärung über die Folgen von Genitalverstümmelung in die vorgeschriebenen Integrationskurse einzubinden, was von einer Leiterin von Integrationskursen unterstützt wurde. Anschließend kam noch ein Gast aus Dänemark zu Wort: Lena Nyhus, die Vorsitzende von intact in Dänemark, berichtete, dass in ihrem Land gerade über ein von ihrer Organisation angestoßenes Gesetz beraten wird, das Genitaleingriffe generell erst ab 18 Jahren erlaubt. "Die Debatte (…) findet auf der ganzen Welt statt", wusste sie zu berichten.

Gislinde Nauy
Moderatorin Gislinde Nauy (Foto: Evelin Frerk)

In der Abschlussrunde verlas Moderatorin Gislinde Nauy noch ein schriftliches Statement von Lala Süsskind, Vorsitzende des jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus, die kurzfristig aus terminlichen Gründen abgesagt hatte. Die Beschneidung von Jungen gehöre "zum Wesen des Judentums" hieß es darin. Die Beschneidungsdebatte habe sie "wütend", die Gleichstellung mit der Genitalverstümmelung bei Frauen habe sie "fassungslos" gemacht. Sowohl ihr Mann als auch ihre Enkelsöhne seien beschnitten und wohlauf und hätten "weder einen gesundheitlichen noch seelischen Schaden erlitten." Auf die ihr gestellten Fragen war sie nicht eingegangen.