Stuttgarter Zeitungen diskriminieren nicht-religiöse Weltanschauungen

Werbung darf nicht atheistisch sein

Weltanschauungsgemeinschaften und Religionsgemeinschaften sind seit 1919 gleichgestellt, da Letztere keine besonderen Privilegien gegenüber anderen Gruppierungen mehr haben sollten. Aber die Gleichstellung lässt in der Praxis noch zu wünschen übrig. Religiosität und Kirchen begegnet man mit Toleranz und Achtsamkeit. Dass viele Menschen still und unauffällig nicht religiös sind, ist gesellschaftlich akzeptiert. Wenn diese aber für ihre Nicht-Religiosität Aufmerksamkeit und eine angemessene Berücksichtigung – in der Presse, der Politik und der Öffentlichkeit – fordern, ist das eine Herausforderung. Die Sensibilität für religiöse Gefühle und Empfindlichkeiten ist immer noch stark ausgeprägt, während für die religiöse Belästigung von Nichtreligiösen Toleranz erwartet wird und keine Sensibilität vorhanden ist.

In der Praxis stößt man auf deutlich unterschiedliche Behandlungen von Weltanschauungen und Religionen. Bei religiösen Weltanschauungen sind Kritik und Hinterfragung tabu, während Missionierung ein zentrales Anliegen ist. Man will andere Menschen von seiner persönlichen Weltanschauung überzeugen. Wer hingegen nicht religiös ist, von dem wird erwartet, dass Religiosität respektiert und nicht in Frage gestellt wird. Wir Nicht-Gläubige wollen Gleichbehandlung, ein Ende der privilegierten Behandlung christlicher Kirchen in unserem Land und die Beendigung der an vielen Stellen etablierten "Christen zuerst"-Praxis.

Was ist der Unterschied zwischen einem Plakat mit der Überschrift "Gott ist Liebe" und einem Plakat mit der Überschrift "Gott existiert nicht"? Das erste wird akzeptiert, das zweite wird abgelehnt – meist mit fadenscheinigen Begründungen. Weil angeblich Religiöse diskriminiert, boykottiert oder herabgewürdigt werden. "Religiöse Gefühle" beruhen auf Überzeugungen, die man nicht erklären und rational begründen kann. Sie sind sakrosankt und Religiöse erwarten gewohnheitsgemäß besonderen Schutz. Das ist die gesellschaftliche Realität, die auch durch die Medien nicht in Frage gestellt wird. Kritik der Kirche und Religion ist ein Tabu. Gläubige sind Kritik religiöser Überzeugungen nicht gewohnt und können damit schlecht umgehen. Verletzt wird man von Argumenten, wenn man selber sprachlos oder diskursunfähig ist. Historisch hat der Gotteslästerungsparagraph 166 StGB Kritik unterbunden und Kritiker zum Schweigen gebracht. Allein die Existenz des überholten religiösen Paragraphen bewirkt, dass Religionskritik den Ruch des Strafbaren innehat. In Ländern mit einer strikteren Trennung von Kirche und Staat, zum Beispiel Frankreich, scheint es leichter zu sein, "Gott existiert nicht" ("Dieu n'existe pas!") zu plakatieren.

Stuttgarter Zeitung lehnt Werbeanzeige ab

Plakat "Dieu n'existe pas!"
Litfaßsäule in Colmar
(Foto: © Werner Koch)

Mit einer Anzeige in der Stuttgarter Zeitung wollte die gbs Stuttgart/Mittlerer Neckar auf sich aufmerksam machen und für den Kirchenaustritt werben (siehe Titelbild). Nach dem ersten Anruf in der Anzeigenabteilung der Stuttgarter Zeitung war absehbar, dass die Veröffentlichung kritisch betrachtet wird und wir haben eine zweite Version ohne den Titel "Austreten, jetzt!" als Alternative vorgeschlagen. Die Überschrift der zweiten Karikatur "Freiheit – Der 'Herr' ist kein Hirte und ich bin kein Schaf" spielt auf die Missbrauchsskandale der Kirchen an. Bei weiteren Telefongesprächen mit der Anzeigenabteilung der Stuttgarter Zeitung fielen Sätze wie: "Die Anzeige wird dem Management vorgelegt, um sicherzustellen, dass Anzeigen nicht Prinzipien widersprechen"; "Deutschland ist ein christliches Land"; die Anzeige "verstößt gegen die Ausrichtung der Zeitung. Das ist eine unternehmenspolitische Entscheidung". Wir haben darauf bestanden, die Ablehnung der Werbung nicht nur telefonisch, sondern schriftlich zu erhalten und haben das Management der Anzeigenabteilung kontaktiert. Die endgültige Ablehnung hat uns der Leiter der Werbevermarktung der Stuttgarter Zeitung am 13. Januar 2021 mitgeteilt:

"Meine Verantwortung in der Vermarktungsorganisation Stuttgarter Zeitung Werbevermarktung GmbH ist zunächst zu prüfen, ob eine Anzeige gegen geltende Grundrechte verstößt. Ausdrücklich bewerte ich Ihre Karikaturen nicht als rechtswidrig.
Die von Herrn F. zuletzt am 30.12. mitgeteilte Entscheidung, die Anzeige mit Karikatur und dem Aufruf aus der Kirche auszutreten, bzw. der Herr ist kein Hirte und ich bin kein Schaf, hat dennoch weiterhin Bestand. Die Erwägung bezieht sich darauf, dass wir christliche, der Kirche aus Überzeugung beigetretene/r Leser*innen nicht das suggerieren möchten, was das Motiv aussagt.
Wir respektieren jede Form der friedlichen Religiosität in unserer Leserschaft und möchten keinen Einfluss durch Austrittsappelle auf diese persönliche Entscheidung eines jeden Individuums nehmen."

Die Stuttgarter Zeitungen sind nach eigenem Bekunden säkular, weltoffen und unabhängig – eine Behauptung, die schwer zu widerlegen ist. Die Zeitungen sind definitiv nicht weltanschaulich neutral, sondern haben eine religiöse Schlagseite. Die Stuttgarter Zeitung(en) sind kirchennah und fühlen sich den Kirchen und den christlichen Lesern verpflichtet. Konfessionsfreie Leser scheinen für sie keine relevante Gruppe zu sein. Vielleicht wird auch bewusst Organisationen wie der gbs, die eine nicht-religiöse Weltanschauung vertreten, die gottlos sind und Agnostikern, Atheisten und Humanisten nahestehen, kein Raum eingeräumt. Dieses Verhalten ist diskriminierend. Gleichzeitig veröffentlicht die Stuttgarter Zeitung regelmäßig religiöse Nachrichten, sowohl interessante als auch unwichtige Meldungen von kirchlichen Pressediensten wie epd, kna etc. Auch fragwürdige Nachrichten, wonach die mehrheitlich konfessionsfreien Bürger der Stadt Stuttgart doch irgendwie religiös zu vereinnahmen sind, werden unkritisch übernommen, wie jüngst die Veröffentlichung "Atlas der Religionen für Stuttgart – Der Glaube ist so bunt wie die Stadt selbst" zur Religiosität der Stuttgarter vom 20. Oktober 2020 exemplarisch zeigte: Auf einer Doppelseite übernahm die Zeitung die Pressemitteilung des "Rats der Religionen" mit dem Tenor: "Nur jeder vierte Stuttgarter bezeichne sich als nicht religiös." Leserbriefe und eine Klarstellung durch eine Pressemitteilung der gbs Stuttgart mit dem Hinweis auf eine ausführliche Analyse des Stuttgarter Atlas der Religionen durch die Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) hat zu keiner weiteren Meldung in den Stuttgarter Zeitungen geführt.

Vielleicht ist es aber auch nur eine Frage der Zeit, bis Anliegen der Säkularen berücksichtigt werden. Viele Entscheider in den Medien sind in einer Zeit sozialisiert und politisiert worden, in der nicht-religiöse Menschen noch in einer heillosen Minderheit waren. Die Hoffnung besteht, so der Koordinierungsrat säkularer Organisationen (KORSO), dass der säkulare Aufbruch kommt – wenn auch mit Verzögerung. Das hoffen wir auch in der Region Stuttgart.

Das Anliegen der gbs Stuttgart

Es ist nicht leicht, für die Interessen säkularer Bürger Aufmerksamkeit zu erhalten. Die Vielfalt der Weltanschauungen nimmt zu, die Religiosität nimmt ab, der politische Einfluss der Kirchen aber wächst. Das sieht der katholische Journalist Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung so, ebenso Prof. Dr. Thomas Großbölting, Historiker und Forscher des Exzellenzclusters "Religion und Politik" der Uni Münster, der 2013 das Buch "Der verlorene Himmel – Glaube in Deutschland seit 1945" veröffentlicht hat.

Die Anliegen der säkularen und konfessionsfreien Bürger sind legitim und man muss Wege finden, sie in die Öffentlichkeit und Politik zu bringen. Die Regionalgruppe Stuttgart der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) hat einen Artikel auf ihrer Webseite veröffentlicht und wollte mit einer Karikatur des bekannten Düsseldorfer Künstlers, Wagenbauers und Karikaturisten Jacques Tilly in den Stuttgarter Zeitungen Diskussionen auslösen. Die Werbeanzeige und der zugehörige Bericht auf der Webseite der gbs Stuttgart sollten darauf hinweisen, dass die Interessen konfessionsfreier Bürger kaum wahrgenommen und diese nicht angemessen in den Medien und in der Politik zur Kenntnis genommen werden:

Warum gibt es in den Parlamenten Religionsbeauftragte und keine Weltanschauungsbeauftragte?

Warum gibt es exklusive Runde Tische der Religionen – die Weltanschauungen ausschließen?

Warum gibt es in deutschen Parlamenten Berichte über die weltweite Christenverfolgung, nicht aber über die Verfolgung von Atheisten und Apostaten (der vom Glauben abgefallenen), die in muslimischen Ländern in größerer Zahl verfolgt werden?

Die Anzeige und das dahinterstehende Anliegen thematisiert ein grundsätzliches Problem, dasselbe Problem, das auch die Ablehnung der Werbungsanzeige deutlich macht: Die Kirchen haben trotz aller Verfehlungen und trotz Mitglieder- und Bedeutungsschwunds weiterhin ungebührlich viel Pressepräsenz und Einfluss auf die Politik. Die immer weiter wachsende Bevölkerungsgruppe der Konfessionsfreien hingegen wird von Politik und Medien übersehen und übergangen. In Stuttgart bilden die Konfessionsfreien die größte Bevölkerungsgruppe. Die Mitgliedschaft der christlichen Kirchen hat 2018 die Marke von 50 Prozent unterschritten und dürfte aktuell bei ca. 45 Prozent liegen.

Bibelverse in der S-Bahn

Während die religionskritische Werbeanzeige in der Stuttgarter Zeitung abgelehnt wurde und die Giordano-Bruno-Stiftung bei den Buskampagnen 2009 und 2019 bereits ähnliche Erfahrungen gemacht hatte (2009 haben Verkehrsbetriebe das Plakat "Es gibt keinen Gott…" abgelehnt, Anfang Mai 2019 hat die Deutsche Bahn Großplakate zur Bewerbung der "Säkularen Buskampagne" in den Berliner Bahnhöfen untersagt), wird in der S-Bahn der Region Stuttgart mit Bibelversen geworben.

Bibelvers am S-Bahn-Fenster
Bibelvers in der S-Bahn der Region Stuttgart (Foto: © Werner Koch)

In einer Pressemitteilung der Fraktion "Die Linke/Pirat" der Regionalversammlung Stuttgart wird eine Berichterstattung über die Plakatmission in der S-Bahn beantragt. Die Pressemitteilung kritisiert die Bibelzitat-Plakate der Süddeutschen Plakatmission im ÖPNV: "Im öffentlichen Nahverkehr sollten die Nutzer nicht ungewollt mit dogmatischen Bibelzitaten konfrontiert werden, die ihre eigenen religiösen oder weltanschaulichen Empfindungen herabsetzen" und: "Werbebotschaften im ÖPNV dürfen nicht dazu genutzt werden, eine spezielle religiöse Überzeugung als Leitkultur darzustellen und für sie zu missionieren."

Die Regionalfraktion der CDU/ÖDP reagierte darauf mit der Aussage: "Bibelverse in S-Bahnen sind erwünscht." Ähnlich reagiert der Evangelische Arbeitskreis der CDU (EAK): "Mut machende Bibelsprüche dürfen nicht verboten werden!" Aus Sicht des EAK würden die von den Linken beanstandeten Bibelsprüche "vielen Menschen Kraft und Hoffnung geben". Diese Form der Werbung der Süddeutschen Plakatmission würde niemanden ausgrenzen.

Sollte man missionierende Kirchenwerbung einschränken oder verbieten?

Die gbs Stuttgart steht der Missionierung kritisch gegenüber und sieht es ähnlich wie Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Die Vorstellung, dass eine Religion durch Mission möglichst umfassend verbreitet werden soll, hielt Helmut Schmidt für zunehmend gefährlich. Der christliche Missionsgedanke habe "unermessliches Leid über die Menschen gebracht", schrieb er in dem Buch "Was ich noch sagen wollte" (C. H. Beck-Verlag/München).

Bei der Werbung für Missionierung dürfte es schwer sein, allgemeingültige Grenzen festzulegen, die bei einer Überschreitung zu Ablehnung oder Verbot führen. Die Maßstäbe können subjektiv sehr unterschiedlich interpretiert werden. Wer die Freiheit einschränkt, kommt schnell in die Gefahr, ein totalitäres Regime zu ermöglichen. Sinnvoller als ein Verbot der Missionierung erscheint uns, irritierende Werbung mit Bibelzitaten zu ignorieren oder darüber aufzuklären und zu widersprechen.

Wer für einen Glauben missioniert, wendet sich gegen die Weltanschauung von Atheisten. Das wird akzeptiert. Dann müssten Atheisten auch für ein rationales Weltbild ohne spekulative, unsichtbare Wesenheiten werben dürfen. Im Sinne der Meinungsfreiheit stimmen wir der Forderung des Evangelischen Arbeitskreises der CDU zu: Werbung mit Bibelsprüchen sollte nicht verboten werden. Das Gleiche gilt aber auch für religionskritische Werbung. Die grenzt auch niemanden aus. Alle Menschen sind eingeladen, Humanisten zu werden und den Mut zu haben, sich von unbegründeten Hoffnungen auf einen posthumen Fortbestand der eigenen Existenz zu befreien.

Blasphemie-Paragraph abschaffen

Wir begrüßen die Sensibilität der Fraktion "Die Linke/Pirat" für religiöse und weltanschauliche Empfindungen, denen die Allgemeinheit ausgesetzt wird. Die breite Öffentlichkeit ist leider überwiegend einseitig sensibilisiert. Historisch haben sich die Kirchen dafür eingesetzt, dass "religiöse Gefühle" unter einen besonderen Schutz gestellt werden, um Kirchen und Gläubige vor Kritik zu schützen. Die Strafandrohung des "Blasphemie-Paragraphen" 166 StGB weckt zudem bei manchen den Eindruck, dass es sich bei Menschen, die sich kritisch zur Religion äußern oder Karikaturen zeichnen, um Straftäter handelt. Die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) und das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) plädieren aus guten Gründen für die Abschaffung des Gotteslästerungsparagraphen. Der einseitige Schutz religiöser Gefühle könnte ein Grund sein, dass die Allgemeinheit an Kirchenwerbung gewöhnt ist, während bei kirchenkritischer Berichterstattung oder Werbung eine erhöhte kritische Aufmerksamkeit festzustellen ist.

Es ist nicht akzeptabel, dass öffentliche Medien, wie die Stuttgarter Zeitung, die ein örtliches Monopol haben, eine Zeitungsanzeige ablehnen können, weil sie sensibel die religiösen Gefühle der Leser einer religiösen Weltanschauung schützen und die jener mit nicht-religiösen Weltanschauungen diskriminieren. Werbung, die rechtlich nicht zu beanstanden ist und nach allgemeinen Maßstäben nicht diskriminierend, diffamierend oder sexistisch ist, darf nicht ohne weiteres abgelehnt werden. Dass sich religiöse Leser daran stoßen, das kann sein – vielleicht sind die Pietisten im Raum Stuttgart sogar besonders empfindlich. Aber das gehört zur Meinungsfreiheit, die auch religiöse Bürger aushalten müssen.

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