Das Beben von Lissabon

Der Zorn Gottes?

Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 ist bis heute die folgenreichste Naturkatastrophe, die Europa in der Neuzeit widerfuhr. Nicht nur die Erde bebte, sondern auch die traditionelle christliche Lehre geriet im Innersten ins Wanken. Das Inferno löste in ganz Europa Schockwellen aus und setzte der vorherrschen optimistischen Grundstimmung ein Ende. Moderner europäischer Säkularismus und Pessimismus wurzeln zu einem Gutteil in der Naturkatastrophe vor 269 Jahren.

Als die katholischen Kirchen Lissabons mit Gläubigen vollbesetzt waren, um der Heiligen und vorbildlichen Nachfolger Christi zu gedenken, bebte am Vormittag des 1. November 1755 die Erde. Ein Zusammen aus Erderschütterung, Monsterwelle und Feuersturm zerstörte an diesem Samstag die reichste und prächtigste Stadt Europas zu rund 90 Prozent. Etwa 60.000 Menschen, beinahe ein Viertel der Bevölkerung der portugiesischen Hauptstadt, fanden innerhalb weniger Stunden den Tod.

Unter dem Eindruck des Geschehens schrieb Voltaire seinen Candide. Mit beißendem Spott setzt er sich darin mit der Grundthese der Theodizee von Leibniz auseinander, der zufolge wir in der besten aller möglichen Welten lebten. Denn diese wurde, so der christliche deutsche Philosoph, von einem gütigen Gott geschaffen, der aus den vielen Möglichkeiten nur das Beste wählte. Somit ist das, was uns als Übel erscheinen mag, bei richtiger metaphysischer Betrachtung etwas Positives und notwendig zur Verwirklichung eines von Gott geplanten vollkommenen Endzustands.

Ganz anders der französische Aufklärer. Laut Voltaire ist eine Naturkatastrophe schlichtweg schrecklich und dient keiner übergeordneten Vollendung. Vielmehr ist sie ein funktionsloses Geschehen, das nichts als Leid bringt und aus dem sich kein höherer Sinn pressen lässt. Beschönigt man das allgemeine Elend noch durch Leersätze wie 'Alles ist letztlich gut', so vergrößert man noch die Übel der Welt, so Voltaire.

Als besonders verwirrend empfanden Gläubige, speziell Katholiken, den Umstand, dass Portugal – vielleicht mit Ausnahme des Kirchenstaates – Europas katholischstes Land war. Durch eifrige Missionstätigkeit hatten Portugiesen zur Verbreitung des Christentums enorm beigetragen. Dass noch heute viele Südamerikaner und Afrikaner glauben, der Heiden Heiland habe auch für sie gelitten und sei auch für sie gestorben, ist vielfach der Tätigkeit portugiesischer Missionare geschuldet. Zudem war die Bevölkerung Lissabons durchaus fromm, was sich nicht zuletzt an der großen Zahl an Kirchen, Klöstern und Klerikern zeigte. Neben den Spaniern waren sie die treuesten Töchter der römischen Kirche und Zentrum einer furchterregenden Inquisition, die mit Folter und Scheiterhaufen über die Reinheit der Lehre wachte. Auch an eben jenem Wochenende, als sich das Beben ereignete, war als Höhepunkt der Feierlichkeiten und als Zeichen ihrer Macht über Leben und Tod eine Verbrennung nicht-katholischer Ketzer geplant. Diese wollten oftmals genau das, was für ein demokratischeres Zusammenleben grundlegend ist, Gedanken- und Religionsfreiheit beispielsweise.

Aber trotz aller Bekundungen bedingungslosen Gehorsams gegenüber der Kirche Roms wurden am Allerheiligentag des Jahres 1755 Lissabons prunkvolle Gotteshäuser für viele Kirchgänger zur tödlichen Falle. Mehr als in Privathäusern starben an diesem Vormittag Gläubige unter Kirchengewölben.

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Warum ließ der Schöpfer, der alles weiß und stets gegenwärtig ist, solches zu? Weshalb beließ der angeblich Gütige und Barmherzige, während seine Ebenbilder in höchster Not um Hilfe flehten, es beim neugierigen Zusehen? Keinen Arzt betrachteten wir als wohlwollend, der teilnahmslos seine Patienten fürchterlichste Qualen ertragen lässt, obwohl er problemlos helfen könnte. Der Schöpfer aber, der sogar alle Macht besitzt, soll trotz ähnlich trägen Nichtstuns gütig und gerecht sein?

Die traditionelle Antwort auf diese aufwühlenden Fragen lautet, dass Naturkatastrophen Gottes Strafe für unsere Vergehen seien. Hätten Menschen sich an göttliche Gebote gehalten, wäre ihnen dieses Inferno erspart geblieben. Aber da sie fehlten, hat der erzürnte Gott die Menschen – und gleich auch andere unschuldige Lebewesen – bestraft, wie einst durch die Sintflut. Menschliche Sünden sind der Anlass, Gottes Zorn ist die gerechte Ursache des Bebens!

Von der Straftheologie überzeugt, stiegen Priester nach der Katastrophe über die Trümmerfelder Lissabons und streckten Überlebenden das Kreuz entgegen mit der Aufforderung, sich niederzuknien und Buße zu tun. Die meisten gehorchten, aber als Staub- und Rauchwolken sich verzogen hatten, lag auch das höchst Zweifelhafte der klerikalen Botschaft offen zutage – die Tatsache nämlich, dass Naturkatastrophen unerträglich ungerecht sind, töten sie doch unterschiedslos, ob Tier, ob Kind, ob Inquisitor, ob Folteropfer. Wohl niemand, der der christlichen Lehre unkundig ist, käme auf die Idee, dass Naturkatastrophen das Werk eines gerechten Gottes seien.

Zweifel wie diese rüttelten an den Grundfesten des Glaubens. Denn nur ein gerechter Gott vermag ausgleichende Gerechtigkeit zu üben. Die Verheißung, dass es den Mühseligen und Beladenen künftighin besser gehen werde, macht nur dann Sinn, wenn ein gerechter Gott existiert. Aber wie das Diesseits mit der mangelnden Entsprechung von Verdienst und Wohlergehen deutlich macht, gibt es keine Hinweise dafür, dass der Schöpfer alles dessen gerecht oder gar barmherzig wäre.

Aufgrund der Katastrophe von Lissabon und der vielen Bedenken geriet das Christentum in eine fundamentale Krise. Beben und Misstrauen brachten Kirchen, Klöster und schließlich ganze Glaubensgebäude zum Einsturz. Dass inzwischen auch die selbsternannten Stellvertreter Gottes auf Erden ihrem Chef nicht so recht trauen, verrät das gepanzerte Papamobil. Nach der durch Menschenhand gesicherten Anreise fordern Päpste in ihren Predigten von Gläubigen freilich weiterhin Vertrauen in den Allmächtigen – so, als wäre nichts geschehen.

Weiterführend: Gerhard Streminger: Die Welt gerät ins Wanken. Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 und seine Nachwirkungen auf das europäische Geistesleben. Ein literarischer Essay. Aschaffenburg 2021, Alibri Verlag

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