BERLIN/GLÜCKSTADT. (hpd) Eine Wanderausstellung entstand in Schleswig-Holstein über das Landesfürsorgeheim Glückstadt und ist auf dem Weg. Begleitet von einem Buch und öffentlichen Reden führt sie zurück in die frühen Jahre der Bundesrepublik, legt Erkenntnisse und Emotionen offen, die ausgehalten werden müssen.
Es ist die Geschichte, warum Rolf Breitfeld es für notwendig hielt, am 26. September 2010 in Glückstadt/Elbe, Jungfernstieg 1 die Gedenktafel um ein Transparent zu ergänzen und damit nicht nur auf diese eine Geschichtsfälschung aufmerksam machen will. Er will, dass nicht vergessen wird! Dieses Haus war von 1949 bis zum Abriss 1974 „Landesfürsorgeheim“ und er selbst ist einer der „Ehemaligen“. Einige sagen dazu „Fürsorgezögling“, andere „Bewohner“. Rolf Breitfeld jedenfalls wurde 1965 dort eingewiesen, 1966 entlassen und überlebte im Gegensatz zu sechs anderen jungen Menschen, die zwischen 1956 und 1973 ihrem Leben durch Suizid ein Ende setzten und einen Fürsorgezögling, der auf der Flucht aus dem Heim durch einen Gewehr-Schuss zu Tode kam.
Da gibt es noch ein Thema, mit dem Rolf Breitfeld, geboren 1948, bisher und nach vorne schauend, umgehen konnte. Durch Mitwirken, Aktenstudium und Rekonstruktion trugen er, acht weitere „Ehemalige“ und ein Erzieher zum Gelingen der Ausstellung bei: Aufklärung von Vergangenheit, Kindheit, Jugend, seiner eigenen und der von anderen.
Und jetzt? - Nicht nur die äußeren Mauern des Gebäudes am Jungfernstieg in Glückstadt, nicht nur die vergitterten Fenster waren sein Thema, es ging auch um das Innere, die Verwendung eines Heimes und über dessen Eignung, besser gesagt Un-Eignung. Landesparlamentarier und vor allem die Mitglieder des Ausschusses für Volkswohlfahrt des Schleswig-Holsteinischen Landtages debattierten wiederkehrend seit 1949 darüber. Das Verharren der Politiker die Situation im Landesfürsorgeheim Glückstadt nicht zu verändern, hatte Auswirkungen auf den Lebensweg der jungen Menschen.
Dazu sagte Dr. Gitta Trauernicht, MdL und 2004 bis 2009 Sozialministerin von Schleswig-Holstein in ihrer Rede zur Ausstellungseröffnung am 18. Mai 2010 in Kiel:
„Bereits 1949 hat sich der Schleswig-Holsteinische Landtag für die Schließung der Landesfürsorgeanstalt Glückstadt ausgesprochen. Es ist kein Ruhmesblatt für die politische Kultur unseres Landes, dass erst nach vielen erfolglosen Bemühungen 1974 ein Schlussstrich unter dieses düstere Kapitel staatlich verantworteter Zwangserziehung gezogen wurde.“ Und weiter „Alle Betroffenen haben die Arbeitserziehung als aufgezwungene Arbeit mit Strafandrohungen oder tatsächlicher Bestrafung bei Arbeitsverweigerung, also als Zwangsarbeit erlebt.“
Zwangsarbeit. Da steht das Wort im Redetext der ehemaligen Sozialministerin von Schleswig-Holstein und das genau, Zwangsarbeit, sagt Rolf Breitfeld, sei ihm und den mit ihm zeitgleichen Bewohnern dort geschehen bzw. sie waren ihr ausgesetzt. „Wir waren nicht mit dem Tode bedroht wie die Menschen in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten“, so Rolf Breitfeld. Wir Fürsorgezöglinge waren auf dem Strickboden, isoliert, verschlossen hinter Gittern, von den aus der NS-Zeit verbliebenen Wärtern bewacht und dem Arbeitspensum gegenüber: 4.000 Maschen für die Netze oder Strafe ....“, und schließt die Frage an: „Was ist das anderes als Zwangsarbeit?"
Und er fährt fort: „Ich bin der Ansicht, am 31.12.1974 wurde das letzte und illegal betriebene Arbeitshaus der Bundesrepublik geschlossen. Es war die Fortführung eines Arbeitshauses als KZ im Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, außerhalb des Grundgesetzes.“
Antworten auf meine Fragen nach den Abnehmern bzw. Nutznießern der Zwangsarbeit der Jugendlichen bleiben allgemein gehalten: Die „Hochseefischerei“. Die Glückstädter Heringsfischer AG, die sozusagen zeitgleich dem Abriss des Landesfürsorgeheims Konkurs anmeldete und deren Aktionäre bei Gründung in der Glückstädter Oberschicht zu finden waren? Dr. Gerhard Köhn, geborener Glückstädter und ehrenamtlicher Stadtarchivar in den Jahren 1966 bis 1970 sieht hier keinen Zusammenhang sondern sagt: „Die gesamte Nordsee Küstenfischerei hat mit öffentlicher Unterstützung gelebt. Privat-Eigentümer gab es in den 60er Jahren kaum mehr“. Er will aber dieser Frage nachgehen und ist sicher, die Akten werden „sprechen“.
Das Stadt-Archiv Glückstadt selbst blieb meiner Recherche gegenüber verhalten und hatte mich an Gerhard Köhn verwiesen.
Dazu sagt Gerhard Blasberg, Bürgermeister von Glückstadt: „Wir wissen einfach nicht, wie es damals war. Das ist kein Verschweigen, sondern Unwissenheit.“
Macht nichts, denke ich bei mir, die Opfer sind mein Thema, die anderen müssen mit sich selbst klar kommen. In mir laufen die Berichte meiner Begegnungen mit „Ehemaligen“ in den vergangenen Monaten wie ein Film ab: Fotografien, 50iger- und 60iger Jahre, Mädchen, 14, 15-jährig in weißen Kitteln hinter Bügelbrettern und Dampf-Eisen und die Stimmen dazu: „Der Wagen mit der Schmutzwäsche kam wöchentlich“ ... „Manschetten und Kragen der Oberhemden waren klatsch nass und schwer zu bügeln aber ich habe es immer geschafft“ ... „Wir durften bei der Arbeit nicht sprechen“ ... ,,Wir wurden immer bestraft, egal was wir taten, es gab immer eine Strafe“ ... „Ich hatte die Wäsche für eine ganz bekannte Schausteller-Familie“ ... „Und nur mit den Kindern, deren Eltern nicht kamen“ ...
Zurück nach Glückstadt und den „Bewohnern“ des Landesfürsorgeheims Glückstadt.
Wie es dort in den Jahren 1949 bis 1974 mit Erziehung, Fürsorge, Förderung, Strafen, dem Leben in der Anstalt insgesamt aussah, wie Jugendliche dorthin „verlegt“ wurden und wer die „Belegung“ veranlasste, darüber gibt die Wanderausstellung und das begleitende Buch Auskunft.
Herausgeber Irene Johns, Christian Schrapper.
Zurück zu Rolf Breitfeld.
„Zum ‚Landesfürsorgeheim Glückstadt’ gibt es nichts mehr aufzuklären. Die Akten liegen auf dem Tisch.“ Breitfelds Worte klingen nüchtern hier in seinem Wohnzimmer jetzt, Ende September 2010, mit dem Rücken zum Computer.
Breitfeld ringt mit sich, um Respekt dem gegenüber zu belassen, was im Landtag Schleswig-Holstein in der 16. Legislaturperiode begonnen wurde nämlich, „...sich mit dem erlittenen Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen im Landesfürsorgeheim Glückstadt (...) widerfahren ist, auseinanderzusetzen“ und Breitfeld zitiert weiter aus dem Vorwort des Buches: „In dieser Anstalt wurden systematisch - und nicht nur in Einzelfällen – die Rechte und die Würde der jungen Menschen missachtet und verletzt“
Die Wanderausstellung ist nun entstanden. Die „Ehemaligen“ haben aktiv daran mitgewirkt und trotzdem ist da ein Unbehagen. Rolf Breitfeld will es nicht mehr runterschlucken und sagt: „Es hätte allgemein härterer Worte und größerer Klarheit bedurft. Auch ich hätte klarer Nein sagen und meine Meinung durchsetzen müssen“, und denkt dabei an seine ständige Anwesenheit, wenn auch nur vertretungsweise Beteiligung an dem Runden Tisch Heimkinder. Doch dazu später.
Zurück in das Arbeitszimmer von Rolf Breitfeld in dem er sich auf die Eröffnung in Glückstadt, die fünfte von derzeit elf Stationen der Wanderausstellung vorbereitet: Rolf Breitfeld wird eine Rede halten.
„Ich werde die Wahrheit aufzählen: Auf der einen Seite die Ausstellung, das Landesfürsorgeheim ‚light’ und tatsächlich war es die Hölle.“
Stellung dazu nimmt Prof. Dr. Christian Schrapper, als wissenschaftlicher Leiter der Projektgruppe „Fürsorgeerziehung 1945 bis 1975“ der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, verantwortlich für die Ausstellung. Die Rückmeldung, die er über die Kraft und Aussage der Ausstellung erhält, lassen sich vom Grundtenor her mit den Worten von Gitta Trauernicht wiedergeben: „Eine Ausstellung, die unter die Haut geht.“ Dies mit der einer ästhetischen Form in Einklang zu bringen, darin sahen Christian Schrapper und das wissenschaftliche Arbeitsteam eine grundlegende Position.
Aber, frage ich ihn, warum ist die Wanderausstellung nicht am Ort der Entscheidung. Berlin ist 2010 das Zentrum der Runden Tische. Außerdem stellt Berlin als touristisches Zentrum einen wesentlichen Anziehungspunkt auch für politisch interessierte Bürger dar und die wollen Informationen, mehr wissen über zentrale Themen wie Missbrauch, Zwangsarbeit und Verjährung. Sollen eher Fakten vorenthalten bleiben, bis die „Runden Tische“ ihre Entscheidungen verkünden, die die Mehrheit der Deutschen sowieso nur peripher tangiert? Ein klares Nein dazu kommt von Christian Schrapper: „Schleswig-Holstein hat die Akten auf den Tisch gelegt, die zentrale Kraft war dafür die ehemalige Sozialministerin Gitta Trauernicht. Es gab Verbündete und selbstverständlich Widerstand. Es ist ein Anliegen, die Präsentation auch in Berlin zu zeigen. Jetzt aktuell und erst einmal gehört sie nach Schleswig-Holstein“.
Unerwartet und verblüffend sind für mich seine folgenden Worte, denn ich hatte Einmaligkeit für das Landesfürsorgeheim Glückstadt angenommen aber weit gefehlt: „Die Ausstellung steht exemplarisch für andere Fürsorgeheime. Es gab 20 bis 25 Einrichtungen dieser Art über die Bundesrepublik Deutschland verteilt wie beispielsweise „Freistatt“ in Niedersachsen.“
Runder Tisch Heimerziehung
Das Thema ist jedoch auch in Berlin bekannt. Christian Schrapper ist als Vertreter der Wissenschaft eines der 22 ständigen Mitglieder am Runden Tisch Heimerziehung.
Rolf Breitfeld hat dort seit April 2010 ebenfalls ständigen Zugang. Die Berufung zu dieser Arbeitsgemeinschaft ist persönlich bestimmt. Dadurch ist die Zusammensetzung seit Beginn am 17. Februar 2009 gleichbleibend. Eine Veränderung trat mit der 7. Sitzung im April 2010 ein. Seither sind für jede Sitzung neben den drei „ehemaligen“ Heimkindern deren persönlich benannte Vertreter zugelassen. Das heißt, alle sechs hören und sprechen mit. Zur Abstimmung hingegen sind nur die drei berufenen Stimmen zugelassen nämlich Sonja Djurovic, Eleonore Fleth und Dr. Hans-Siegfried Wiegang. Rolf Breitfeld vertritt Eleonore Fleth.
Hier liegt meine Hoffnung: Die Exponate der Wanderausstellung über das Landesfürsorgeheim Glückstadt sind dem Runden Tisch Heimerziehung nicht vor Augen. Aber das Buch passt mit seinen 371 Seiten in jede Aktentasche. Eine DVD mit den Interviews der „Ehemaligen“ liegt bei – ihre Stimmen sind also auch zu hören.
Unwissenheit über Fakten braucht in diesem Gremium nicht zu sein, denn diese Fakten über das Landesfürsorgeheim Glückstadt liegen Dank der Landesregierung Schleswig-Holstein, einer couragierten und jetzt ehemaligen Sozialministerin, den Sponsoren, den Wissenschaftlern, den „Ehemaligen“ und den am Runden Tisch Heimerziehung zugelassenen sechs Sprechern auf dem Tisch.
Ich schließe diesen Bericht mit zwei Zitaten und einem aktuellen Ergebnis.
1. Mit den Worten von Christian Schrapper: „Ich halte es für notwendig, wieder gut zu machen aber das nicht in dem Sinne: Nun ist alles wieder gut. Wir dürfen nicht aus den Augen lassen, wir befanden uns in der Frühgeschichte unserer Demokratie und haben manches verschlafen. Erst einmal gilt es anzuerkennen, das hier einige Menschen in ihrer Kindheit in besonderer Weise gelitten haben anstelle positiv ins Leben starten zu können. Nun dort zu unterstützen was erforderlich ist, das ist unsere Aufgabe heute. Und das dies nicht ohne Widerstände geht, ist klar und man muss es aushalten.
Was Menschen heute noch an Beeinträchtigungen aus der Heimerziehung mit sich tragen, muss uneingeschränkt behandelt und wieder hergestellt werden. Bei manchen Menschen gibt es eine Zeitspanne von 10 bis 15 Jahren in der Misstrauen der einzige Lebensmechanismus war. Welche Energie war dafür von den Betroffenen lebensgeschichtlich aufzuwenden.
Das ernst zu nehmen ist eine allgemeine Aufgabe, da hat der Runde Tisch Heimkinder keine Überzeugungsarbeit mehr zu leisten, darüber ist er hinaus. Da sind wir uns alle einig. Aber, wie es zu tun ist, das ist strittig.“
2. Mit den Worten aus der Eröffnungsrede von Gitta Trauernicht zur Wanderausstellung.
„Sehr verehrte Gäste,“ so beginnt ihre Rede, „ich begrüße Sie herzlich zur Eröffnung der Ausstellung ‚Für.Sorge.Erziehung – erzählen – erinnern – verantworten’. Eine Ausstellung, die unter die Haut geht.
Ausgehend von den Erinnerungen und Erzählungen ehemaliger Heimkinder über das Leben vor, in und nach der Fürsorgeerziehung werden mit Dokumenten und Fotos Zustände, Funktionen und Folgen dieser Fürsorgeerziehung anschaulich gemacht. Wichtig ist auch die historische Einordnung in die damalige Zeit. Jetzt passiert, was der Landtag wollte: Mit dieser Ausstellung und der aktuell vorgelegten Publikation werden die bisherigen Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung und die diese begleitenden Diskussionen mit den Beteiligten und Betroffenen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.“
3. Zurück zu dem Alleingang von Rolf Breitfeld und seinem Transparent: Nun darauf aufmerksam gemacht, setzt sich Gerhard Blasberg, Bürgermeister von Glückstadt, dafür ein, die Gedenktafel am Jungfernstieg 1 auf den dokumentarisch korrekten Stand bringen. Die für die historische Altstadt zuständige Abteilungsleiterin ist einverstanden. Das Grundstück ist im Besitz einer Wohnungsbaugesellschaft, dort wird um Zustimmung nachgefragt, dann wird der Text formuliert und das in gemeinsamer Arbeit mit Rolf Breitfeld. Die Kosten dafür? Das wird sich finden. Der Bürgermeister ist am Telefon zuversichtlich.
Evelin Frerk
Weiterführender Link:
Die Ausstellung
(U.a. die kompletten Reden von Dr. Gitta Trauernicht, MdL, Sozialminister Dr Heiner Garg, Irene Johns, Deutscher Kinderschutz Bund und Rolf Breitfeld