TÜBINGEN. (hpd) Im Schatten des Katholikentages. Oder: "Liebster Jesu, wir sind vier" – Eine Reportage vom Evangelischen Bezirkskirchentag, der am vergangenen Wochenende im baden-württembergischen Tübingen vorüberging. Das Motto des Kirchentags lautete: „Himmel und Erde bewegen“.
Von Timo P. Hauselmann
Am Wochenende bot Tübingen ein Stadtbild wie es eine Kleinstadt am Wochenende eben bietet: Es ist Samstag, die Menschen bummeln, mit H&M-Tüten beschwert. Sie sitzen auf den Stufen der Stiftskirche, essen Eis oder genießen ihren Kaffee. Die Sonne lächelt.
Warum sollte es auch anders sein? Nun ja, es war Bezirkskirchentag unter dem Motto „Himmel und Erde bewegen“. Im Schatten des Katholikentages in Mannheim fand in Tübingen der BKT 2012 der evangelischen Kirche statt – und kaum einer ging hin.
„Liebster Jesu, wir sind hier“, so beginnt ein Lied im Kirchengesangbuch. Eigens für den BKT müsste es umgeschrieben werden: „Liebster Jesu, wir sind vier“ – Vier Prozent der protestantischen Kirchenmitglieder, so die EKD-Statistiker, besuchen den sonntäglichen Gottesdienst. Bei dem Besuch des BKT dürften sie sich ähnlich zurückhaltend verhalten haben.
Was also wurde den vier Prozent geboten? Denn große Banner luden die Tübinger ein: „100 Veranstaltungen an 25 Locations (Eintritt frei)“. Jede Werbeagentur, die halbwegs bei Trost ist, hätte wohl getextet: „100 Veranstaltungen an 25 Orten“ oder „100 Events an 25 Locations“. Um der Eindeutigkeit der Sprache willen! Aber diese Eindeutigkeit ist der evangelischen Kirche abhanden gekommen. Das zeigte sich auch auf manchem „Event“.
Am Samstagvormittag ging man beispielsweise der Frage nach, wer der eine, wahre Gott denn nun sei. Eindeutigkeit? Fehlanzeige. Nur in trauter Einsamkeit sind sich Vertreter der Muslime und Christen einig: Man glaube an denselben Gott.
Zwar sehen sich Pfarrer Georg Rothe und Frau G. Tamer-Uzun kritischen Fragen der Basis ausgesetzt, aber an der einmal postulierten Einigkeit änderte das kaum etwas. Das Kirchenvolk mag das ja schlucken (müssen). Aber ich frage mich: Wissen das die Christen und Muslime im nahen und fernen Osten eigentlich? Dass sie sich so nahe stehen?
Und überhaupt: Haben die Herren Theologen ihre Rechnung womöglich ohne „ihre“ Bibel gemacht? Denn die lehrt doch, dass nach Jesus niemand mehr kommen wird. Jesus ist der „eine Sohn Gottes“ und die endgültige Offenbarung. Punkt bzw. Kreuz.
Ach wie schön ist ... Tübingen. Der Friede zwischen den Religionen ist hergestellt. Was steht als nächstes „Event“ für mich auf dem Programm? „Bibelarbeit tanzen“. Pech. Das lief zeitgleich an einer anderen „Location“.
Als Hobby-Journalist kann man aber nicht auf allen „100 Events“ gleichzeitig sein. Einige „Events“, die an der Peripherie des Kirchentages stattfanden, bleiben hier unerwähnt - zumal sie von nur wenigen Teilnehmern besucht wurden oder gar nicht erst stattfanden. So stehe ich mehrmals an einer „Location“, an der kein „Event“ stattfindet.
Ich blättere im Programmheft: Solarstrom, Geldanlage, Armenfürsorge und Jugendarbeit. So viele Themen. Ich gehe zu Lothar Späth, Ministerpräsident a. D., der zum Generationenpakt sprechen wird. Doch der Vortrag fällt aus. Also noch schnell zu Günther Beckstein, Ministerpräsident a. D., der sich der Frage widmet: „Christentum und Politik – wie passt das zusammen?“
Überraschung: Günther Beckstein sieht sich bei seinem Vortrag in der Hauptkirche Tübingens etwa vier Dutzend Besuchern gegenüber. Das gute Dutzend besoldeter Kirchenfunktionäre, die – vermutlich um des Händeschüttelns willen, sich nebenbei noch der Geneigtheit der Politiker vergewissernd – anwesend sind, habe ich bereits rausgerechnet.
Wie sehr juckt es mich in den Fingern, der versammelten Prominenz ein Transparent entgegenzuhalten „Trennung von Staat und Kirche! Abschaffung der Kirchensteuer: Jetzt!“
Aber allein hält sich so ein Banner schlecht. Ach, wären doch nur ein paar heißblütige Aufklärer und Humanisten zugegen. Das habe ich mir oft gewünscht auf diesem Bezirkskirchentag.
Stand der Familien-Bildungsstätte (FBS) für Tübingen, Mössingen, Rottenburg und Umgebung
Ich mache das Beste draus. Denn irgendwo musste doch so richtig der evangelische Bär los sein. Auf einer grünen Wiese mit einem kleinen See steppte der schon am Freitagabend: Beim „Warming up an der Bühne“ zeigte die evangelische Jugend, wie lebendiges Christsein aussieht. Sie machte Party.
Gleicher Ort, am Samstagmittag: Da stehen die Vertreter der Diakonie, der evangelischen Bildungsstätte und einer Beratungsstelle ein wenig einsam hinter ihren Tischen. Am Nachmittag sieht es an den Infoständen auch nicht besser aus: Gähnende Leere. Dafür wackelte die Hüpfburg.
„Sind Sie voll ausgelastet?“, frage ich eine Mitarbeiterin hinter einem Infotisch. „Hier ist nicht viel los“, antwortet sie. „Na, da waren Sie aber noch nicht an den restlichen 25 Locations“, erwidere ich und lächle vielsagend. „Ja, das liegt an dem verlängerten Wochenende“, sagt die Dame vom CVJM Tübingen.
Die grüne Wiese an einem Teich ist bedeckt mit lauter kleinen „Events“ für die Jugend. Und hier ist schon mehr los: Besagte Hüpfburg wackelt immer noch, die Rollenrutsche knattert. Daneben gibt es „Human Soccer“, Kisten stapeln und Würstchen.
Die Hüpfburg: Hier wird was bewegt … letzlich Luft.
Ich merke, dass ich halb Tübingen bereist habe und verspüre eine Leere in der Magengegend. So sitze ich wenig später kauend und schlürfend auf einer Partybank und lausche der Jugendpfarrerin Sabine Löw.
Nun geht es nicht um Solarstrom, sondern um Spiritualität. Endlich ein Thema, wo die Kirche punkten kann. Wo sie Gott erfahre, fragt eine junge Moderatorin die Pfarrerin. „Ich weiß, dass ich nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand“, kommt die Antwort wie aus dem Katechismus.
Die Moderatorin will wissen, wo sie das persönlich erlebe, wo das konkret erfahrbar werde.
Die Pfarrerin erzählt von ihrer Arbeit mit Sterbenden, dass sie „irgendwie“ spüre, dass das Leben „hier nicht zu Ende“ sei. Das klinge zwar „authentisch“, so die Moderatorin weiter, sie wolle gerne wissen, ob das „konkret und persönlich erfahrbar“ sei. Die Pfarrerin spricht daraufhin von einer „pulsierenden Kraft“, die man „spüren“ könne, wenn man „dafür offen“ sei.
„Pulsierende Kraft“. Die Jugendpfarrerin hinter dem Ballon.
Bin ich froh, dass ich mein Essen verputzt habe! So sieht Glaube an Gott heute aus: „Pulsierende Kraft“ und „mit dem Tod ist das Leben nicht zu Ende“. Dass die Protestanten nicht scharenweise zu den Humanisten oder in einen Tennisclub wechseln – selbst da muss mehr Spiritualität vorhanden sein. Noch eine Veranstaltung steht auf meinem Zettel - doch die fällt ebenfalls aus.
Wohin nun? „Kann Kunst die Kirche stärken?“ mit Kirchenrat R. Lambert Auer, Kunstbeauftragter der Evangelischen Landeskirche in Württemberg? Oder gehe ich doch lieber zu: „Närrisch in Christo“ mit Dr. Gisela Matthiae, Clownin und Theologin (!)? Eine ketzerische Frage beschleicht mich: Worin hat sie ihre Doktorarbeit geschrieben? In Clownerie? Oder in Theologie?
Meine Füße tragen mich zu einer anderen Veranstaltung: „Kinder und die großen Fragen.“ Hier herrscht Einmütigkeit. Die Fragen, die Kinder bewegen, so die Theologie-Professoren F. Schweitzer und A. Biesinger, benötigten Antworten. Und Eltern benötigen den Rat der Kirche. Das verstehe ich: Glauben die Kinder nicht mehr brav an den „alten Gangster da oben“ (Pfarrer J. Fliege, leider nicht anwesend) und verabschieden sich mit 14 von der Kirche, dann wird die Kirche zum Bezirkskirchentag 2027 den Menschen für ihr Kommen Geld zahlen müssen ...
Die Fragen, die Kinder angeblich umtreiben – „Wie sieht Gott aus?“, „Wo wohnt Gott?“ - setzen alle Gott voraus. Nur eine der gestellten Fragen, „Müssen wirklich alle Menschen sterben?“ kommt ebenso ohne Gott aus wie meine Antwort: Ja, wir müssen alle sterben und das ist nur natürlich.
Meine Seele benötigt endlich eine Stärkung. So genehmige ich mir ein Eis, setze mich fernab in den bevölkerten Stadtpark und lasse den Kirchentag mit seinen 25 Events an 100 Locations Kirchentag sein. Himmel und Erde bewegt man anders.