(hpd) Der IBKA (Internationaler Bund der Konfessionslosen und Atheisten) hat im dreißigsten
Jahr seines Bestehens den Erwin-Fischer-Preis für das Jahr 2006 zum ersten Mal nicht an eine Person, sondern an die Nesin-Stiftung vergeben- mit dem sie posthum des Werk des türkischen Autoren und Humanisten Aziz Nesin ehrt.
Im großen Hörsaal des Mathematik-Gebäudes der Technischen Universität Berlin geschah am vergangenen Samstag Eigenartiges, als dekoratives Grün aufgebaut wurde und - anstelle eines Dozenten mit einem Manuskript - eine türkische Musikgruppe unter der Leitung von Herr Siddik Dogan den Vortragsplatz belegte, ihre Instrumente auspackte und sich einspielte.
Die Zuhörer erlebten eine heitere Veranstaltung, auf der sich der Respekt vor dem Lebenswerk eines Menschen angemessen in Fröhlichkeit artikulieren durfte.
Musik und vier Grußworte leiteten die Veranstaltung ein. Christel Kottmann-Mentz (Schulleiterin des Aziz Nesin Europaschule in Berlin-Kreuzberg), Özcan Mutlu (bildungspolitischer Sprecher der Fraktion des Bündnis 90 / Die Grünen im Berliner Angeordnetenhaus) und Prof. Dr. Klaus Liebe-Hakort (Leiter des Fördervereins für die Nesin-Stiftung) formulierten engagiert ihre persönliche Wertschätzung für die Nesin-Stiftung, in dem sich das Leben und Wollen von Aziz Nesin so tatsächlich darstelle.
Die Vorsitzende des Bund für Geistesfreiheit München (die Unternehmerin und Handelsrichterin Assunta Tammelleo) trug nicht nur ein Dirndl, sondern brachte als Ausdruck ihrer Wertschätzung einen Scheck mit Spendengeldern in Höhe von 3.600 Euro für die Stiftung mit und einen Schnaps für den jetzigen Vorsitzenden der Stiftung, Prof. Ali Nesin, da der nach bayerischer Auffassung unsterblich machen könne.
Dr. Wolfgang Proske hielt die Rede zur Preisverleihungsbegründung und Dr. Yüksel Pazarkaya sprach die Laudatio. Die beiden Vorsitzenden des IBKA, Rudolf Ladwig und René Hartmann, überreichten Prof. Ali Nesin für die Stiftung Urkunde und Medaille des Erwin-Fischer-Preises.
Die Dankesrede von Prof. Ali Nesin wurde von Prof. Liebe-Harkot simultan übersetzt und hatte für die türkischen Teilnehmer des Abends den Vorteil, dass sie bei der launigen Rede stets als erste lachen konnten, da die deutschen Teilnehmer immer erst die Übersetzung abwarten mussten.
Mit Musik und einer ausdauernd erklatschten Zugabe fand die Preisverleihung einen würdigen Abschluss.
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Begründung der Preisverleihung
von Dr. Wolfgang Proske
Sehr geehrter Herr Professor Nesin,
meine Damen und Herren,
wir sind momentan Zeugen des verstärkten Bemühens maßgeblicher Politiker um eine angemessene Integration islamischer Einwanderer. Sie überbieten sich geradezu in ihren öffentlichen Bekenntnissen zu Toleranz und Meinungsfreiheit, selbst solche, die bisher eher gegenteilig aufgefallen waren. Der weltanschauliche Pluralismus, für den konfessionsfreie Bürgerrechtler seit Jahrzehnten streiten, wird angesichts der muslimischen Herausforderung plötzlich zur Voraussetzung des Zusammenlebens in unserem Staat erklärt, so als sei er bereits selbstverständlicher Teil in unserer Alltagskultur.
Ursache dafür sind die weltweiten Attacken extremistischer Muslime gegen alle möglichen, „dem Westen“ in seiner Gesamtheit zugerechnete angebliche Beleidigungen ihrer Religion. Jetzt möchte man in Deutschland auf die Schnelle die Eingemeindung der Migranten nachholen, nachdem man jahrzehntelang vor der De-Facto-Einwanderung angeblicher „Gastarbeiter“ die Augen verschloss. Kein Thema, so der Tenor während einer ersten Islamkonferenz im September, soll in dieser Debatte tabu sein. In Hamburg wurde inzwischen erstmals ein Staatsvertrag mit dem Islam in Aussicht gestellt, und auch in anderen Bundesländern scheint diese Zielvorgabe nicht unrealistisch zu sein, sollten die dortigen tonangebenden Gruppen der Muslime sich auf eine allgemein akzeptierte Repräsentanz einigen können.
Auffallend viele rote Teppiche für Muslime werden ausgerollt, wohin man auch blickt. Verblüfft hören wir ausgerechnet aus dem Munde Benedikts XVI., welch tiefen Respekt er vor Andersgläubigen wie beispielsweise den Muslimen empfinde. Da überrascht es kaum noch, wenn Muslimvertreter bei der Islamkonferenz ihrerseits fortan die Gegensätze zwischen säkularen und religiösen Muslimen akzeptieren wollen; wenn sie es sogar – mit Blick auf die Erwartungen ihrer Gesprächspartner - für erlaubt halten, die Religion zu wechseln oder gar keine Religion zu haben. Wir hören wohl nicht recht: alles in allem eine aufgeklärt-humanistische Säkularität als neue, allgemein und interkulturell akzeptierte Leitkultur? Haben wir da irgendetwas verpasst?
Wohl kaum. Weiterhin leben wir in Zeiten von islamisch inspirierten Bombenanschlägen, von Massakern an sog. Ungläubigen, von Geiselnahmen mit gefilmter Enthauptung, eingeleitet nicht zuletzt schon 1993 durch den Mordanschlag im türkischen Sivas, dem Aziz Nesin beinahe zum Opfer gefallen wäre. Parallel dazu findet hierzulande eine massive Islamisierung insbesondere auch der zweiten und dritten Einwanderergeneration statt. Da erscheint mir die zuallererst beschwichtigende, an das Appeasement der Westmächte angesichts des kriegswilligen Nationalsozialismus erinnernde Gutmenschpolitik reichlich naiv. Ebenso wenig vermag ich zu sehen, dass inzwischen unter den maßgeblichen Politikern Deutschlands jenes wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1965 angekommen sein soll: Dass nämlich dem „Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität“ auferlegt sei.
Mit Blick auf den Islam ist festzustellen, dass es Respekt, Toleranz und Rücksichtnahme nur geben kann, wenn man seinerseits nicht respektlos, rücksichtslos und intolerant auftritt gegenüber dem für dekadent, provokativ oder minderwertig Gehaltenen. Es ist momentan nicht absehbar, dass die wohlabgewogenen Worte während der Islamkonferenz Folge eines entsprechenden Mentalitätswandels sind. Im Gegenteil geben weltweite Entwicklungen hin zum militanten Islamismus, in unübersehbaren Ansätzen auch in der Bundesrepublik feststellbar, weiterhin Anlass zu großer Sorge. Und mit Blick auf das Zusammenleben von Christen und Nichtreligiösen hierzulande ist festzuhalten, dass bis heute das o. g. Gleichheitsurteil nur verhalten zur Kenntnis genommen wurde, mancherorts gar völlig verdunstete. Obschon theoretisch vom Grundgesetz her gleichberechtigt, werden wir de facto immer wieder zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, wird unsere Weltanschauungsfreiheit verletzt, manchmal aus Gedankenlosigkeit, oft aber auch vorsätzlich, immer vor dem Hintergrund der Privilegien der beiden Großkirchen.
Es erscheint also sehr gewagt, wenn während der Islamkonferenz ein gleichberechtigtes Miteinander zwischen Christen und Atheisten bemüht wurde, ganz so, als sei dies eine Erfolgsgeschichte und ein Beispiel für gelungene Integration. Wir sind dazu bisher nicht befragt worden, und wir haben allen Grund, weiterhin einige Fragezeichen zu setzen. Wieso eigentlich wird zum Beispiel einfach hingenommen, wenn in Zeiten knapper Kassen nach einer vorsichtigen Schätzung 70 Millionen Euro für die als „Pastoralbesuch“ bezeichnete Papstreise durch Bayern vom Steuerzahler zu finanzieren sind, bei lediglich 30 Millionen Euro Kosten für die katholische Kirche? Wo bleibt da die parlamentarische Opposition?
Der verstorbene Ulmer Rechtsanwalt Erwin Fischer, unser langjähriger Fachmann in allen das Verhältnis von Staat und Religion betreffenden Fragen, hätte, wäre er heute noch unter uns, zu diesem Themenkomplex weitere Fakten benannt. Vor allem auch, wie heute angeblich Selbstverständliches immer wieder erst vor Gericht erstritten werden musste. Ich darf hier daran erinnern, dass es Erwin Fischer war, der das oben zitierte, bis heute wegweisende und weiterhin nicht konsequent umgesetzte Gleichheitsurteil von 1965 in elfjährigem Rechtstreit erkämpft hat.
Was nun hat das alles mit dem türkischen Satiriker und bekennenden Atheisten Aziz Nesin zu tun? Beide, Erwin Fischer und Aziz Nesin, waren große Aufklärer. Beide einte die Überzeugung, dass es notwendig sei, für die Erweiterung der staatsbürgerlichen Rechte geistvoll zu streiten. Beide erkannten, wie hohl Behauptungen von einer längst umgesetzten Aufklärung sind, wie sie gelegentlich von den jeweils Mächtigen in Sonntagsreden bemüht werden. In ihren beiden Lebenswelten forderten sie daher säkulare Rechte offensiv ein und setzten sich gegen anmaßende Übergriffe intoleranter Autoritäten energisch zur Wehr. Der Jurist Fischer ebenso wie der Autor Nesin waren zeitlebens in ihren beiden Gesellschaften unverzichtbare Bürgerrechtler, denen es wenigstens zeitweise gelang, die politischen Verhältnisse in Schwingung zu versetzen. Wir erinnern uns, wie Aziz Nesin darüber 1994 kurz vor seinem Tod und während einer Konferenz des IBKA in Heidenheim berichtete. Wir erinnern uns aber auch daran, dass seine Anwesenheit aus berechtigter Furcht vor dem Islamismus im Vorfeld geheim gehalten werden musste.
Damit bin ich bei den Gründen angekommen, die den IBKA bewogen, Aziz Nesin bzw. in seiner Nachfolge die Aziz-Nesin-Stiftung mit dem Erwin-Fischer-Preis 2006 auszuzeichnen. Es ist für uns besonders bemerkenswert, in einem zunehmend von religiöser Intoleranz geprägten kulturellen Umfeld resolut für unteilbare Menschenrechte, für ein Höchstmaß von Pluralismus und für eine tabulose Gedanken- und Geistesfreiheit einzutreten. Es ist die säkulare Bildungs- und Sozialarbeit inmitten der islamisch geprägten Gesellschaft, die uns besonders imponiert. Es ist der praktisch gewordene Humanismus, der mögliche Verbesserungen nicht auf eine ferne Zukunft verschiebt, sondern sie hier und heute entsprechend des jeweils Möglichen verwirklicht. Wir sehen in dem 1972 vom Aziz Nesin begründeten Kinderheimprojekt „Nesin Vakfi“, 60 Kilometer westlich von Istanbul gelegen, ein gelungenes Beispiel säkularer Praxis. Hier werden Kinder, deren Familien unter den ökonomischen Zwängen ihrer Gesellschaft eine entsprechende Bildung nicht gewährleisten können, mit weitem Herzen erzogen und ausgebildet. Der Kampf um eine authentische, auf der Wirklichkeit der menschlichen Natur aufbauende und deshalb strikt säkulare Erziehung bietet aus unserer Sicht ein Modell, dessen Reichweite weit über die türkische Gesellschaft hinausweist. „Nesin Vakfi“ ebenso wie die „Alternative Universität BIHAR“, auch von Aziz Nesin initiiert, zeigen auf, dass es möglich ist, gerade diejenigen zu erziehen und zu bilden, die nur wenige Kilometer weiter ihre einzige Chance in verbohrtem religiösem Fanatismus sehen könnten. Wir sind insofern sehr beeindruckt, dass es jenseits der „Kampfes der Kulturen“, der im Wesentlichen ja bloß ein Kampf der jeweiligen Frommen ist, säkulare Gegenmodelle gibt, die geeignet sind, über Herkunftskulturen und staatliche Grenzen hinweg eine grundlegende Integration und damit den innergesellschaftlichen Frieden zu fördern.
Wir zeichnen die Aziz-Nesin-Stiftung aus, um ihr Mut für ihr weiteres pädagogisches Engagement auf säkularer Grundlage zu machen, in der Hoffnung, damit auch die Verbundenheit zwischen türkischen und deutschen Humanisten zu stärken. Wir wollen - mit unseren begrenzten Mitteln, aber mit aller Kraft und in aller Deutlichkeit – nicht länger Menschen türkischer Herkunft nur auf die vorherrschende Religion ihres Herkunftsortes reduzieren. Wir wollen deutlich machen, dass auch ein Migrant aus islamisch geprägter Herkunftskultur wie überhaupt jeder Muslim das Recht hat, säkular zu werden und ein religionsfreies Leben zu führen. Wir als IBKA wollen entsprechende Prozesse der Emanzipation unterstützen.
Der Erwin-Fischer-Preis 2006 geht an die Aziz-Nesin-Stiftung, weil sie sich um die Weltanschauungsfreiheit, die Trennung von Staat und Religion und die Förderung des vernunftgeleiteten Denkens verdient macht. Die Aziz-Nesin-Stiftung beweist, dass Bürger- und Menschenrechte, Rationalität und Säkularität auch in Gesellschaften mit muslimischem Hintergrund einen Platz haben können. Als einfaches Mitglied im IBKA wird mir die Ehre zuteil, Ihnen hierzu im Namen des Vorstandes und unseres gesamten Vereins sehr herzlich zu gratulieren.