BERLIN. (hpd) „Es gibt immer jemanden, der Dir die Hand reicht, Du musst sie nur sehen und ergreifen.“ Ein Portrait über Peter Bringmann-Henselder anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstordens für seine Verdienste als ehrenamtlich Engagierter für die Rechte der Opfer von struktureller, körperlicher und sexueller Gewalt.
Peter Bringmann-Henselder ist der Sohn einer unverheirateten Frau, die in der Nachkriegszeit ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdiente. Er wurde 1951 im Alter von fünf Monaten durch das Jugendamt in das Kinderheim Köln-Sülz eingewiesen. Dort verbrachte er seine gesamte Kindheit und Jugend bis zu seinem 18. Lebensjahr.
Das Kinderheim Köln-Sülz war ein städtisches Heim, das aber vom Orden der "Schwestern vom armen Kinde Jesus" geführt wurde. Der gleiche Orden unterhielt auch die Eliteschule für Mädchen in Bonn-Bad Godesberg. In dem Heim waren überwiegend katholische Ordensleute tätig. Zwar gab es auch Lehrkräfte und Erzieher_innen, die keine Ordensmitglieder waren, die Chefetage war jedoch mit Nonnen besetzt. In den Kindergruppen waren stets eine Nonne und eine Erzieherin tätig. Die Nonnen hatten den Erzieherinnen gegenüber Weisungsbefugnis.
Insgesamt waren in dem Heim 890 Kinder untergebracht. Auf dem Gelände befanden sich ein Säuglingsheim, eine Schule, ein Lehrlingsheim und ein Übergangsheim. Dort wurde geprüft, ob ein Kind in diesem Heim verbleiben oder in ein anderes Heim verlegt werden sollte.
Während der NS-Zeit leitete der streng gläubige Friedrich Tillmann das Heim. Er war der Direktor der Wohlfahrtswaisenpflege der Stadt Köln und für die Vertuschung von Krankenmorden an geistig Behinderten und psychisch Kranken verantwortlich. Seine Aufgabe war es, in den Krankenakten der Kinder zu recherchieren, um gegenüber den Eltern glaubhafte Todesursachen zu erfinden. Er beging 1964, kurz vor seiner Verurteilung, Suizid.
In den 1960er-Jahren zog das Kinderheim in Neubauten um, die alten Gebäude wurden abgerissen. Die Zimmer, in denen die Kinder zu dritt oder viert schliefen, waren erschreckend klein. Dies stellte Bringmann-Henselder bei seiner letzten Besichtigung im Haus Ursula fest. Die Betten waren dicht nebeneinander gestellt. Pro halbe Etage waren 20 Kinder in Gruppen untergebracht. Betreut wurden sie von jeweils einer Nonne und einer dieser unterstellten Erzieherin. Es gab einen Raum, in dem die Schuhe gesammelt wurden, zwei Badezimmer, Toilettenräume, ein Esszimmer, das auch als Spielzimmer diente, ein Wohnzimmer mit Terrasse, ein Isolier/- bzw. Krankenzimmer und jeweils ein Zimmer für die Nonne und die Erzieherin.
Es gab keinen Ort, an dem die Kinder sich zurückziehen konnten, um einmal für sich sein zu können. „Für mich war das ganz normal, so zu wohnen, denn ich kannte es nicht anders“, so Bringmann-Henselder. „Ich wusste nicht, dass in ihrer Familie lebende Kinder häufig ein Zimmer für sich allein hatten.“
Eines der verstörenden Erlebnisse sei die strenge Trennung von Mädchen und Jungen gewesen, so dass er außerhalb der Besuchszeiten seiner Mutter noch nicht einmal mit seiner Schwester spielen durfte. Als sie beide ca. fünf und sechs Jahre alt waren, hätten sie einmal dennoch miteinander gespielt, und er sei daraufhin verprügelt worden. Die Nonne unterstellte ihm sexuelle Absichten, was ihn völlig verwirrte und er nicht verstehen konnte. Immer wieder hätten die Nonnen die Begegnungen mit seiner Schwester blockiert.
Die Nonne in seiner Gruppe hieß Clara Candida, nach ihr wurde die Pappmaschee-Nonne des Figurenbauers Jacques Tilly für die Heimkinder-Demonstration im April 2010 benannt. Einmal habe sie seinen Freund derart heftig geschlagen, dass er vom Esstisch weg mehrere Meter gegen die Wand geflogen sei. Sie sei sehr oft gewalttätig geworden, wenn auch die Nonne, die die Gruppe in der darüber liegenden Etage betreute, noch weitaus grausamer gewesen sei. Sie habe einen geradezu militärischen Drill ausgeübt und bei Anzeichen von Ungehorsam freudig zugeschlagen. Häufig wurde auch der Heimleiter hinzugezogen, der die Kinder mit seinem Stock schlug.
Die Nonnen führten Buch über die Vergehen der Kinder. Sagte ein Kind „Arschloch“, stand später in der Akte: „Das Kind ist sexuell gefährdet.“
Die Dämonisierung der Kinder bezog sich jedoch nicht nur auf Körperlichkeit, kindliche Zuneigung und Ungehorsam, sondern betraf auch einen geistig behinderten Jungen in seiner Gruppe. Wann immer der Junge eingenässt habe oder ungehorsam gewesen sei, habe die Nonne ihn vor den anderen Kindern als Machwerk des Teufels betitelt. Nachts habe sie ihn oft mit zu sich ins Zimmer genommen, und es wirkte so, als ob sie sich um ihn kümmerte, so erinnert sich Peter Bringmann-Henselder. Er fand das merkwürdig und widersprüchlich. Auch habe sie sich bemüht, die Akten der Kinder, die sie mochte, zu ändern. Darüber sei es zu Machtkämpfen unter den Nonnen gekommen.
Dennoch habe er auch Mitgefühl und Freundlichkeit erfahren. Die Erzieherin in seiner Gruppe habe sich den Kindern zugewandt, sobald die Nonne abwesend war. Leider habe sie sich gegenüber der Nonne jedoch nicht durchsetzen können.
Im Alter von 5 Jahren hatte Peter einen schweren Unfall, er musste lange Zeit in der Universitätsklinik behandelt werden und lag zwei Tage im Koma. Nach seiner Entlassung konnte er nicht mehr sprechen. Er bekam keinen Ton heraus und konnte bestenfalls stottern. Da er von den anderen Kindern gehänselt wurde, gab er auf. Eine Sprachförderung wurde nicht angeboten.
Die Erzieherin entdeckte sein kreatives Potenzial, und so bekam er einen Fotoapparat, finanziert aus Spendengeldern der Kölner Karnevalsgesellschaft. Die Fotos ließ er im Fotoladen in der Nähe des Heimes entwickeln. Der Fotograf erklärte ihm vieles. Später lernte er durch einen anderen Erzieher, selbst Schwarz-Weiß-Fotos zu entwickeln und hatte die Erlaubnis, die Dunkelkammer zu nutzen.
Auch bekam er Gitarren-, Geigen- und Klavierunterricht. Eine Nonne war als Musiklehrerin tätig und als sie an ihre Grenzen stieß, ermöglichte sie ihm, Unterricht an der Musikschule zu nutzen.
Über den Musikunterricht kam er auch zum Singen und zum Schreiben von Liedtexten. Der spätere neue Heimleiter führte einen ganz anderen Führungsstil ein, und die Atmosphäre im Heim wurde insgesamt besser. Durch ihn lernte er ebenfalls viel über Musik.
Peter Bringmann-Henselder ist für diese Möglichkeiten, zu lernen, dankbar, denn dies hätte ihm seine Mutter aus finanziellen Gründen nie ermöglichen können.
„Meine Kindheit war einerseits ganz normal. Aber es gab eine grausame Parallelwelt, über die ich nicht sprechen konnte.“
Durch seine Sprachbehinderung wurde er ein leichtes Opfer für den Priester, der für alle Heimkinder zuständig war. Der Priester hat ihn sechs Jahre im Kindesalter grausam missbraucht. Nach dem ersten Übergriff versuchte Peter, sich mitzuteilen, um Hilfe zu bekommen. Schwester Candida verprügelte ihn jedoch, denn sie unterstellte ihm Lügen. So bestätigte sich, was der Priester ihm über Jahre einbläute, um ihn gefügig zu machen: „Dir wird sowieso niemand glauben.“ Das Wort eines Kindes hatte neben dem Wort eines Priesters keinerlei Gültigkeit.