Peter Bringmann-Henselder

Später, als Erwachsener, wandte Peter Bringmann-Henselder sich an das Erzbistum Köln. Dort teilte man ihm mit: „Das muss der Priester mit seinem eigenen Gewissen und mit dem lieben Gott ausmachen.“

Auch seiner Mutter, die ihre Kinder jeden Sonntag im Heim besuchte, wagte er nichts zu sagen. Er war glücklich über ihre Besuche und dankbar, dass er durch sie seine Wurzeln kennenlernen konnte. Gelegentlich erwirkte sie die Genehmigung für Ausflüge, und so konnte er seine Onkel und Tanten und Großeltern kennenlernen. Im Gegensatz zu vielen Waisen im Heim konnte er einen gewissen Halt durch seine Angehörigen finden.

Die Erziehungsmethoden im Heim wurden an den Idealen der religiösen Unterordnung innerhalb der Kirchenhierarchie ausgerichtet. Kam eine Nonne mit einem Kind nicht zurecht, wurde es als „schwer erziehbar“ eingestuft und in das „Herrmann-Joseph-Heim“ in die Eifel verlegt. „Damit drohten sie uns immer“, erinnert sich Henselder. Dieses Heim wurde von Mönchen des Salvatorianer Ordens geführt. In den Sommerferien wurden die Heimkinder dort als Erntehelfer eingesetzt. Sie wohnten dann im vom Kloster unterhaltenen Internat, während die bildungsprivilegierten Internatszöglinge ihre Ferien bei ihren Familien verbrachten. Das Salvatorianer Kloster habe riesige Ländereien gehabt und auch Nutztiere und galt als Selbstversorger-Einrichtung. Dennoch sei die Arbeit als Erntehelfer eine Abwechslung für ihn gewesen, um endlich einmal aus diesem viereckigen Terrain in Köln herauszukommen.

Zwar seien sie schon manchmal im Beethoven-Park in Köln gewesen, aber das Heim Köln-Sülz war eine geschlossene Welt: In der Mitte des Geländes standen die Gebäude, außen war eine Grünanlage, auch gab es ein Schwimmbad, Spielgeräte und einen Fußballplatz.

Die Gelegenheiten, das Gelände zu verlassen ergaben sich, wenn Peter im Auftrag des Schulleiters Aufträge erledigen sollte, wie z.B. Lehrfilme für den Unterricht bei der Landesbildstelle abzuholen. Vorn an der Pforte habe man ihm dann den Weg erklärt und die Verwaltungsangestellte gab ihm das Fahrgeld.

Nach dem Schulabschluss zog Peter Bringmann-Henselder in das Lehrlingsheim um. Dieses Gebäude befand sich ebenfalls auf dem Gelände, allerdings hatte es seinen Eingang offiziell von der Außenseite her. Später erfolgte die Anordnung, dass er seine bisherige Wohngruppe mit den vertrauten ehemaligen Mitbewohnern, seiner Ersatzfamilie, nicht mehr besuchen durfte. Erklärt oder begründet wurde dies nicht. Ihm wurde nur mitgeteilt: „Du hast dort nichts mehr zu suchen.“ Er war glücklich, dass er aufgrund seiner handwerklichen Begabung gelegentlich von der Erzieherin gerufen wurde, um Reparaturen durchzuführen.

Die Umstellung auf die Zeit als Lehrling war schwierig, denn durch die bisherige Rundumversorgung war er unselbständig und nicht darauf vorbereitet, selbst für sich zu sorgen. Dennoch gelang es ihm, seine Lehre als Elektroinstallateur erfolgreich abzuschließen. Außerdem unterzog er sich einer Sprachtherapie. Später absolvierte er die Meisterprüfung und fand eine Anstellung im Öffentlichen Dienst.

Er heiratete eine katholische gleichaltrige Erzieherin, aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Im Heim hatte er keinerlei sexuelle Aufklärung erfahren. „Zwar gab es zahlreiche sexuelle Verbote, und alle vermeintlichen Verfehlungen wurden sexuell interpretiert, aber ich hatte nie erfahren, wie Kinder gezeugt werden“, so erinnert sich Peter Bringmann-Henselder. Die Folgen der grausamen sexuellen Gewalt durch den Priester belasten ihn bis heute – körperlich und psychisch. Seine Ehefrau hatte kein Verständnis für seine Probleme, sie blieb loyal gegenüber der römisch-katholischen Kirche. Daher wagte er über vieles gar nicht erst mit ihr zu sprechen. Die Ehe wurde in einem schwierigen und belastenden Prozess geschieden.

Daraufhin verfiel er in eine tiefe Krise, denn die unverarbeiteten traumatischen Erlebnisse brachen auf. Er war lange krankgeschrieben und musste im Alter von 35 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand gehen.

Mit Unterstützung seines Arztes fand er eine stationäre psychotherapeutische Klinik in Hessen, weit genug entfernt von Köln. Die Gespräche mit dem dort tätigen körperbehinderten psychologischen Psychotherapeuten stabilisierten ihn. Die wöchentlich stattfindenden Gruppentherapien belasteten ihn anfangs jedoch stark, denn in der Gruppe war er der einzige männliche Patient und erfuhr Ablehnung, da die weiblichen Patientinnen ihre Probleme mit Männern auf ihn projizierten. Schließlich gelang es ihm mit Hilfe seines Therapeuten in der Gruppe über seine Gewalterfahrungen mit den Nonnen und dem Priester zu sprechen. Dies bewirkte einen Perspektivwechsel, denn über auch von Frauen ausgeübte Gewalt an Jungen gab es damals noch kaum ein Bewusstsein. Mit der Zeit entstand ein Vertrauensverhältnis, und er konnte über seine Veränderungen in seiner sexuellen Orientierung sprechen und zu seiner Homosexualität stehen lernen.

Die Therapie dauerte zweimal sechs Wochen im Abstand von einem Jahr. Danach war Peter Bringmann-Henselder wie ausgetauscht: „Ich fühlte mich viel selbstbewusster. Ich konnte einfach sagen: Das ist mein Lebenspartner.“

Dennoch leidet er bis heute unter den Traumatisierungen seiner Vergangenheit. Vor allem die sexuellen Grausamkeiten durch den Priester konnten nicht ausreichend therapiert werden. „Ich habe noch niemanden gefunden, der sich die Therapie zutraut, es gibt zu wenige Traumatherapeuten, und die Wartezeiten sind lang.“

„Wenn ich diese ehrenamtliche journalistische Arbeit nicht machen würde, wäre ich wohl nicht mehr am Leben,“ so Peter Bringmann-Henselder.

Er wollte als Kind bereits nach Afrika reisen, und so erfüllte er sich schließlich diesen Traum und verbrachte mehrere Jahre im Ausland. Er begleitete eine ehemalige Nonne, die Präventionsarbeit mit Frauen machte und sich für bessere Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten und sexuelle Selbstbestimmung von Frauen einsetzte.

Nach seiner Rückkehr war er schockiert über die soziale Kälte im wohlhabenden Deutschland und die Nachlässigkeit unter homosexuellen Männern im Umgang mit der AIDS-Prävention. Er begann, sich nach und nach in die journalistische Arbeit einzuarbeiten und griff Themen auf, die sonst kaum beachtet wurden: HIV, sexuelle Selbstbestimmung, Jugendprojekte, Gründung des Vereins Aufklärung e.V., journalistische und politische Arbeit über Menschenrechtsverletzungen an ehemaligen Heimkindern etc.

Sein neuestes Projekt ist die Gründung der Peter Bringmann-Henselder-Stiftung, die Betroffenen sexueller Gewalt und Ausbeutung Rechtsbeistand gewähren soll.

Trotz aller Schwierigkeiten in seinem Leben, begegneten ihm immer wieder Menschen, die ihn unterstützt haben: „Es gibt immer jemanden, der Dir die Hand reicht, Du musst sie nur sehen und ergreifen.“ Diese Erfahrung will er mit seiner unermüdlichen Arbeit weitergeben.

Daniela Gerstner