Fast jeder, der schon einmal in Deutschland, Westeuropa oder den USA in einem Hotelzimmer übernachtet hat, dürfte ihnen begegnet sein: Den dunkelblau eingebundenen Bibeln, diskret platziert auf dem Fensterbrett meist aber unauffällig in der Schublade des Nachttischs. Sie warten darauf, dass jemand in einer schlaflosen Nacht nach Trost oder Orientierung in Gottes Wort sucht. Doch während einige diese Geste als sinnstiftend empfinden, sehen andere darin eine Grenzüberschreitung. Insbesondere in einer zunehmend säkularen Gesellschaft wird das Auslegen religiöser Schriften in einem neutralen Raum wie einem Hotelzimmer als unangemessen oder gar störend wahrgenommen.
Hotel als Missionsort
Die blauen Bibeln sind das Markenzeichen des Gideonbundes, einer evangelikal geprägten Organisation, die 1899 in den USA gegründet wurde. Ihre Mission: die weltweite Verbreitung des Evangeliums – nicht nur in Hotelzimmern, sondern auch in Schulen, Krankenhäusern und Flüchtlingsunterkünften. Dabei inszeniert sich der Gideonbund gerne als karitative Hilfsorganisation. Doch hinter der Fassade steht ein klares Ziel: Menschen ohne deren Zustimmung mit den Grundlagen des Christentums zu konfrontieren, ungeachtet ihrer persönlichen Weltanschauung.
Besonders das Hotel spielt in der Geschichte des Gideonbundes eine symbolträchtige Rolle. Der Gründungsmythos führt zurück ins Jahr 1898, als der Handelsreisende John H. Nicholson und der Geschäftsmann Samuel E. Hill im "Central House" in Boscobel, Wisconsin, gezwungen waren, sich ein Zimmer zu teilen, da alle Hotels ausgebucht waren. Ein perfektes Match: Die beiden überzeugten Christen fanden sofort eine gemeinsame Basis, lasen zusammen in der Bibel und beteten vor dem Schlafengehen. Ein Jahr später gründeten sie eine Organisation, die christliche Werte vermitteln sollte und sich in den Dienst der Verbreitung des Evangeliums stellte. Der Gideonbund war eine Erfolgsgeschichte. "Now, Rocky Raccoon, he fell back in his room, only to find Gideon's Bible. Gideon checked out, and he left it, no doubt", sangen bereits die Beatles. Heute agiert der Gideonbund weltweit in rund 200 Ländern, in Deutschland ist die Vereinigung evangelischer und freikirchlicher Christen seit 1958 aktiv und zählt über 4.000 Mitglieder.
Rückgang der Verbreitung
Während der Gideonbund selbst sein Engagement als "Nächstenliebe" darstellt, wird diese Form der Missionierungssarbeit immer häufiger kritisiert. Religiöse Neutralität ist in einer pluralistischen Gesellschaft ein hohes Gut, das durch solche Aktionen infrage gestellt wird. Für manche Hoteliers gehört die Bibel zum Inventar, wenngleich sie in den Beherbergungsbetrieben inzwischen immer seltener zu finden ist. Anke Cimbal, die Pressesprecherin der Best Western Hotels betont die unternehmerische Selbstständigkeit der einzelnen Häuser: "Ob und in welcher Form Bücher, Bibeln oder sonstige Schriftstücke Gästen zur Verfügung gestellt werden, entscheidet jedes Hotel eigenständig."
Zugegeben: Der Gideonbund hat es gegenwärtig nicht leicht. Die Zeiten haben sich gewandelt, der säkulare Wind bläst ihm eisig entgegen. Die Nachfrage nach den Hotelbibeln sinkt seit Jahren: 2006 wurden in Deutschland noch 48.000 Exemplare angefordert, 2016 nur noch 26.000, und 2023 waren es gerade einmal 13.000. Viele Hoteliers distanzieren sich zunehmend von der Praxis, da sie ihre Gäste nicht mit religiöser Symbolik konfrontieren möchten. "Wir möchten einen neutralen und inklusiven Raum für alle Gäste schaffen", erklärt Inken Mende von Motel One, einer Hotelkette, die bewusst keine religiösen Schriften in ihren Zimmern auslegt.
Ein ganz anderes Bild zeigt sich in Bildungseinrichtungen und Tagungszentren, vor allem unter kirchlicher Trägerschaft. Dort gehört die Gideonbibel noch immer zur Grundausstattung des Hauses, so beispielsweise im Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum Pappenheim in Mittelfranken, wo auch Seminare und Fortbildungen für Lehrkräfte und Klassenfahrten stattfinden.
Politische Rückendeckung und doppelte Standards
Trotz schwindender Nachfrage genießt der Gideonbund weiterhin prominente Unterstützung in der deutschen Politik und ist fest in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verankert. So bedankte sich Wolfgang Schäuble 2019 als Bundestagspräsident für die Übergabe der 25-millionsten Gideonbibel in Deutschland und sagte: "Wenn ich in ein Hotelzimmer komme und dort eine Bibel liegen sehe, dann ist es für mich so, als käme ich heim." Auch ehemalige Bundespräsidenten wie Johannes Rau und Horst Köhler äußerten sich anerkennend über das Engagement des Bundes.
Diese wohlwollende Haltung erscheint aber kritisch hinterfragbar, insbesondere wenn man sie mit der öffentlichen Reaktion auf andere religiöse Gruppen vergleicht. So löste die Verteilung des Korans durch salafistische Gruppen in Deutschland breite Empörung aus – ein Protest, der bei den Gideons erstaunlicherweise ausbleibt. Dabei verfolgen beide Initiativen letztlich ein ähnliches Ziel: die Verbreitung einer religiösen Botschaft unter dem Deckmantel eines Geschenks. Und das "Geschenk" des Gideonbundes hat noch einen Pferdefuß, denn der Beschenkte wird aufgefordert, in der Bibel seinen Namen einzutragen und damit Jesus Christus als seinen Retter anzuerkennen.
Verteilt werden die Gideonbibeln – sie beinhalten das gesamte Neue Testament sowie die Psalmen und Sprichwörter des Alten Testaments – in Seniorenheimen, aber auch in Krankenhäusern und Arztpraxen, in Autobahnraststätten wartet das Evangelium auf Kraftfahrer, auf Kreuzfahrtschiffen auf betuchte Reisende. Selbst in Flüchtlingsunterkünften sollen Menschen aus anderen Kulturkreisen Bibeln in ihrer eigenen Muttersprache erhalten – sei es in Arabisch, Farsi oder Tigrinya. Laut Gideonbund wurden 2022 noch immer rund 530.000 Exemplare der blauen Bibel in Deutschland verteilt.
Proteste von Eltern haben dazu geführt, dass inzwischen kaum mehr Bibeln an Schulen verteilt werden, wobei die Entscheidung letztlich der jeweiligen Schulverwaltung obliegt. Interessant ist ein Statement des Fachbereichs Weltanschauungsfragen der Erzdiözese München und Freising, die der Verteilung der Bibeln prinzipiell positiv gegenübersteht, aber aufgrund des evangelikalen Hintergrunds des Gideonbundes zur abschließenden Auffassung gelangt: "An katholischen Konfessionsschulen ist die Aktion nicht dienlich und hat zu unterbleiben."
Ein Relikt vergangener Zeiten?
Die schwindende Verbreitung der Gideonbibel in Hotels spiegelt die wachsende Distanz von Wirtschaftsunternehmen zu institutionalisierter Religion wider. Gleichzeitig zeigt sie den Wandel hin zu einer stärkeren Betonung von Neutralität und Respekt gegenüber den Überzeugungen aller Gäste. Während Bibeln für manche Reisende ein willkommener Begleiter sind, sehen andere sie als Relikt vergangener Zeiten – ein Symbol für die Missionierung, die in einer säkularen Gesellschaft als störend und übergriffig empfunden wird.
Vielleicht ist es an der Zeit, sich die Frage zu stellen, ob Bibeln wirklich noch in Hotelzimmer und Tagungszentren gehören? Oder sollte ein Rückzugsort wie ein Hotel vielmehr ein neutraler Raum bleiben – frei von jeglichem religiösen Einfluss, gleich welcher Herkunft?
Gerade in Tagungs- und Bildungszentren, die als Orte des offenen Austauschs, der Innovation und der Begegnung von Teilnehmern unterschiedlichster kultureller Hintergründe dienen, ist Neutralität von besonderer Bedeutung. Hier kommen Menschen zusammen, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln, über Themen zu diskutieren und sich auf beruflicher Ebene weiterzubilden. Ein solcher Ort muss ohne Symbole oder Gegenstände auskommen, die eine spezifische Weltanschauung oder Religion bevorzugen. Wichtig ist es, stattdessen Bildungsräume zu schaffen, die frei von jeglichem religiösen Einfluss sind.
9 Kommentare
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Kommentare
Diamond Namara am Permanenter Link
Man kann hübsch darin herumkommentieren.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Indoktrination von der Wiege bis zur Bahre, auf dem Weg zur Vernunft und Ablehnung von
erfundenen Glaubensbekenntnissen aller Couleurs.
Roland Fakler am Permanenter Link
In der Bibel werden uns nicht nur intolerante Idioten wie Moses, Elias, Joshua und Gideon als Vorbilder präsentiert, manchmal enthält die Geschichte auch eine Weisheit, so wie die von Gideon.
epikur am Permanenter Link
Die Kliniken wurden vergessen.
Patienten, also gesundheitlich beeinträchtigte Menschen, die nicht dem christlichen Glauben anhängen, werden bei der Lektüre dieses Machwerks also darüber aufgeklärt, dass sie im Falle ihres Ablebens ins ewige Höllenfeuer kommen.
Ob sich je ein Betroffener, der ja auf die Hilfe der Ärzte angewiesen ist, sich je beschwerte, wag´ ich zu bezweifeln.
Die ersten leeren Seiten der Bibel nutze ich persönlich, um Verse des NT´s, die den Umgang Jesu mit Nichtchristen beschreiben, in den Focus zu setzen und sie entsprechend kommentiere.
Horst Fetter am Permanenter Link
Ich halte es für eine gute Idee, wenn anstatt der Bibel wissenschaftliche Bücher, Berichte oder Zeitschriften ausgelegt werden.
Thorsten am Permanenter Link
Eine Bibel im Nachttisch stört mich nicht. Von mir aus kann da auch ein Koran liegen, die Odyssee, Grimms oder andere Märchensammlungen.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Nur die Bibel ist halt allerdings allzu dürftig. Das Studium einer riesigen Bibliothek ist laut KKK notwendig und immer noch nicht ausreichend, um die Bibel "richtig" zu lesen.
Die Kapitel 109 ff (ERSTER TEIL DAS GLAUBENSBEKENNTNIS / ERSTER ABSCHNITT ,,ICH GLAUBE" - ,,WIR GLAUBEN" / ZWEITES KAPITEL GOTT GEHT AUF DEN MENSCHEN ZU / ARTIKEL 3 DIE HEILIGE SCHRIFT / I Christus - das einzige Wort der Heiligen Schrift) des Katechismus der katholischen Kirche (KKK) geben vor, diese Frage zu beantworten. Da wird, wie üblich möchte man fast sagen, im Schweinsgallopp querbeet alles mögliche aufgeführt; deshalb habe ich das mal aufgedröselt und in eine sytematische Form gebracht. Evtl. Unklarheiten der Begriffe sind dem KKK geschuldet.
»(104) „...In den Heiligen Büchern kommt nämlich der Vater, der in den Himmeln ist, seinen Kindern liebevoll entgegen und hält mit ihnen Zwiesprache"«
Der Satz lässt schon mal ratlos mit vielen Fragen zurück:
Nur der VATER der Heiligen Dreifaltigkeit ?
Himmel im Plural ?
Dort in den Himmeln IST der Vater ? Kinder ? Entgegen kommen ?
Wie man Zwiesprache mit einem Buchtext (!!!) hält bleibt wohl das Geheimnis der Verfasser des KKK aber das soll der Grundansatz der Heiligen Schriften sein !
Und was bedeutet die Überschrift „Christus - das einzige Wort der Heiligen Schrift“ ?
Aber zum Thema: das muss man alles können, kennen und wissen:
01. (109) wissen und „darauf achten“, was die menschlichen Verfasser wirklich (!) sagen wollten (!)
02. (109) wissen und „darauf achten“, was Gott durch ihre Worte uns offenbaren wollte
03. (110) die Verhältnisse ihrer* Zeit kennen
04. (110) die Verhältnisse ihrer* Kultur kennen
05. (110) die zu der betreffenden Zeit* üblichen literarischen Gattungen kennen
06. (110) die damals geläufigen Denkformen kennen
07. (110) die damals geläufigen Sprechformen kennen
08. (110) die damals geläufigen Erzählformen kennen
09. (111) den Geist, in dem sie geschrieben wurde kennen
10. (112) den Inhalt der ganzen Schrift kennen
11. (112) die Einheit der ganzen Schrift kennen
12. (113) die lebendige Überlieferung der Gesamtkirche kennen
13. (114) den Zusammenhang der Glaubenswahrheiten untereinander kennen
14. (114) den Gesamtplan der Offenbarung kennen
15. (116) die Regeln der richtigen Textauslegung kennen
16. (117) die Bedeutung der Ereignisse, die sie in Christus haben, kennen
17. (117) das richtige Handeln kennen
18. (117) die ewige Bedeutung kennen
1. Kann irgendjemand diese Voraussetzungen erfüllen ?
2. Wie vertrauenswürdig ist jemand, der von sich behauptet, er könne das alles ?
3. Was muss man von jemandem halten, der solches im KKK formuliert ?
Das zeugt n.m.M. von einer bodenlosen Geringschätzung der Geistesfähigkeiten der Leser des KKK.
Kritik der Anforderungen im Einzelnen:
01. 02.
Man soll schon wissen, was man gemeinhin durch das Lesen eines Textes erst erfahren will.
03. – 09.
Man soll „kennen“, was, kurz zusammengefasst, Menschen, von denen keiner genaues weiß, zu einer Zeit, die man nicht genau bestimmen kann, gedacht und gefühlt haben.
10.
Wer kann das von sich behaupten ? Und in welcher Übersetzung ?
11.
Was ist unter „Einheit der ganzen Schrift“ zu verstehen ?
12.
siehe zu 10 ! Und was ist von dieser Überlieferung noch „lebendig“ ?
13. 14.
Gibt es da wirklich einen Zusammenhang ? Oder einen Gesamtplan ? Echt ?
15. – 18.
siehe 01. und 02.
„Bedeutung … IN Christus“ ?
„EWIGE Bedeutung“ ?
Unechter Pole am Permanenter Link
Es ist schon bezeichnend, dass diese Evangelikalen auf die alttestamentarischen Bibelteile mit den brisantesten Stellen verzichten. Warum wohl?
In einem deutschen Hotel (ich weiß nicht ob es eine Kette oder „Eigenmarke“ war) habe ich einmal nur in einem Heft, zwischen der Beschreibung der Öffnungszeiten der Sauna, der Lage des Snackautomaten und der Preise der Mikroweinflaschen aus der Minibar eine Angabe gefunden, dass es eine Bibel, einen Koran oder Talmud etc. auf Nachfrage bei der Rezeption gibt. Leider hatte ich keine Zeit bei der Rezeption nachzufragen, wie oft man dort diese Bücher ausgeliehen werden.
Lila Farfalla am Permanenter Link
Also, ich plädiere für die Auslage von Darwins "Die Entstehung der Arten" in allen Hotelzimmern.