Je protestantischer ein Land ist, desto weniger anfällig ist es für Korruption. Diese erstaunliche
<Meldung> verbreitete die evangelische Nachrichtenagentur "idea" gestern unter Berufung auf einen <Artikel>, den der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann in der Zeitschrift "Der Überblick" (Ausgabe 2/2006) veröffentlicht hatte. Von Alemann wertet in diesem Artikel den jährlich von der Organisation "Transparency International" publizierten <Korruptionsindex> aus. Dieser enthält eine Liste mit 159 Staaten, die jeweils nach der wahrgenommenen Häufigkeit von Korruption bewertet und in eine Rangfolge gebracht werden. Im Jahr 2005 am wenigsten von Korruption betroffen waren laut der Studie Island, Finnland, Neuseeland, Dänemark, Singapur, Schweden, Schweiz, Norwegen, Australien, Österreich, die Niederlande und Großbritannien.
Aus dieser Rangliste zieht von Alemann die überraschende Schlussfolgerung, dass es einen "eindeutigen" Zusammenhang zwischen Korruption und Konfession gebe, der "kein Zufall" sein könne, denn schließlich seien die Staaten, in denen am wenigsten Korruption auftrete, "fast durchweg protestantisch". Der Autor stellt also die Behauptung auf, dass der Protestantismus sich in dieser Hinsicht positiv auf das Verhalten der Menschen auswirkt. Doch ist diese These tatsächlich haltbar?
Zunächst ist festzustellen, dass in der Studie selbst über den Zusammenhang von Konfession und Korruption überhaupt keine Aussage getroffen wird. Von Alemann interpretiert die Daten jedoch so, dass er sich ein gemeinsames Merkmal der Spitzengruppe herausgreift und dieses zumindest implizit als ursächlich für deren hohe Platzierung hinstellt: die überdurchschnittliche Verbreitung des Protestantismus. Der Autor bietet jedoch keinerlei Belege dafür, dass dieses Merkmal tatsächlich kausal mit dem niedrigen Grad der Korruption zusammenhängt.
Es wäre ebenso leichtfertig, aus dem gemeinsamen Auftreten anderer Merkmale in der Spitzengruppe unbedarft auf deren Ursächlichkeit für die geringe Korruptionsrate zu schließen. So würde etwa niemand behaupten, die niedrige Korruptionshäufigkeit in Skandinavien werde durch die hohe Anzahl der Internetanschlüsse pro Einwohner in dieser Region verursacht, nur weil die Merkmale "geringe Korruptionsrate" und "hohe Anzahl von Internetanschlüssen" dort gleichzeitig auftreten. Umgekehrt ist der auffällig hohe Grad der Religiosität, den man in den Staaten der Schlussgruppe (Haiti, Myanmar, Turkmenistan, Bangladesch, Tschad) vorfindet, noch kein zwangsläufiger Beleg dafür, dass Religiosität generell die Korruption begünstigt.
Die Frage nach den Gründen für die Korruption ist also eine wesentlich komplexere. Wie von Alemann auch selbst einräumt, scheinen viele andere Faktoren wie der Wohlstand, das politische System und die politische Kultur eines Landes das Ausmaß der Korruption zu beeinflussen. Ob diese Faktoren tatsächlich einen Einfluss ausüben und wie stark dieser mögliche Einfluss ist, müsste jedoch gesondert untersucht werden, da dies aus einer reinen Rangfolge nicht abgeleitet werden kann.
Zudem werden Daten aus der "Transparency International"-Studie, die der These "Je protestantischer ein Land, desto weniger anfällig ist es für Korruption" entgegenstehen, nicht berücksichtigt. So ist Kenia ebenfalls ein Land mit überdurchschnittlich protestantischer Bevölkerung, landet aber auf dem Korruptionsindex auf einem kläglichen 144. Platz. Der lineare Zusammenhang, den von Alemann als "hartes Faktum" darstellt, existiert also offenbar nicht.
Weiterhin stellt sich die Frage, was der Autor überhaupt unter einem "protestantischen Staat" versteht. Es stimmt zwar, dass der Protestantismus in den meisten Staaten der Spitzengruppe verbreiteter ist als in anderen Staaten weltweit. Deswegen von "protestantischen" Staaten zu sprechen, wie von Alemann es tut, stellt jedoch eine übertriebene Vereinfachung dar. Die Sozialstruktur in westlichen, pluralistischen Gesellschaften ist zu heterogen, als dass man sie als "protestantische" oder "katholische" Staaten bezeichnen könnte. Des weiteren ist bekannt, dass die formale Konfessionszugehörigkeit in vielen Fällen nicht mit der Bejahung bestimmter kirchlicher Glaubensinhalte oder Moralvorstellungen einhergeht. Dadurch verliert der von von Alemann hergestellte Zusammenhang zwischen Konfession und integerem Verhalten nochmals an Plausibilität.
Von Alemann kann somit nicht schlüssig zeigen, dass der Protestantismus sich tatsächlich - wie sein Artikel suggeriert - günstig auf das Verhalten der Bevölkerung auswirkt. Der immer wieder behauptete positive Einfluss der Religion auf die Moral bleibt damit bis auf Weiteres unbelegt. Die Studie <"Morality without Religion"> aus dem Jahr 2005 legt etwa den Schluss nahe, dass die Wurzeln der Moral in der Evolution, und nicht in der Religion zu finden sind. Die Teilnehmer der Studie sollten beantworten, wie sie bestimmte Verhaltensweisen moralisch bewerten. In den Befragungsergebnissen war kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Antworten religiöser und nichtreligiöser Teilnehmer zu finden. Die Religiosität übte also keinen nachweisbaren Einfluss auf ihre Moral aus. Es bleibt abzuwarten, ob diese Ergebnisse in zukünftigen Untersuchungen erhärtet werden.
Es scheint also insgesamt unangebracht, Protestanten ein besseres Sozialverhalten zu attestieren als anderen Bevölkerungsgruppen - genauso, wie es falsch wäre, Hindus oder Atheisten pauschal als die "besseren Menschen" zu bezeichnen.
Klaas Schüller