Deutschlands Chance

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Eran Sadeh. Fotos: Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Die Beschneidungsdebatte aus Perspektive des Kinderschutzes: Gestern fanden sich Kinderrechtler in der Bundespressekonferenz zusammen, um gemeinsam an die Politik zu appellieren. Sie fordern ein Moratorium und die Einrichtung eines Runden Tisches in der Diskussion um Beschneidungen von einwilligungsunfähigen Jungen. Der hpd war vor Ort.

Zunächst erklärte Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe e.V., das Urteil des Landgerichts Köln habe Menschen in Deutschland zu Reaktionen bewegt. Es ginge, juristisch gesehen, um Fragen der körperlichen Unversehrtheit, Elternrecht versus Kinderrecht, um einen juristischen Notstand (wie bereits drei Wochen zuvor vom Ethikrat thematisiert wurde). Die Diskussion habe zu Verstörungen geführt: Die Bevölkerung sei verstört, dass ein Beschneidungsverbot das Ende des jüdischen Lebens bedeuten solle, dass ein Beschneidungsverbot mit dem Holocaust verglichen wird sowie von den Politikern, die den Grundkonsens einer Demokratie verlassen haben. Es gebe keine breite gesellschaftliche Debatte.

So sei etwa die bereits am 23. Juli 2012 eingereichte Petition, die von zahlreichen renommierten Verbänden und Einzelpersonen getragen werde, bislang nicht vom Deutschen Bundestag in ihr Online-Petitionssystem angenommen worden, der erste Antrag wurde gar abgelehnt. Dabei handele es sich bei der Beschneidungsfrage nicht um eine deutsche, sondern um eine internationale Debatte.

Ein Appell an die Bundeskanzlerin

Eran Sadeh, der Gründer von Protect the Child, Israel, richtete seinen Vortrag direkt an die Bundeskanzlerin, an die Mitglieder des Deutschen Bundestages und die deutschen Bürgerinnen und Bürger. Sehr eindrucksvoll und persönlich schilderte Sadeh, wie er aufgrund eigener Erfahrungen dazu kam, seinen Sohn nicht beschneiden zu lassen und wie er schließlich begann, sich gegen die Amputation der Vorhaut zu engagieren. Dies trug ihm und anderen israelischen Beschneidungsgegnern übrigens den Vorwurf des Antisemitismus ein.

Sadeh beschrieb die Komplikationen bei der Vorhautbeschneidung, die dazu führen, dass jährlich allein in Israel hunderte von kleinen Jungen zu Notaufnahmen und Operationssälen gebracht werden. Er schilderte, wie eine jüdische rituelle Beschneidung nach jüdischem Recht zwingend erforderlich abläuft, bei der der Mohel den blutenden Penis in den Mund nimmt und das Blut absaugt. Er selbst, so Sadeh, werde wegen der Amputation seiner Vorhaut nie in der Lage sein, „Sex so genießen zu können, wie die Natur es vorgesehen hat.“

Sein Appell ging an die Ärzte, keine religiös motivierten Beschneidungen durchzuführen, da deren erstes Gebot der Bioethik laute: „Füge keinen Schaden zu.“ Eran Sadeh will eine öffentliche, medizinische und juristische Debatte in Deutschland ermöglichen, bevor ein Gesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet wird. Er appellierte auch an Bundeskanzlerin Merkel, wies sie darauf hin, dass die Bewegung zur Zwangsbeschneidung von Minderjährigen eine globale Bewegung sei. Deutschland solle eine Vorreiterrolle beim Schutz der Menschenrechte von Kindern übernehmen.

Das erste ärztliche Gebot

Dr. Ulrich Fegeler, Pressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte e.V., setzte zwei Schwerpunkte: Erstens bestehe eine ärztliche Verpflichtung, nicht zu schaden, dies sei das erste ärztliche Gebot. Zweitens sei zu entscheiden, auf was es nun ankomme. Bei der Beschneidung handele es sich um eine Körperverletzung. Bei einer Operation, einer Spritze, einer Impfung handele es sich zwar auch um Körperverletzungen, diese dienten aber dem Wohle des Patienten, dienten der Heilung. Die Zirkumzision habe aber keinen medizinischen Auftrag, stehe im Widerspruch zum klassischen Auftrag der Heilung.

Auch sei die Nachhaltigkeit des Eingriffs zu bedenken, die Entfernung von einem Stückchen Haut mit besonderen Fähigkeiten, die höchstens mit Augenlidern, Fingerspitzen und Lippen zu vergleichen seien. Kein anderes Organ sei mit derart sensorischen Fähigkeiten ausgestattet wie die Vorhaut. Außerdem diene sie dem Schutz der Eichel. Beschneidungen dürften, so sein Plädoyer, nicht bei Kindern durchgeführt werden, erst wenn diese ein einwilligungsfähiges Alter erreicht hätten.

Irmingard Schewe-Gerigk, Vorstandsvorsitzende Terre des femmes e.V., begründete, weshalb sich eine Frauenrechtsorganisation für die Rechte kleiner Jungen einsetzt. Terres des femmes träte, so Schewe-Gerigk, für Menschenrechte für Kinder ein. Es gebe Formen der Beschneidung von Mädchen („Pharaonenbeschneidung“), welche mit der Zirkumzision nicht zu vergleichen seien, da hier Klitoris und Schamlippen abgeschnitten und anschließend die Vagina zugenäht werde. Aber das Beschneiden der Klitoris-Vorhaut sei ein ähnlicher Eingriff wie die Beschneidung der Penis-Vorhaut. Sie fragte: „Wie kann die Bundesjustizministerin den gleichen Eingriff bei Jungen erhalten, der bei Mädchen verboten ist?“

Psychotraumatische Langzeitfolgen

Prof. Dr. Matthias Franz, Stellvertretender Direktor des Klinischen Instituts für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düsseldorf, sprach über die psychotraumatischen Langzeitfolgen der Genitalbeschneidung von Jungen. Als Therapeut und Wissenschaftler seien bei Männern in Folge der Beschneidung immer wieder große Ängste vor sexuellen Kontakten und psychosomatische Beschwerden festzustellen. Gemeinsam sei den Betroffenen, dass sie auch als Erwachsene Schmerzen, Verwachsungen, einen Sensibilitätsverlust und an sexuellen Störungen litten.

Die Medikalisierung eines Menschrechtsproblems verschleiere, so Franz, dass aufgrund von klerikale Machtansprüchen, Gruppendruck, unreflektierten Traditionen und Schuldgefühlen kleinen hilflosen Jungen das Trauma der Genitalbeschneidung zugefügt werde.

Debatte statt Schnellschuss

Auf die Frage, weshalb man mit der Thematik erst jetzt an die Öffentlichkeit gehe, erwiderte Franz, dies sei dem Respekt und der Achtung vor religiösen Tabus sowie Ängsten vor der Debatte geschuldet. Die Diskussionen zum Thema seien zunächst nur in Expertengruppen geführt worden. Erst das Kölner Urteil habe dazu geführt, dass die Beschneidung die breite Öffentlichkeit erreichte. Auch Ehrmann meinte, das Urteil sei zur Sensibilisierung nötig gewesen, das Thema sei jahrelang ignoriert und tabuisiert worden. Anstelle eines gesetzlichen Schnellschusses, wie etwa von Seehofer in einem Israel-Besuch angekündigt, solle jetzt aber die Debatte geführt werden.

Auf die Frage, ob durch ein Verbot der Beschneidung diese in Hinterhöfen durchgeführt werden (wie von zahlreichen Religionsvertretern angedroht), erwiderte Ehrmann, diese Unterstellung unterschätze das Verantwortungsgefühl jüdischer Eltern. Er appellierte an religiöse Vertreter, keinen Druck aufzubauen und in die Debatte, in den Dialog einzusteigen. Strafrecht sei nie eine Lösung. Wir brauchen, so Fegeler, eine offene Diskussion dazu, ob das Kind im Vordergrund stehe oder die Eltern. Die Totschlagargumente der Religionsvertreter („Antisemitismus“) seien das falsche Vorgehen. In Großbritannien gebe es eine breite Bewegung, die eine symbolische Beschneidung durchführten.

Eran Sahel erzählte, dass die Bewegung in Israel wachse, mithilfe des Internets könne man sich heute sehr gut Informationen verschaffen. Vor einigen Jahren habe eine entsprechende Studie ergeben, dass noch 97 Prozent der Jungen in Israel beschnitten würden, 30-40 Prozent gaben an, ihre Motivation liege in dem Wunsch, mit der gesellschaftlichen Norm übereinzustimmen. Wir können aber, so Sahel, die gesellschaftliche Norm verändern, die Zahl der Beschneidungsgegner wachse. Man könne den Prozess nicht hindern: „Wir haben unsere Augen aufgemacht.“ Allerdings traue sich das israelische Gesundheitsministerium nicht, die Informationen über die Beschneidungsrisiken zu veröffentlichen, aus Angst vor religiösen Repressionen.

„Es ist verboten!“

Warum denn nur ein Runder Tisch und kein Verbot gefordert würde, führte zur Aussage Ehrmanns: „Es ist verboten! Das wurde vom Landgericht Köln festgestellt.“ Allerdings sah er das Strafrecht als die schlechteste Lösung an, es gehe darum, langfristig das Problem zu lösen. Man wolle, so Schewe-Gerigk, verhindern, „dass jetzt ein Gesetz durchgeht, was die Diskussion abwürgt.“ Die Erfahrungen mit Mädchen hätten gezeigt, dass nur noch einzelne Eltern in die Illegalität gingen, so dass Genitalbeschneidungen noch im Herkunftsland stattfänden oder Beschneiderinnen eingeführt würden, ein Verbot habe somit eine Signalwirkung.

Weshalb überhaupt Beschneidungen am Penis durchgeführt würden, darüber ließ sich Matthias Franz aus. Er meinte, es handele sich dabei „höchstwahrscheinlich“ um eine Form der patriarchalen Triebkontrolle, indem man kleinen Kindern Angst mache. Die angedeutete Kastration diene der Kontrolle des Aggressionspotenzials innerhalb der Gruppe. Später erst sei diese von Generation zu Generation weitergereichte Praxis auch von Religionen übernommen worden.

Auch mit Anästhesie als Hintertür stelle, so Fegeler, die Beschneidung der Vorhaut eine Körperverletzung dar. Ärzten sei empfohlen, den Eingriff überhaupt nicht durchzuführen, es sei denn, er wäre medizinisch zwingend notwendig. Sadeh stimmte ein, dass man mit dem Eingriff dem Körper Schaden zufüge. Religiöse Führer würden jedoch nicht anerkennen, dass es andere Rechte gebe als ihre religiöse Freiheit.

Information und Aufklärung statt Strafe

Insgesamt, so war man sich einig, sei Information das probate Mittel, der Beschneidung beizukommen. Ähnlich wie beim Züchtigungsverbot, das 2000 eingeführt wurde oder beim Wahlrecht für Frauen, existierten zahlreiche Beispiele für althergebrachte Traditionen, die überholt wurden. Vielen Eltern seien die Begleiterscheinungen und Konsequenzen der Beschneidung gar nicht bewusst. Ein konstruktiver Dialog und Aufklärung könnten helfen. Verständnis etwa für „jüdische Ängste“ sei notwendig, da die Beschneidung für (viele) Juden Ausdruck jüdischen Überlebens darstelle.

Sadeh mahnte an dieser Stelle, dass Religionsfreiheit in Deutschland nicht absolut sein sollte bis zu einem Punkt, an dem Kritik nicht mehr gehört werden könne. Nun werde „die Vergangenheit ausgebeutet, um Kritik zu blockieren“. Selbst in Israel werde Information über Zirkumzision als Antisemitismus bezeichnet. Dasselbe treffe auf New York zu, als der Bürgermeister Bloomberg versucht habe, Informationsblätter zur Beschneidung einzuführen, welche von den Eltern unterschrieben werden sollten. Bloomberg sei da als Antisemit bezeichnet worden.

In der Petition, welche die Teilnehmenden unterstützen, fordern die Deutsche Kinderhilfe, der Bund Deutscher Kriminalbeamter, der Bund Katholischer Ärzte und weitere Verbände sowie zahlreiche Privatpersonen, dass der Deutsche Bundestag beschließen möge, „zunächst für zwei Jahre zwei Jahre keine gesetzlichen Schritte zur Legalisierung der Beschneidung von Jungen in Deutschland zu ergreifen. Weiterhin möge der Deutsche Bundestag die Einsetzung eines Runden Tisches mit Sachverständigen der betroffenen Religionsgemeinschaften und Fachgebiete beschließen, um das Thema Beschneidung wissenschaftlich fundiert zu diskutieren und Lösungen zu erarbeiten, welche alle Interessen, vor allem aber die Belange des Kindeswohls, berücksichtigt.”

Es geht um Information der Öffentlichkeit, um Aufklärung der Eltern und sonstiger Verantwortlicher zum Wohl der Kinder. Was lange Zeit lediglich von juristischen und ärztlichen Expertengruppen diskutiert war, ist jetzt, anlässlich des Urteils des Landgerichts Köln, ein öffentliches Thema geworden. Ein gesetzlicher Schnellschuss, der Religionsverbände auf Kosten des Kindeswohles „ruhigstellen“ soll, würde diese Diskussion blockieren.

Es ist zu hoffen, dass die Stimmen kritischer Juden neben den Stimmen von Kriminalbeamten und Kinderrechtlern, von Richtern, katholischen Ärzten, Kinder- und Jugendärzten den Politikern zum Nachdenken verhelfen. Es geht um die Kinder, nicht gegen die Religion. Riten können verändert, Traditionen können angepasst werden. Jugendliche und Männer können sich auf ihren eigenen ausdrücklichen Wunsch hin immer noch beschneiden lassen. Aber bitte doch keine winzigen Säuglinge und Kinder. Deutschland hat eine historische Chance, die Rechte von Kindern zu stärken und, ja, einen Präzedenzfall für Europa und die Welt zu schaffen. Hoffentlich wird diese Chance von unseren Volksvertretern wahrgenommen.

Fiona Lorenz

 

Fotos und Video auf den Folgeseiten

Ulrich Fegeler, Eran Sadeh, Irmingard Schewe-Gerigk, Matthias Franz

Irmingard Schewe-Gerigk

 

Georg Ehrmann

 

Eran Sadeh

 

Matthias Franz

 

Ulrich Fegeler