BERLIN. An wen öffentlich gedacht wird und warum sagt viel über das Erinnerungsvermögen einer Menschengruppe. Und wenn dann noch Ideen
sichtbar fortleben, kann von entwickelter Geschichtskultur gesprochen werden.
Wie jedes Jahr am 17. Januar, gedachten auch am heutigen Mittwoch Nachmittag Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des „Humanistischen Verbandes Deutschlands“ (HVD) mit einer Kranzniederlegung Max Sievers.
Er ist vielen im Gedächtnis und wird unterschiedlich erinnert, als <Sozialdemokrat> (hier leider mit falschem Geburtsdatum), als <Antifaschist> im aktuellen Streit darum, was gegen die neuen Nazis zu tun wäre, und anderweitig. Bücher sind über ihn erschienen, darunter das von Heiner Jestrabek, der ihn als <Freidenker, Sozialist und Antifaschist> würdigt, ein Teil des Textes findet sich <hier>.
Die Humanisten ehren ihn als Vorkämpfer für Freidenkertum und Feuerbestattung, als jemand, der gezeigt hat, dass die Verbindung von kämpferischem Freidenkertum und praktischem Humanismus funktionieren kann. Heute ist der 63. Todestag des ersten Vorsitzenden des „Deutschen Freidenker-Verbandes“, dem zu Ehren sich seine Nachfolger an seinem Grab auf dem Weddinger Friedhof in der Gerichtsstraße versammeln.
„Max Sievers hat sich sein Leben lang für politische und weltanschauliche Toleranz, Humanität und Freigeistigkeit eingesetzt und ist gegen Unfreiheit und die Ausgrenzung Andersdenkender aufgetreten. Diesen Kampf bezahlte er im Nationalsozialismus mit seinem Leben. Unsere Aufgabe ist es, für humanistische Werte einzutreten, die Erinnerung an diesen mutigen Menschen wach zu halten, seine Schriften und sein praktisches Werk zu studieren. Mir persönlich hat immer imponiert, wie er seine Vorstellungen über Rätesozialismus, seine Mitgliedschaft in der SPD, sein konsequentes Eintreten für Konfessionsfreie und seine praktische vielfältige ’dissidentische Fürsorge’ zu verbinden verstand“, so Dr. Horst Groschopp, Bundesvorsitzender des HVD.
Der 1887 geborene Max Sievers (siehe Anhang) arbeitete ab 1922 als hauptamtlicher Geschäftsführer des 1905 in Berlin gegründeten Vereins der Freidenker für Feuerbestattung. Als der Verein sich 1930 in Deutscher Freidenker-Verband umbenannte, wurde er dessen erster Vorsitzender. Sievers, der von 1918 bis 1920 im Arbeiter- und Soldatenrat Neukölln und als Stadtverordneter der USPD schon politisch aktiv war, machte den Deutschen Freidenker-Verband zu einer bedeutenden säkularen Kulturorganisation mit 600.000 Mitgliedern. Die praktische Arbeit des Verbandes fand großen Anklang bei der konfessionslosen Bevölkerung: Der Verband lud zu Filmvorführungen, Konzerten und naturwissenschaftlichen Vorträgen ein und veranstaltete freigeistige Feierstunden und Jugendweihen. Besonders setzte er sich für eine säkulare Bestattungskultur ein.
Max Sievers war kein großer Theoretiker, obwohl viele seiner Schriften große Verbreitung fanden. Er war der politische Manager des Verbandes. Profunder Sachverstand und politischer Weitblick zeichneten ihn aus. In kluger politischer Voraussicht schaffte er in den Jahren 1931/32 rund 700.000 Reichsmark Vereinsvermögen ins Ausland. Am 17. März 1933 überfiel die SA die Zentrale des Freidenker-Verbandes in der Gneisenaustraße 41 in Berlin-Kreuzberg (siehe Anhang). Die Nazis stuften den Freidenker-Verband als staatsfeindlich ein, verboten ihn und beschlagnahmten Vermögen und Immobilien. Die Angestellten wurden auf die Straße gesetzt, Verbandsfunktionäre verhaftet oder in die Emigration getrieben. Von nun an konnten die Freidenker nur noch aus dem Untergrund agieren. Die frühzeitig transferierten Gelder ermöglichten die Fortsetzung der politischen Arbeit im Exil.
Der Vorsitzende Sievers wurde für drei Wochen in „Schutzhaft“ genommen. Nach seiner überraschenden Freilassung emigrierte er nach Paris und Brüssel. Von dort aus setzte er seine politisch-publizistische Tätigkeit fort. Bis zur Eingliederung des Saarlandes in das Deutsche Reich 1935 erschien in Saarbrücken weiterhin das Zentralorgan des Verbandes „Der Freidenker“. Ab 1935 gab er die „Sievers Korrespondenz“ (SIKO) und ab 1937 die Wochenzeitung „Freies Deutschland“ heraus, eine der bedeutendsten Exilzeitschriften. Sievers Buch „Unser Kampf gegen das Dritte Reich – von der nazistischen Diktatur zur sozialistischen Demokratie“ von 1939 war ein wichtiges Dokument des deutschen Widerstands und erschien in Stockholm.
Als die Wehrmacht am 17. Mai 1940 Brüssel besetzte, konnte Sievers fliehen und versteckte sich fortan in einem nordfranzösischen Dorf. Am 3. Juni 1943 verhaftete ihn dort die Gestapo und brachte ihn zurück nach Berlin. Max Sievers blieb seiner Überzeugung treu. Auf die Frage des Volksgerichtshofpräsidenten Roland Freisler, ob er Schuld empfinde, entgegnete er: „Schuld? Schuld nur, wenn es eine Schuld ist, dass ich von einer anderen geistigen Substanz bin als die Nationalsozialisten.“ Den Nationalsozialisten war das Schuld genug. Am 17. November 1943 verurteilte der Volksgerichtshof Max Sievers wegen „Vorbereitung zum Hochverrat, der Verbreitung von Hetzschriften und der Begünstigung von Feinden des Reiches“ zum Tode.
In der Urteilsbegründung heißt es, der Angeklagte habe alles zugegeben, was ihm an Zielen und Absichten vorgeworfen wurde, auch wenn er die Wertungen des Gerichts ablehne. „Aber es kommt nicht auf seine Wertungen an, sondern auf die des Nationalsozialismus. Wenn deshalb Sievers meint, sein Verschulden bestehe darin, dass er anders ist als der Nationalsozialismus, so ist das völlig gleichgültig. Auch das ist ein Verschulden, wenn man diesem Anderssein gegen den Nationalsozialismus Ausdruck verleiht...“ So heißt es im Urteilsspruch des Präsidenten des Volksgerichtshofes im November 1943. Am 17. Januar 1944 starb Max Sievers im Zuchthaus Brandenburg-Görden durch das Fallbeil.
Erst auf Betreiben u.a. des HVD hob das Landgericht Berlin am 11. November 1996 dieses nationalsozialistische Unrechtsurteil auf. In der Nachkriegszeit und zuletzt nach der Wiedervereinigung wurden Nachfolge-Organisationen des „Deutschen Freidenker-Verbandes“ Wiedergutmachungsleistungen gezahlt. Mit diesen Geldern hat der HVD die <„Humanismus Stiftung Berlin“> mit dem Ziel gegründet, die praktische humanistische Arbeit im Sinne Max Sievers fortzuführen und nachhaltig zu sichern.
Corinna Telkamp