In Erinnerung an einen schwäbischen Tüftler

Er hatte ein fliegend`Herz

Zudem macht er in vielen Briefen auf seine Lage aufmerksam, sendet permanent Signale in die Welt hinaus. Er schreibt an Rundfunkanstalten und erkundigt sich nach dem Ankauf von Sendezeiten. Er nimmt Kontakt auf zum englischen Sender BBC und macht sich in einem Brief an den Rundfunkdirektor Gedanken über das ferne England: "Ich habe noch nie ein Engländer gesehen. Weiß nicht, ob England existiert, wo es liegt. Gesehen im Karten-Bildbuch, da liegt es immer oben links, Kante der Seite. Ob ich mich mit dem Buch herumdrehe, gegen Süden, Osten, Westen und Norden, liegt es immer da, nach jeder Polrichtung. Ich habe noch nie über den Ärmelkanal hinüber gesehen, darum bin ich wohl ein Schwabe. (….) Von wem stammt der Engländer ab? Das englische Paradies liegt an der Themse, im Lande des Nebels. Da hat Gott und Adam sich einander nicht gesehen (….) In England ist das Christkind im Nebel auf die Welt gekommen und im Nebel wollen sie es auferstehen da keiner ein Ersatz für den Nebel erfunden hat. Wollen, dürfen aber nicht böse sein, ich weiss sonst nichts als Suppenschwab und bringe dies als Unterhaltungsmaßstab."

Der Umzug nach Buttenhausen

1962 verfasst Mesmer seine Autobiographie mit dem Titel: "Biographi unbekannt – Du bist mir im Verständnis so im Geist begegnet". Der damals 59-jährige blickt auf 14 eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten auf sein Leben zurück, das er größtenteils hinter Anstaltsmauern verbringen musste.

Gustav Mesmer in seiner Werkstatt
Gustav Mesmer in seiner Werkstatt

Zwei Jahre später wird Gustav Mesmer in eine betreuende Einrichtung nach Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb verlegt, weil dort "gerade ein Platz frei war", heißt es in seiner Krankenakte. "Seine Wahnerlebnisse", so der letzte, kalte Eintrag, "kommen lediglich in Briefen oder sonstigen Schreiben zum Vorschein. Sie scheinen an Bedeutung für ihn verloren zu haben".

In seiner neuen Umgebung wirkt Mesmer anfangs ängstlich und verschlossen. Aber dann beginnt er schnell wieder mit der Korbflechterei und pflanzt seine Weiden am Ufer der nahe gelegenen Lauter. Einmal hat er sogar einen Lehrling, den er aber bald wieder fort schickt. "Der hat ja schon beim Nichtstun geschwitzt."

Die Heimleitung in Buttenhausen unterstützt den Tüftler und Bastler und weist ihm eine kleine Werkstatt zu. Hier entwickelt Mesmer nicht nur Flugfahrräder, sondern zunehmend auch Schwingenfluggeräte, die durch Muskelkraft der Arme auf und ab bewegt werden können. Dazu konstruiert er allerlei Zubehör. Vor allem die Unfallvermeidung beschäftigt ihn, er baut Sturzhauben und Brustpanzer. Sein Werkzeug stellt er selber her, Nägel und Schrauben zieht er aus Abfallholz, weggeworfene Plastiksäcke und Planen benutzt er als Tragflächen für seine Fluggeräte. In einem nahegelegenem Wald baut er sich eine Flugschanze, darunter legt er alte Matratzen und Strohballen: "Wenn", sagt er schmunzelnd.

"War es in China schön?"

In Buttenhausen baut Mesmer rund 30 verschiedene Einzelschwingen und Flügelpaare. Alles ist durchdacht und ausgeklügelt. Er konstruiert ein kompatibles System, das es ihm ermöglicht, alle Flügel an jedes seiner drei Fahrräder und auch an sein Moped zu montieren. In der Bevölkerung nennt man ihn bald liebevoll den "Ikarus vom Lautertal". Er gehört dazu, wird zum ersten Mal in seinem Leben vorbehaltlos akzeptiert. Zunehmend wird Mesmer selbstbewusster, will auf sich aufmerksam machen. Er schreibt Briefe an Firmen, an Fernseh- und Rundfunkanstalten, an Ministerien und Politiker, unter anderem an den damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Hans Filbinger.

"Sehr geehrter Herr Filbinger – in privater Sache, Sie sind doch auch großer Sportsmann, darf ich Sie ansprechen und anregen, mit meinen Flugobjekten. Ob Herr Ministerpräsident Interessse und Lust hätten, einmal zu fliegen, oder fahren mit meinem konstruierten Flugfahrrad. Ich fahre gewöhnlich bei gutem Wetter Samstags und Sonntag. Wenn es Ihnen außerordentlich interessiert, dürfte ich eine Zusagenachricht erhalten (…) Wo ich die Ideen herhabe? Von Schriften und Büchern habe solche, aber wenig nehme ich davon Gebrauch. Meine Ideen erhalte ich vom Nachtgeist, der mir selbe einfleucht. War es in China schön? Mit der Gesundheit steht es ordentlich? Mit hoheitlichem Gruß – Flugforscher Gust.Mesmer". Eine Antwort auf diesen wunderbaren Brief hat Mesmer nie erhalten.

Mesmers späte Rehabilitierung

Sein Erfindungsgeist kennt keine Grenzen. Er baut seine mittlerweile fast schon legendären "Schwätzmaschinen". Damit, so Mesmer, könnten sich Sprachbehinderte besser mitteilen. Dann verfertigt er fantasievolle Musikinstrumente wie "Rechteck-Mandoline" oder "Trompetengitarre". Aus seiner Buttenhausener Zeit sind viele Skizzen und Zeichnungen erhalten geblieben. Hier hat er ausreichend Papier, Stifte und Farben. Er malt mehrere Bildserien von überwiegend naiv geprägter und faszinierender Schönheit. Langsam wird die Presse auf den schwäbischen Ikarus aufmerksam, erste Artikel erscheinen. Freunde und Bewunderer organisieren Ausstellungen mit den Werken des mittlerweile anerkannten Erfinders und Künstlers.

Ausstellungen in Münsingen, Mannheim, Recklinghausen, Ulm, Lausanne und Wien werden überall begeistert aufgenommen. Aber den Höhepunkt seiner späten Karriere erlebt Gustav Mesmer 1992. Dort stand eines seiner Flugräder auf der Weltausstellung im spanischen Sevilla als Beitrag der Bundesrepublik zum Thema: "Der Traum vom Fliegen". Mesmer wurde zur Ausstellungseröffnung eingeladen, ein Platz im Flieger war schon für ihn gebucht. Als man ihm aber erklärte, dass Spanien nicht gerade um die Ecke liege und er ein paar Tage außer Haus sei, sagte er ab: "Da bleib iliabr dahoim."

Doch der für ihn persönlich wichtigste Tag kam ein Jahr später. Mitte 1993 kehrte Gustav Mesmer endgültig in seine Heimatgemeinde Altshausen zurück, 64 Jahre nach dem Kirchenvorfall und der Einweisung in die Psychiatrie. In einer großen Ausstellung, eröffnet vom Herzog von Württemberg, wurde gezeigt, was der "Ikarus vom Lautertal" in den letzten Jahrzehnten geschaffen hat. Still sass er da und aus seinem Gesicht, in das das Leben so viele Falten gemeißelt hatte, strahlten seine immer wachen Augen. Und was ihn dabei besonders freute: Auf der Ausstellungs-Einladung stand: "Gustav Mesmer – Flugradbauer von Altshausen."

Weihnachten 1994 ist Gustav Mesmer nach einem schweren Sturz von einer Treppe gestorben.

 


Über das Leben Gustav Mesmers gibt es eine CD: "Gustav Mesmer: Ikarus vom Lautertal genannt". Mit Musik von Alexander und Georg Köberlein. Preis inkl.Versandkosten: 16 Euro. Zu bestellen bei der Mesmer Stiftung

Das musikalische Hörspiel wird seit 1998 auch live aufgeführt. Nächster Termin: 5. Juni in der Stuttgarter Leonhardskirche. Zusätzliche Infos, u.a. Bücher und Filme über Gustav Mesmer kann man ebenfalls über die Mesmer Stiftung beziehen.