KONSTANZ. (hpd) Am 12. September 1926 titelten viele Berliner Zeitungen: "Dr. Peltzer besiegt Wunderläufer Paavo Nurmi". Eine absolute Sensation, die auch in der Weltpresse Erwähnung fand, denn zu jener Zeit galt Nurmi als unschlagbar. Peltzers Sieg in Weltrekordzeit über den Finnen über 1500 Meter vor rund 30 000 Zuschauern im Stadion Charlottenburg brachte die Arena zum Kochen. Die Zuschauer, darunter Georg Grosz und Bertolt Brecht, erhoben sich von ihren Plätzen und stimmten das Deutschlandlied an. Peltzers Sieg war Balsam auf die Wunden der Nation, die sich von den Folgen des Ersten Weltkriegs noch nicht erholt hatte.
Otto Peltzer (1900–1970) wuchs wohlbehütet im Holsteinischen auf. Nach einer überstandenen Kinderlähmung begeisterte er sich für die Leichtathletik und machte sich bald einen Namen als erfolgreicher Läufer. Er studierte Jura an den Universitäten in Jena, Berlin und München und promovierte. Seinen internationalen Durchbruch als Mittelstreckler feierte er bereits 1925, als er in Budapest Weltrekord über 500 Meter lief. Kurz vor dem Sieg über Nurmi holte er sich auch den Weltrekord über 800 Meter. Zudem errang er zwischen 1922 und 1933 fünfzehn deutsche Meistertitel. Oft trat er auch im Ausland auf und lief in nordamerikanischen Sporthallen und Stadien vor manchmal bis zu 50 000 Zuschauern gegen die Besten der Welt. Peltzer war ein Star der Weimarer Republik, bekam sogar Werbeverträge, und wohl keiner hätte ihn bei den Olympischen Spielen 1928 in Amsterdam schlagen können, wenn er im Vorfeld nicht krank geworden wäre. Körperlich geschwächt, schied er im Halbfinale über 800 Meter aus.
Er war einfach anders
Von 1926 bis 1933 unterrichtete Peltzer in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf als Lehrer und Trainer. In Sportlerkreisen wurde er wegen seiner eigenwilligen Trainingsmethoden oft belächelt, denn sogar im Sommer lief er meistens in langen Unterhosen oder wälzte sich nach winterlichen Tempoläufen halbnackt im Schnee. Um seine Gegner zu verunsichern, legte er bei großen Sportfesten gerne einen Fehlstart hin. Oft ließ er sich auch schier aussichtslos zurückfallen, um dann in der letzten Runde mit einem plötzlichen Antritt seine Konkurrenten zu überspurten. Mehrmals legte er sich auch mit Funktionären und Trainern an, denen der erfolgreiche Freigeist und Querdenker suspekt war und erklärte deren Auffassungen über den Leistungssport für überholt. In diesen Jahren hielt Peltzer Fachvorträge, betätigte sich auch publizistisch und veröffentlichte eine Reihe von Broschüren und Bücher über seine Ansichten von Trainingslehre und sportlicher Ethik.
Sein größter Fehler
Nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten wurde Peltzer wegen seiner vermeintlichen Homosexualität, die er zeitlebens bestritt, unter Druck gesetzt und durfte fortan nicht mehr für Deutschland an Wettkämpfen teilnehmen. Daraufhin biederte sich Peltzer bei den neuen Machthabern an. Er trat in die NSDAP und SS ein, arbeitete als Redakteur bei der stramm völkischen "Reichswacht", beschwor in seiner Dissertation die "Rassenhygiene" und stand damit durchaus den Nationalsozialisten nahe, ohne allerdings deren mörderische Konsequenzen mitzutragen. Doch die neuen Machthaber verweigerten ihm die Aushändigung der NSDAP-Mitgliedskarte und auch aus der SS wird er ausgeschlossen. Später wird Peltzer andeuten, so der Journalist Volker Kluge in seinem lesenswerten Buch "Otto der Seltsame", er habe die Nähe zu den Nazis nur gesucht, um Schaden von der Schule abzuwenden, an der er immer noch tätig war und die den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge gewesen sei.
Sie wollten ihn nicht
Die versuchte Kumpanei mit den Nazis half nichts, zu oft in der Vergangenheit hatte sich Peltzer mit seinen sportpolitischen Ansichten den Groll derer zugezogen, die nun am Ruder waren. Schon 1932 hatte Peltzer gefordert, " …bei der Eröffnung der Olympischen Spiele mögen doch nur Aktive einmarschieren". Da fühlten sich die Sportfunktionäre gewaltig brüskiert, allen voran Carl Diem, der damals Generalsekretär des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen war und hinter den Kulissen mitwirkte, Peltzer kaltzustellen. Zudem pflegte dieser gute Beziehungen zu jüdischen Mitbürgern und galt wegen seiner internationalen Kontakte als politisch äußerst unzuverlässig.
Endstation Mauthausen
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Und so nahm das Unheil seinen Lauf: Peltzer wurde 1935 verhaftet und wegen seiner angeblich homosexuellen Neigungen zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Auch seine akademischen Titel erkannten ihm die Nazis ab. Erst der Einspruch britischer Freunde, vor allem aus Sportlerkreisen, führte noch vor den Olympischen Spielen 1936 in Berlin dazu, dass die Gefängnisstrafe zu einer Bewährungsstrafe umgewandelt wurde. Peltzer emigrierte zuerst nach Schweden, dann nach Finnland, wo er Vorträge hielt und sich dadurch einigermaßen durchs Leben schlagen konnte. Als seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wurde, kehrte er im Februar 1941 nach Deutschland zurück, wurde aber sofort verhaftet und zwei Monate später ins KZ Mauthausen verschleppt, wo er das Kriegende erlebte. Die im Konzentrationslager erlittenen Schikanen und Qualen überstand er nur aufgrund seiner guten körperlichen Konstitution.
Nichts Neues im Westen
Nach dem Krieg bemühte sich Otto Peltzer wieder um ein halbwegs normales Leben und träumte davon, eventuell als Trainer Fuß zu fassen. Doch der als Homosexueller Stigmatisierte traf, egal wo er auch war, auf seine früheren Widersacher, darunter auch Carl Diem, der als bekennender Nationalsozialist schadlos ins Nachkriegsdeutschland hinüberglitt und als Sportfunktionär Karriere machen konnte. 1955 schrieb Peltzer seinen autobiografischen Roman "Umkämpftes Leben. Sportjahre zwischen Nurmi und Zatopek". Dass dieses Buch in der noch jungen DDR erschien, wurde im Westen mit Argwohn zur Kenntnis genommen. Das Autorenhonorar, immerhin hatte das Buch eine Auflage von 50.000 Exemplaren, sicherte Peltzer das Überleben.
Erfolg in Indien
1956 flog er nach Australien, um für deutsche Zeitungen über die Olympischen Sommerspiele in Melbourne zu berichten. Die Monate danach bereiste er den Mittleren und Fernen Osten und blieb schließlich in Indien hängen. Dort baute er ab 1957 unter einfachsten Verhältnissen eine erfolgreiche Laufschule auf und wurde indischer Nationaltrainer. Noch heute gibt es zu Ehren des "Doc" alljährlich einen Otto-Peltzer-Lauf. Ihm gelang es auch, einige seiner "Peltzer-Boys" an die Weltspitze heranzuführen.
Das Ende einer Legende
Gesundheitliche Probleme führten dazu, dass Peltzer Ende 1967 wieder nach Deutschland zurückkehrte. 1970 trainierte er in Malente den indischen Läufer Happy Sikand, einen seiner früheren Schüler, der sich auf die Olympischen Spiele 1972 in München vorbereiten wollte. Am 11. August 1970 war Peltzer mit Happy auf dem Sportplatz und rief ihm die Zwischenzeiten zu. Danach ging er Richtung Parkplatz, um auf seinen Zögling zu warten. Später fand man ihn tot auf einem Feldweg. Peltzer hatte einen Herzinfarkt erlitten, um seinen Hals hing noch die Stoppuhr.
Der Versuch einer späten Anerkennung
1998, also fast dreißig Jahre noch Peltzers Tod, erinnerte der Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens bei einer Rede vor dem Deutschen Leichtathletik Verband an den längst vergessenen Sportler und forderte, diesen "liebenswerten Ketzer in den eigenen Reihen" nun endlich heimzuholen. Dieser Appell fruchtete. Eine "Otto-Peltzer-Medaille" wurde ins Leben gerufen, die "stets nur aus gegebenem Anlass an Persönlichkeiten der Leichtathletik" verliehen werden sollte, "die sich durch hervorragende Leistungen, mündiges Handeln und kritische Solidarität zur deutschen Leichtathletik ausgezeichnet haben". So stand es im Beschluss des DLV-Verbandsrates vom 4.12. 1999. Bis heute allerdings wurde diese Medaille noch kein einziges Mal verliehen. Auf Nachfrage ließ der DLV verlauten: "Im Zuge grundsätzlicher Diskussionen (…) hat das DLV-Präsidium inzwischen beschlossen, in Zukunft keine Ehrenpreise nach Personen zu benennen und auch die Otto-Peltzer-Medaille nicht zu verleihen". So ganz, scheint es, ist Dr. Otto Peltzer auch 45 Jahre nach seinem Tod wohl immer noch nicht in seiner Heimat angekommen.
1 Kommentar
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Traurig stimmend, aber in Zuge der NICHT-Aufarbeitung der dt. Historie durchaus nachvollziehbar.