Der Missbrauchssumpf der evangelischen Kirche ist wohl erheblich tiefer als gedacht. Das legen aktuelle Zahlen von Verdachtsfällen in der rheinischen Landeskirche nahe.
Anfang 2024 sorgte die "ForuM"-Studie über Missbrauchsfälle in der evangelischen Kirche für Aufsehen, räumte sie doch mit der Illusion auf, dass im protestantischen Umfeld sexuelle Gewalt kein nennenswertes Problem sei. Ein Jahr später müssen die Zahlen wohl deutlich nach oben korrigiert werden. Allein bei der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) wurden von 2021 bis Ende letzten Jahres 124 Verdachtsfälle gemeldet – die Studie hatte damals nur 70 Fälle aus dem Bereich der rheinischen Kirche genannt. Bei dieser Aufzählung bezieht sich ein Verdachtsfall auf jeweils einen Beschuldigten, wobei es durchaus mehrere Betroffene geben kann.
Nach Einführung der Meldepflicht hatte die Evangelische Kirche im Frühjahr 2021 eine Meldestelle für Verdachtsfälle von sexualisierter Gewalt eingerichtet. Einige der 124 dort eingegangenen Meldungen beziehen sich auf Fälle, die bereits Jahrzehnte zurückliegen, sagte der EKiR-Vizepräses Christoph Pistorius. Bei mindestens einem Drittel davon gebe es Überschneidungen mit bereits bekannten, in der ForuM-Studie gelisteten Fällen. Unter den 110 Beschuldigten sind insgesamt 33 Theologen, davon 31 Gemeindepfarrer. Diese Berufsgruppen wurden bereits in der Studie berücksichtigt. Nicht erfasst waren bislang Kirchenmitarbeiter und Ehrenamtler, etwa Jugend- oder Chorleiter. Sie tauchen erst bei den neuen Verdachtsfällen als Beschuldigte auf.
Doch was ist aus den Betroffenen geworden? Bislang hat die Evangelische Kirche im Rheinland 40 Personen in Anerkennung des erlittenen Leids Gelder als Entschädigung oder für Therapien gezahlt, insgesamt 725.000 Euro. Hinzu kommen 139 weitere Betroffene im Gebiet der rheinischen Diakonie, die zusammen knapp 2,2 Millionen Euro erhalten. Im Rahmen eines ergänzenden Hilfesystems für Betroffene von sexualisierter Gewalt hat die Rheinische Evangelische Kirche ferner 75.000 Euro an elf weitere Personen gezahlt, zudem gingen 180.000 Euro direkt an Betroffene.
Im März soll eine neue, unabhängige Kommission zur Aufarbeitung von sexueller Gewalt in den evangelischen Institutionen die Tätigkeit aufnehmen. Neben der rheinischen, der westfälischen und der lippischen Kirche stehen auch die gemeinsamen Diakonien im Fokus ihrer Arbeit.