Rezension

Die Virulenz des Antisemitismus

Der Sammelband "Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror" geht thematisch über den Untertitel hinaus und bietet Beiträge zur Theorie des Antisemitismus, zu islamischem Antisemitismus, zu Verbreitungswegen und –formen in der Öffentlichkeit und der Verortung in ausgewählten politischen Bewegungen.

Der eigenständige Themenblock zu Antisemitismus in der öffentlichen Kommunikation trägt dem Umstand Rechnung, dass zwar antisemitisch motivierte islamistische und terroristische Bedrohungen gravierend sind und den Schwerpunkt des gewalttätigen Antisemitismus ausmachen, aber im gesamten antisemitischen Gefahrenpotential der Zuwachs antisemitischer Kommunikation und der wechselseitige Zuspruch für antisemitische Einstellungen für die Entwicklung des Antisemitismus langfristig besorgniserregender ist. Der Weg von der (mittlerweile) etablierten kommunikativen Akzeptanz hin zu einer eventuellen Hegemonie würde vor allem einen quantitativen Unterschied machen – ein qualitativer Sprung liegt mit der im Internetzeitalter entwickelten neuen Sagbarkeit bereits hinter uns.

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Den ersten Block eröffnet ein Beitrag von Dina Porat, die in Definitionen des Antisemitismus nach Besprechen historischer Definitionen die Entwicklung der ehemaligen EUMC-Definition und der späteren IHRA-Definition skizziert. Bei diesen letzteren hätte es sich angeboten, die Kontroversen, das inhaltliche Abwägen und ggf. Entscheidungsgründe für Setzungen und Auslassungen aus der gegebenen teilnehmenden Perspektive wiederzugeben.

Alvin H. Rosenfeld legt in Was ist 'Israelkritik'? dar, wie als solche bzw. als "nur" antizionistisch ausgegebene Äußerungen mit antisemitischen Zuschreibungen arbeiten.

Karin Stögner bespricht in Natur als Ideologie. Zum Verhältnis von Antisemitismus und Sexismus Ähnlichkeiten und Verschränkungen von Antisemitismus und Sexismus und analysiert diese vor allem, indem sie die Zuordnung von Juden und Frauen einerseits zu den Polen Natur/Anti-Natur und andererseits zur Zirkulationssphäre des Kapitalismus zeigt. Weiter erläutert sie, wie antisemitische Denkmuster in Form von Antifeminismus zum Ausdruck gebracht werden können – und in diesem quasi einen Stellvertreter finden.

In seinem Text Shoah und Porajmos – eine relationale Perspektive plädiert Ullrich Bauer dafür, über eine vergleichende Perspektive die Verbindung dieser Völkermorde zu ihren gesellschaftlichen Bedingungen stärker in den Blick zu nehmen.

Muslimischer Antisemitismus in Europa wird von Günther Jikeli unter anderem anhand von Daten aus der Einstellungsforschung beleuchtet. Er kann zeigen, dass Antisemitismus von europäischen Muslimen als gesellschaftliche Norm aus ihren Herkunftsländern übernommen wurde. Weiter hebt er Aspekte der Religiosität als bedeutendste Faktoren dieses Antisemitismus hervor und kommt zu dem Schluss, dass sich muslimischer Antisemitismus vor allem durch "nicht aufgearbeitete … tradierte (muslimische) Judenfeindschaft" und den "Einfluss islamistischer und nationalistischer Bewegungen" (S. 128) konstituiere. Hiermit versammelt er belastbare Prämissen für die praktische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus unter Muslimen.

Islamischer Antisemitismus als Forschungsbereich ist laut Matthias Küntzel durch diverse Forschungslücken und Fehleinschätzungen gekennzeichnet. Er erläutert Beispiele für derlei Versäumnisse am Berliner ZfA und fordert allgemein eine stärkere Befassung mit Geschichte und Gegenwart der Verbindung von muslimischem Antijudaismus und modernem Antisemitismus zu einem islamischen Antisemitismus – um letztlich diesem gegenüber politische Handlungsfähigkeit zu schärfen.

Der "jüdisch-westliche Krieg gegen den Islam" ist eine zentrale Verschwörungstheorie, deren Entwicklung Daniel Rickenbacher mithilfe einer Zusammenstellung von Stationen vor allem islamistischer antisemitischer Diskurse und Praxen seit dem 19. Jahrhundert nachzeichnet. Daneben wird gezeigt, wie linke und rechte Antiimperialisten und auch Nationalisten diese Vorstellung für ihre antiwestliche Positionierung nutzen.

Navras Jaat Aafreedi nimmt in Antisemitism and Anti-Zionism among South Asian Muslims den Transfer von islamistischer Ideologie und Antisemitismus aber auch personelle und logistische Unterstützung von Indien und Pakistan in den arabischen Raum aber auch nach Europa und in die USA in den Blick.

Antisemitismus im Iran seit 1979 wird von Stephan Grigat detailreich als alles durchziehendes Leitmotiv des islamistischen Regimes dargelegt, das von allen hochrangigen Vertretern bis einschließlich Rohani geteilt wird. Die iranische Expansion im Nahen Osten und die Vernetzung mit Antisemiten weltweit treten dabei neben dem Streben nach Atomwaffen als praktische Anstrengungen der Vorbereitung der Zerstörung Israels – dem zentralen und mittelfristigen Ziel der Islamischen Republik – zutage. Der entschlossene Charakter des iranischen Regimes und die Ernsthaftigkeit des eliminatorischen Antizionismus werden in der europäischen Politik im Wesentlichen verkannt bzw. ignoriert. An Obamas Auffassung zeigt Grigat, wie schwerwiegend die irrationale – und ggf. den eigenen Untergang in Kauf nehmende – Zielstrebigkeit fanatischer Antisemiten unterschätzt wird.

Michael Höttemann untersuchte in Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Studierenden anhand Grass’ antisemitischen Gedichts von 2012 Die Abwehr der Antisemitismuskritik. Der Autor konnte sowohl eine Reihe von Kommunikationsmustern der Solidarisierung (mit Grass) als auch von Verhaltens- und Motivationsmustern für diese ausmachen, in deren Aufschlüsselung der Gewinn dieser Arbeit liegt. Die Muster bieten sich für zukünftige Berücksichtigung bei der Untersuchung antisemitischer Diskurse und deren Vorfeld und die Veranschaulichung für antisemitismuskritische Bildungsarbeit an.

Matthias Jakob Becker unterzieht mit linguistischen Mitteln Leserkommentare in ZEIT und Guardian einer vergleichenden Prüfung in Bezug auf die Verwendung von Analogien zur Beschreibung von Israel. Er kann empirisch zeigen, dass antiisraelische Schuldprojektionen als Schlüssel zum positiven Selbstbild eingesetzt werden: Die projektive Entlastungsfunktion des Antisemitismus ist universell – und im jeweiligen nationalen Kontext spezifisch gestaltet. In der ZEIT sind NS-Analogien prominent, während im Guardian Kolonialismus-Analogien herausstechen. Demzufolge wird also eine Epoche der jeweiligen Geschichte, die mit Scham und Schuld besetzt und belastend ist, auf Israel übertragen. Der anschließende Angriff auf Israel wegen der projizierten Verbrechen dient zugleich der Inszenierung nationaler Läuterung. Einmal mehr gibt es durch diesen Beitrag einen Impuls, die Funktionsweise der Projektion bei der Bekämpfung des Antisemitismus stärker zu berücksichtigen.

Florian Markl betrachtet Antisemitische Argumentationsmuster in der deutschsprachigen Medienberichterstattung über Israel ebenso wie verzerrende Darstellungen Israels und bespricht die virulente Problematik des antiisraelischen Bias an verschiedenen bereits diskutierten Fällen aber auch unbekannteren Beispielen aus der österreichischen Presse.

Komplementär dazu lässt sich Franziska Krahs Beitrag Zur 'Ästhetik' des Antisemitismus lesen, in dem sie antisemitische Bildstrategien erörtert und an einem historischen Abriss judenfeindlicher Darstellungen den Wandel in der Bildsprache dokumentiert.

Über das Motiv des "rechtsbrechenden Juden" … in der sog. Beschneidungsdebatte schreibt Dana Ionescu. Sie rekonstruiert, wie ablehnende Positionen nicht nur mit Rechtsauslegungen begründet wurden, sondern neben der Reaktivierung des Stereotyps den Diskurs mit weiteren Zuschreibungen wie Rückständigkeit, Nicht-Zugehörigkeit und dem Vorwurf sexueller Gewalt antisemitisch aufluden.

Zum aktuellen Stand der Maßnahmen der Europäischen Union gegen Antisemitismus halten R. Amy Elman und Marc Grimm fest, dass eine enge Kooperation geboten ist und dass zum Teil Grundbedingungen wie das korrekte Identifizieren von Antisemitismus durch EU-Institutionen noch erfüllt werden müssen. (Als Auftakt einer EU-weiten Anstrengung könnten die Empfehlungen des EU-Innenministerrats vom 06.12.18 an die Mitgliedsstaaten zur Implementierung einer Strategie gegen Antisemitismus gewertet werden.)

Als Beispiel für Antisemitische Verschwörungstheorien in gegenwärtigen Protestbewegungen erläutert Laura Luise Hammel die im Milieu der Mahnwachen für den Frieden prominente Verschwörungstheorie, nach der die Federal Reserve Bank (US-Zentralbank) Initiatorin von Kriegen und Schuld am Aufstieg des NS sei.

Zbyněk Tarant arbeitet unter dem Titel Vladimir Putin’s 'War on Fascism' heraus, wie wichtige europäische rechtsextreme Parteien – und damit auch ihr offener oder strategisch verdeckter Antisemitismus – aus Russland unterstützt werden.

Ausgehend von einer Lageskizze zu wachsendem Antisemitismus (in seiner antizionistischen Form) an US-Campus diskutiert Simon Gansinger in Antizionistische Identität die Schwächen dreier Erklärungsansätze für linken israelbezogenen Antisemitismus. Er betont zutreffend, dass nicht die antirassistische oder antiimperialistische Rahmung des Nahostkonflikts Anschlussfähigkeit für das Ressentiment schafft, sondern dass das Ressentiment auf solch rationalisierende Rahmungen zurückgreift. Den Abschluss bildet die Hypothese, dass eine allgemein gesteigerte "Nachfrage nach rigiden Identitäten" (S. 434) die Übernahme des linken identitären 'Tickets' – und damit des auf diesem seit 1967 fest verankerten Antizionismus – fördert. Eine dieser Nachfrage evtl. zugrundeliegende wachsende Verbreitung autoritärer Charaktere wird als soziologische Forschungslücke ausgewiesen.

Der Band bietet Zugang zu einer Vielzahl von Aspekten des Antisemitismus. Allerdings hätte eine noch stärkere thematische Zentrierung bei der Auswahl der Beiträge dem in den vier Themenblöcken angelegten Erkenntnisinteresse noch mehr Gewinn gebracht. Viele Beiträge eignen sich auch unmittelbar für Menschen, die praktisch gegen Antisemitismus arbeiten, als Vertiefung und Inspiration.

Marc Grimm/Bodo Kahmann (Hrsg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Reihe: Europäisch-jüdische Studien. Beiträge, Bd. 36, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2018, 446 Seiten, ISBN 978-3-11-053471-9 (gebunden), 119,95 Euro