BERN. (hpd) Die Religion ist in unserer Gesellschaft derart marginalisiert, dass von ihr nur noch Folklore übriggeblieben ist. Die Idee von Himmel und Hölle ist als Wertesystem nicht mehr tauglich.
Ein Kommentar von Beda M. Stadler
Die christliche Kultur wird derzeit verteidigt. Als Folge der Sarrazin-Debatte ruft die Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu auf, sich endlich wieder auf die christliche Kultur zu besinnen. Bei uns reicht der Wunsch nach kruzifixfreien Schulen, damit einer als intoleranter Wüstling gilt, sieht er in einem Kruzifix eher ein mittelalterliches Folterinstrument als ein Kulturgut.
Wer herausfinden will, was die christliche Kultur beinhaltet, sucht vergebens auf Wikipedia. Es gibt dort keinen Beitrag, verständlich, da vermutlich jeder mit dieser Kultur imprägniert ist. Empörte Leserbriefschreiber und Politiker verstehen meist unter der christlichen Kultur ein Wertesystem. Nach der Minarett-Initiative forderte etwa die EVP eine Verankerung der christlichen Leitkultur in unserer Verfassung. Auch der neugekürte Kardinal Koch möchte eine solche, obwohl es die nicht gibt. Eine christliche Leitkultur ist so real wie heisses Eis oder kaltes Feuer.
Seit zehn Jahren ist man sich nämlich in Europa einig, dass unsere Leitkultur einen Wertekonsens darstellt, bei welchem die Vernunft vor der religiösen Offenbarung kommt. Die Demokratie ist unser zentraler Wert, basierend auf einer Trennung von Religion und Politik. Zudem ist unsere Leitkultur geprägt von Pluralismus und Toleranz. Die Grundlage sind säkulare Errungenschaften, von der Kirche jahrhundertelang bekämpft, etwa die Meinungs-, Presse-, Religions- und Kunstfreiheit.
Affen führen seltener Krieg
Diese humanistischen Freiheiten werden heute allerdings immer wieder von "reli- giösen Kulturen" in Frage gestellt, etwa wenn auf Druck von Kirchenstaaten die Uno die Blasphemie als Vergehen einführen will. Unsere europäische Leitkultur hat die Sklaverei, die Folter, die Todesstrafe und die Prügelstrafe abgeschafft. Nur weil das Christentum seit kurzem diese Gräueltaten nicht mehr absegnet, sind das nicht ursprünglich christliche Werte. Unser Rechtsstaat ist nicht christlich, sondern eindeutig römischen Ursprungs. Es sind nicht die Kirchen, es ist der Humanismus, der zu Menschenrechten und zu Tierrechten geführt hat. Wäre die Gleichstellung von Mann und Frau Bestandteil der christlichen Kultur, würde derzeit eine Päpstin in Einzelfällen ein Kondom zulassen.
Die Nächstenliebe, wird meist argumentiert, sei im Zentrum der christlichen Kultur. Allerdings behaupten auch islamistische Hassprediger, der Islam sei die Religion der Nächstenliebe. Nüchtern betrachtet, herrscht aber in einer Horde von Schimpansen meistens mehr Nächstenliebe als in einer Kirchgemeinde. Die Affen sind darin meist besser, weil sie das evolutionäre Programm «Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu» strikter befolgen als Christen. Affen führen zudem seltener Krieg und haben den reziproken Altruismus ausgeübt, bevor der Mensch in der Bronzezeit Gott erfand.
Die Verteidiger der christlichen Kultur schweigen sich darüber aus, ob einige Offenbarungen, etwa das Alte Testament, noch gelten. Dies ist verständlich, steht doch in dieser Anleitung zum Christentum drin, wie man Frauen und Schwule steinigt, die eigenen Kinder auf den Grill legt, die Töchter zur Massenvergewaltigung freigibt oder den eigenen Vater vergewaltigt. Die christliche Kultur soll sich daher mehrheitlich im Neuen Testament oder, noch präziser, in der Bergpredigt verstecken. Dort steht aber, auch die andere Wange hin- zuhalten. Nur, so blöd sind weder Menschen noch Affen.
Meister im Schleifen von Kulturen
Messen wir also die christliche Kultur an der Realität, an ihren geschaffenen materiellen Gütern und, als vielleicht wichtigstes Kulturgut, an der Anhäufung wissenschaftlicher Erkenntnis. Seit der kulturellen Wiege der Menschheit bei den Assyrern steigerten die darauf folgenden Hochkulturen der Ägypter, Griechen und Römer ihre Kulturleistungen. Was folgte darauf? Ein tausend Jahre währendes Kulturloch. Die Christen waren Meister im Schleifen von Vorgängerkulturen. Mancher Tempelfries ziert noch heute eine hässliche Kirchenfassade.
Gemessen an dem, was vorher an Kultur vorhanden war, sind die ersten tausend Jahre Christentum eine Katastrophe, die erst mit der Aufklärung gestoppt werden konnte. Sogenannt christliche Kulturgüter entstanden erst dank neuer säkularer Werte, basierend auf Wissenschaft und Philosophie, welche bis heute unser Leben prägen. Die europäische Leitkultur baut somit weiterhin auf den Werten des einstigen Abendlandes, etwa der griechischen Philosophie und dem römischen Recht, nicht aber auf Judentum und Christentum. Die Religion ist in unserer Kultur derart marginalisiert, dass Christen, wenn sie ihre christliche Kultur verteidigen, meist bloss Folklore meinen: die Statue der Heiligen Barbara beim Durchbruch des Gotthardtunnels.
Natürlich gibt es christliche Werte. Himmel und Hölle sind schließlich ein Produkt des Neuen Testaments. Diese Idee ist aber dermaßen absurd, dass man sie als christliche Marketingidee akzeptieren kann, nicht aber als Kulturgut. So wie bei der SP die Überwindung des Kapitalismus wieder im Parteiprogramm auftaucht, müsste die CVP uns Wählern wieder mit der Hölle drohen. Die christliche Kultur ist ein Hirngespinst, praktiziert wird sie nicht. Angela Merkel hat somit schon recht, wir sollten uns auf die christliche Kultur besinnen. Was tun wir aber, wenn alle merken, sie ist verschwunden?
Beda M. Stadler ist Professor und Direktor des Instituts für Immunologie der Universität Bern.
Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 48/10