Obwohl es kein ausschließlich postmodernes Phänomen ist, können wir aktuell vermehrt beobachten, dass Personen das eine sagen, aber das andere tun. Wir bezeichnen solcherlei als "Heuchelei" oder "Doppelmoral". Beide Ausprägungen eines äußert bedenklichen Verhaltens verbreiten sich zusehends und trotz mancherlei Kritik scheinen sie eine breite Akzeptanz zu finden. Die Folgen von Heuchelei und Doppelmoral sind jedoch für eine demokratische Gesellschaft und für eine individuelle Lebensführung verheerend.
Eine dichterische Umschreibung der Heuchelei und Doppelmoral ist aus Heines "Wintermärchen" bekannt, in dem zu Beginn in der achten Strophe zu lesen ist, dass Wasser gepredigt, aber Wein getrunken wird, wobei ein klarer Bezug zur Religion hergestellt wird. Der dichterische Verweis auf die (institutionalisierte) Religion ist kein Zufall, da sich in ihrer Geschichte und ebenso heute viele Beispiele, im Großen wie im Kleinen, auffinden lassen, in denen einerseits ein moralischer Kodex vorformuliert ist, andererseits die tatsächlichen Taten der Anhängerschaft dem Kodex widersprechen. Besonders ist im Bereich der Politik von Heuchelei und Doppelmoral die Rede: Einerseits wird ein Parteiprogramm erstellt und es werden Reden mit bestimmten Inhalten vor anstehenden Wahlkämpfen gehalten. Nach der Wahl wird oft genau das Gegenteil von dem getan, was zuvor noch in Aussicht gestellt wurde. In den Sozialen Netzwerken zeigen Akteure gleich welcher politischen, religiösen, spirituellen oder ideologischen Ausrichtung, dass sie einerseits für bestimmte Inhalte im Namen der Meinungsfreiheit werben, dieser aber sofort und genau dann widersprechen, wenn sie Gegenansichten zu einem Problemthema nicht akzeptieren und tolerieren, sodass eine differenzierte und problemlösungsorientierte Sachdiskussion ausbleibt.
Es zeichnet sich der Trend ab, dass sich Menschen gar nicht mehr darum bemühen, ihre Worte und Taten in Einklang zu bringen, obwohl es sich sehr lohnt, dieses hehre und oftmals nur schwer zu erreichende Ziel anzustreben. Vielmehr geraten nur kurzfristige Vorteile in den Blick, die durch Heuchelei und Doppelmoral oft leicht erlangt werden können. Ein langfristiges Denken und vernünftiges Handeln bleiben aus. Die Folgen eines ständigen Bruchs von Worten und Taten sind mehr als bedenklich und verdienen daher wieder mehr Aufmerksamkeit.
Verlust von Authentizität, Vertrauen und Orientierung
Eine Person, die ihre Meinung ständig wechselt und in der Folge eine Kluft zwischen dem, was sie sagt, und dem, was sie tut, entstehen lässt, erlebt kurz- oder mittelfristig einen Authentizitätsverlust. Es wird für Menschen in ihrem privaten, sozialen und öffentlichen Umfeld unmöglich zu bestimmen, für was diese Person steht, welche Werte sie achtet, welche Ziele sie verfolgt und ob sie im Allgemeinen vertrauenswürdig ist. Das wiederum kann zu einer Zersetzung von Beziehungen zu einzelnen Menschen, Gruppen oder Einrichtungen führen. Solcherlei Folge-Erscheinungen von Heuchelei und Doppelmoral sind seit langem in Deutschland zu erkennen. Der Vertrauensverlust in die Politik, die damit einhergehende Politikverdrossenheit, das Aufkommen von Protestwahlen, aber auch das Entstehen und Zersetzen neuer Parteien, Vereine, Gruppierungen oder Bündnisse sind unter anderem, wenngleich nicht ausschließlich, auf eine Deckungsungleichheit von Worten und Taten der politischen Akteure sowie der Wählerschaft zurückzuführen.
Der Mitgliederrückgang in kirchlichen Einrichtungen findet ebenso in Teilen seine Ursache im Erstarken von Heuchelei und Doppelmoral. Man könnte die Liste noch beliebig fortsetzen und dabei immer wieder erkennen, dass sich als weitere Konsequenz nicht nur ein tiefsitzender Vertrauensverlust gegenüber Menschen, Gruppen und Institutionen einstellt, sondern sich ebenso die Anzahl der Möglichkeiten, in einer sich rasch verändernden Welt Orientierung zu finden, stetig verringert. Es mangelt zusehends an Vorbildern, Leitideen und Visionen, die alle unter Schutt und Asche von Heuchelei und Doppelmoral begraben sind. Demokratisch an einem Strang zum Wohle möglichst aller zu ziehen, scheint auf Dauer unmöglich zu sein. Da aber ein Wunsch unter anderem nach Orientierung vorherrscht, wenden sich immer mehr Leute höchst zweifelhaften Personen mit fragwürdigen Ansichten zu, egal ob diese Personen auf politischen Bühnen aktiv sind, oder beispielsweise nur als Heilsbringer in Sozialen Medien auftreten. Dass dies zu weiteren Enttäuschungen und negativen Entwicklungen führt, liegt auf der Hand.
Ein Recht auf Änderung!
Wie in vielen anderen Fällen sind auch die Ausdrücke "Heuchelei" und "Doppelmoral" zu Kampfbegriffen geworden, die in Debatten zu emotionalen Reaktionen führen sollen, aber aufgrund ihrer unreflektierten Wiederholung kaum mehr verstanden werden und nicht mehr die Funktion haben, einen Sachbeitrag zu leisten. Heuchelei und Doppelmoral weisen das gemeinsame Merkmal auf, dass eine Person zwei Dinge, die sich widersprechen, einmal mit Worten und einmal mit Taten kommuniziert, etwa zwei widersprüchliche Werturteile. Wenn sich eine Person beispielsweise einer Menschengruppe gegenüber wohlgesonnen zeigt, dies später in Bezug auf dieselbe Gruppe aber nicht mehr realisiert, kann von Heuchelei gesprochen werden. Doppelmoral liegt dann vor, wenn eine Person in einem Kontext für sich selbst einen bestimmten, für andere Personen aber einen konträren moralischen Anspruch formuliert, zum Beispiel dass sie von anderen Personen in einer Situation ein entschiedenes Handeln fordert, welches sie jedoch selbst gar nicht realisiert.
Nun ist es jedoch viel zu billig, in jedem solcher Fälle jemandem gleich Heuchelei oder Doppelmoral zu attestieren. Unsere Lebenswelt und unser gesamtes Menschsein sind davon geprägt, immerzu neue Informationen zu erhalten und sie in Meinungen, Überzeugungen und Wissen umzuwandeln. Was auf Grundlage des jetzigen Wissens der Fall sein mag, kann sich morgen bereits als falsch oder zumindest als revisionsbedürftig herausstellen. Eine Gruppe kann etwas Gesellschaftsdienliches verwirklicht haben, sodass sich eine Person ihr wohlgesonnen gegenüber zeigt. Erfährt selbige Person jedoch, dass sich diese Gruppe an anderer Stelle nicht gesellschaftsdienlich verhalten hat, ist sie berechtigt, ihre Einstellung zu ändern. Der Kontext hat sich gewandelt. Die Person hat neue Informationen erhalten und verarbeitet. Auf Grundlage dessen ist sie zu neuen Überzeugungen gelangt und hat dementsprechend ihre Beziehung zu jener Gruppe reformuliert.
Jeder Mensch hat das Recht und auch die Pflicht, auf Grundlage neuer Informationen sein System aus Meinungen, Überzeugungen und Wissen sowie aus damit einhergehenden Handlungen zu überdenken. Das heißt beispielsweise: Nicht jeder Politiker kann sofort als Heuchler abgetan werden, wenn er seinen Standpunkt zu einer Sachlage aufgrund neuer Informationen überdacht hat. Andernfalls hieße das, in einen Dogmatismus zu verfallen, der davon ausgeht, dass Menschen ein für alle Male nur eine unabänderliche Sammlung von Meinungen und Überzeugungen aufweisen dürfen. Stattdessen ist alles einer Reflexion wert, selbst die gesellschaftlich, naturwissenschaftlich und philosophisch noch so anerkanntesten Meinungen und Überzeugungen. Eine mündige Person ist daher im Hinblick auf fortwährende Veränderungen und Wissenszugewinne dazu angehalten, ihre eigenen Standpunkte, Glaubensätze und ihr Wissen zu hinterfragen, damit alles entweder guten Gewissens tradiert und praktisch angewendet werden kann beziehungsweise einer Revision unterzogen wird. Selbst das vollständige Ablegen einer tiefsitzenden Überzeugung kann ein Resultat eines Reflexionsprozesses sein.
Bezüglich der Doppelmoral bestehen sogar viele Fälle, in denen es sinnvoll ist, dass unterschiedliche moralische Ansprüche eingefordert werden. Ein triviales Beispiel ist, dass ein Arzt aufgrund seines Berufsethos' einem Patienten gegenüber verpflichtet ist, ihn auf eine bessere Ernährung und mehr Sport aufmerksam zu machen, auch wenn der Arzt für sich selbst diesem Anspruch gar nicht nachkommt oder aus verschiedenen Gründen gar nicht nachkommen kann. Würde man des Weiteren eine betagte und bewegungseingeschränkte Person tatsächlich der Doppelmoral bezichtigen, wenn sie die Jugend aufforderte, für ihre Rechte auf die Straße zu gehen, sie selbst daran aber nicht teilnähme?
Sowohl bezüglich der Heuchelei als auch der Doppelmoral ist es daher entscheidend zu bestimmen, welcher Kontext, und damit einhergehend welcher moralische Anspruch, vorliegt oder ob er sich gewandelt hat. Im Falle des Arzt-Patienten-Beispiels ist es in erster Linie für den Patienten nicht interessant, ob der Arzt sich selbst gesund ernährt und ausreichend Sport treibt, da der Patient ein Leiden hat, welches zu kurieren ist. Der Arzt kann hier zunächst ohne Weiteres zu etwas raten, ohne dem Rat selbst nachkommen zu müssen, denn der Anspruch des Arztes ist schließlich, den Patienten die Informationen und Mittel bereitzustellen, die der Patient benötigt, um gesund zu werden. Ein anderer Fall läge jedoch vor, wenn der Arzt den Anspruch formuliert, seinen Patienten nur das zu empfehlen, was er selbst praktisch umsetzen würde. Doppelmoral wäre in solch einem Kontext genau dann gegeben, wenn der Arzt diesen Anspruch einerseits formuliert, dem Patienten dann aber zu etwas Entgegengesetztem rät.
Im Beispiel einer Person, die einer Gruppe nicht mehr wohlgesonnen ist, änderte sich ihre Einstellung zur Gruppe aufgrund des tadelnswerten Gruppenverhaltens. Hätte sich am gesamten Kontext nichts geändert, das heißt, hätte die Gruppe sich stets gesellschaftsdienlich verhalten, wäre keine Grundlage für unterschiedliche Einstellungen zu dieser Gruppe gegeben. Dann hätte man berechtigterweise von Heuchelei sprechen können, sofern die Person plötzlich ihre Einstellung gegenüber der Gruppe geändert hätte.
Gegen die aufgeführten Beispiele ließen sich wiederum viele Gegeneinwende formulieren und alles könnte auch wesentlich detaillierter und differenzierter betrachtet werden. All das bekräftigt jedoch die Ausgangsüberlegung, dass oftmals viel zu schnell von Heuchelei und Doppelmoral ausgegangen wird (oder auch nicht), obwohl es nötig wäre, erst umfassendere Nachweise zu führen.
Integrität erreichen
Tiefere Reflexionen über Integrität sind im Alltag sowie in politischen, sozialen und akademischen Diskursen überraschend selten anzutreffen. Häufiger ist der Fall gegeben, dass eine Person (eine Gruppe oder eine Einrichtung) einen häufig nur moralischen, seltener einen ethischen Wertekanon, der zu befolgen ist, in den Fokus rückt. Ob und inwiefern dieser Wertekanon überhaupt so etwas wie ein integres Leben ermöglichen kann, wird nicht diskutiert, denn es ist heute vielfach bedeutender, einfach ein Sympathisant eines Wertekanons zu sein. Ob dieser Kanon bereits Widersprüche zwischen Worten und Taten in sich trägt oder man selbst aufgrund von Nachlässigkeiten oder einem Mangel an festen Überzeugungen einen Widerspruch entstehen lässt, spielt weniger eine Rolle.
Nebst gelegentlichen philosophischen Arbeiten wird zumindest in den Wirtschaftswissenschaften, speziell im Bereich von Führung und Management, viel Wert auf Integrität unter anderem von Führungskräften gelegt, denn Integrität wird als Schlüssel für den Unternehmenserfolg verstanden. Hierbei ist es jedoch häufig unklar, auf Grundlage welches Wertekanons die Integrität zu erfolgen hat und des Weiteren wie sie (dauerhaft) erreicht werden könnte.
Da heute kaum Antworten zu darauf zu finden sind, wie Integrität sichergestellt werden kann und warum sie bedeutend ist, lohnt sich ein Blick in die philosophische Vergangenheit. Mit Beginn der griechischen Klassik, über den Hellenismus bis in die römische Kaiserzeit hinein, etablierte sich die Auffassung von Philosophie als Lebenskunst. Gefragt wurde nicht nur, wie Wissen über die Welt zu erhalten ist, woraus die Welt besteht und was gut oder schlecht ist, sondern es wurde überlegt, wie alle Erkenntnisse über sich selbst und die Welt in eine ganzheitliche Lebenspraxis aufgenommen werden können. Die damaligen Philosophen wussten, dass erst eine solche Lebenspraxis so etwas wie Glück entstehen lassen kann, womit kein bloßes Glücksgefühl gemeint war, sondern ein vollumfänglich gelingendes Leben. Wie eine solche Lebenspraxis konkret gestaltet werden sollte, bestimmten jeweilige Philosophieschulen unterschiedlich. Allen Schulen ist aber gemein, dass die jeweils entworfene Lebenspraxis nicht auf destruktiven Elementen wie Täuschungen, ständigen Meinungswechseln je nach Gunst und Situation, Schwanken in kommunizierten Werturteilen oder Selbstinszenierungen je nach gesellschaftlicher oder politischer Lage oder sozialen Trends gründete. Man war sich einig: Nur gemeinschaftsförderliche Werte können zu so etwas wie Integrität beitragen sowie Heuchelei und Doppelmoral im Leben ausschließen oder zumindest stark verringern.
Dabei ist jedes Individuum kraft seiner eigenen Vernunft dazu angehalten, über seine Werturteile und sein Wissen über die Welt beständig selbst zu reflektieren. Keine Philosophieschule nahm den Menschen diese Leistung ab. Erst das autonome und eigenständige Reflektieren konnte am Ende ein glückliches Leben garantieren. Philosophische Autoritäten konnten dazu höchstens eine Hilfestellung leisten, mehr jedoch nicht. Zwielichtige Versprechen von selbsternannten Heilsbringern gab es nicht.
Auch heute fragen wir uns, worin Glück oder ein gelingendes Leben bestehen könnte. In der aktuellen Lebenswelt fehlt es oft an Orientierung, und in der Konsequenz auch an Zeit, um Antworten finden zu können. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie kann aber bereits einen guten Ausgangspunkt dafür bereitstellen, sich zumindest erste Gedanken darüber zu machen, was Heuchelei und Doppelmoral sein können, und wie und warum Integrität ein lohnendes Lebensziel sein kann.
2 Kommentare
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Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Gute Heuchler haben schneller Erfolg als rechtschaffene Menschen.
Der Erfolg der Heuchler beruht auf zwei Faktoren: Ihren eigenen Lügen und ein Umfeld, dass sich belügen/blenden lässt.
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Ja, ich kann diesem Beitrag gut zustimmen. Natürlich darf man Meinungen ändern, vor allem, wenn neue Tatsachen und Informationen dazu berechtigten Anlass geben.
Hier noch eine Bemerkung, warum es so viel Opportunismus gibt. Ich denke, eine große Rolle spielt hier das Geld. Wenn die Anzahl der Milliardäre, nicht nur in Deutschland, auch in anderen Ländern jährlich zunimmt, dann geht das nicht mit integrem Verhalten! So wie sich das opportunistische Verhalten unserer Geldeliten überall breitmacht, wirkt es auch auf das Verhalten des kleinen Mannes. Er ahmt es nach, mit all den verheerenden Auswirkungen.