Occupy Wall Street - und die Religion

(hpd) Die Darstellung der habgierigen Mechanismen der Finanzjongleure in dem Beitrag von Wilfried Müller erlaubt einen schockierenden Blick hinter die Schirme des heutigen Weltgeschehens. Um diese Vorgänge komplett zu begreifen, müssen jedoch noch einige vervollständigende Anmerkungen hinzugefügt werden. Ein Kommentar von Rudy Mondelaers.

Unterschreiben kann man die Müllersche Stoßrichtung: gegen religiöse und staatliche Bevormundung. Müller richtet sich insbesondere gegen die staatliche Bevormundung und im Laufe des Beitrages weniger gegen das Religiöse des Problems. Das ist nicht richtig. Die Finanzkrise ist im Wesen eine Erscheinung der religiösen Geprägtheit unseres Gesellschafts- und vor allem Wirtschaftssystems. Aber dazu später. Zunächst zur Müllerschen Argumentation.

Wenn ich Müller richtig verstanden habe, umschreibt er das heutige Problem als einen Konflikt zwischen einerseits der gegen die religiösen Gebote verstoßenden, unmoralischen Haltung der Finanzabenteurer (Habgier, Ausschweifung, Selbstsucht, Eigeninteressen, etc.) und andererseits der angeblichen religiösen Nächstenliebe (Seelenrettung) der staatlichen Finanzpolitik. Das Erste verstößt nach Müller gegen die „Rationalität“ des Marktes, das Zweite gegen die demokratische Mitsprache. Das ist ja sicherlich eine sakrale Erscheinung und zu vergleichen mit dem Verhältnis zwischen dem schweinischen Pfarrer oder Bischof vor Ort und dem reinen Papst bzw. dem Vatikan im fernen Rom. Aber eben nur eine Erscheinung mit ihrem jeweils inbegriffenen Schein. Müller sucht nach Moral in einer Bewegung, die diese nicht hergibt. Beide Erscheinungen haben ein und denselben tieferen Grund, der sie nicht gegeneinanderstellt, sondern sie zu einer sich gegenseitig bedingenden Einheit zusammenkittet.

Nicht immoralisch, sondern wesensbedingt

Methodologisch und unter Beachtung des Unterschieds zwischen der logischen (rationalen) Funktion und der historischen – eigentumsbedingten - Existenzform von Kategorien sind Ökonomie, Markt und Finanzen sowie Politik und Staat heute nur aus der Wirkungsweise der kapitalistischen Gesellschaftsformation zu begreifen. Sie werden vorherrschend durch die Prinzipien der Kapitalakkumulation dominiert. Wie Pfarrer und Papst werden Ökonomie und Finanzen ebenso wie Politik durch die ehernen Gebote oder Gesetze der unterliegenden Dogmen und Erfolgsreferenzen dominiert. Wie ich schon im Jahre 2009 versucht habe nachzuweisen, sind Habgier und schuldbewusstes Almosentum inhärente menschliche Verhaltensweisen, die im kapitalistischen Wirtschaftssystem ihren vollkommenen Bewegungsraum gefunden haben. Seit den Urformen des Kapitals gab es bereits irrationales Handeln, selbstsüchtigen Finanzbetrug, aussondernde Korruption und karikative Wundpflaster. Das gehört zum Kapitalismus wie das Weihwasserfass zur Kirche. Die wirkliche Ursache der heutigen Krisenvielfalt liegt aber nicht bei der Immoralität dieser scheinbaren „Betriebsunfälle“ des Marktes, sondern bei dem Wesen der Kapitalbewegung selbst.

Die detaillierte Beweisführung dieser Bedingtheit ist heute Inhalt von Tausenden Analyseversuchen der Finanzkrise in der linken Wirtschaftsliteratur. Sie hier in ihrer Gesamtheit wiederzugeben ist unmöglich, weil extrem komplex, und trotz allgemeiner Anerkennung der Grundthese, teilweise brüchig und kontrovers. Sie verlangt außerdem Kenntnis der öfter für Außenstehende wie Chinesisch wirkenden Terminologie.

Entkoppelung des Geldes von Materie

Als Versuch könnte hier kurz eine der eher marxistisch orientierten Varianten dargestellt werden. Sie startet von der These, dass die Konstituierung des neuen Eigentumsverhältnisses (Kapital als die Trennung vom Eigentum an Produktionsmitteln und Arbeit sowie die Trennung von Eigentum an produktivem und finanziellem Kapital) historisch ein neues Referenzsystem begründet hat: die grenzenlose Kapitalakkumulation. Um dies zu verwirklichen, wird zum einen, die Arbeitsleistung zu einem dem Kapital ständig erneut abzuleistenden Schuldverhältnis in Geldform: das Lohnverhältnis als Kreditverhältnis. Zum anderen wird das produktive Kapital zum Schuldner des Geldkapitals in Form des ständig zu leistenden Tilgungs- und Zinszwanges. Das Geld verwandelt sich dabei von reinem Zirkulationsmittel zu Kreditgeld als Träger der Kapitalakkumulation.

Das neue Eigentumssystem schafft sich so einen, dem neuen Referenzsystem angepassten, Bewegungsraum. Der Kredit muss nun nicht mehr vorrangig der Vorfinanzierung produktiver Aktivitäten in Erwartung vorhersehbarer erwirtschafteter Resultate im materiell-stofflichen Kreislauf dienen. Er muss und kann nun der grenzenlosen Akkumulation des Geldkapitals dienen und die damit zusammenhängenden Schuldverhältnisse unbegrenzt reproduzieren. Es kommt so zwangsläufig zur Verselbstständigung des Kreditgeldkreislaufes vom Kreislauf des materiell stofflichen Kapitals und von den Reproduktionsbedingungen der Arbeit und Natur. Spekulation und Kreditbetrug sind daher keine Missstände oder Betriebsunfälle des Kapitalmarktgeschehens, sondern inhärente Instrumente der unbegrenzten Steigerung der Akkumulation. Sie sind systemisch, jedoch letztendlich nicht ausschlaggebend für die Ursachenfindung.

Total und überall: der Kreditkreislauf

Trotzdem sind es diese Erscheinungen, welche heute im Mainstream als eine Hauptursache der Finanzkrise angesehen werden. Das verdeckt die wirkliche Ursache: Sie werden nicht als vom Anfang an dem Kapital immanent und nicht als nur nebensächliche Instrumente des übergeordneten Prozesses der unbegrenzten Kapitalakkumulation gesehen. Versucht man Letzteres zu erfassen, werden die konkreten Zusammenhänge weitaus komplexer als hier skizziert. So müssen z. B. auch unbedingt die sühnende, kreditregulierende Rolle des Staates und der heutige Einfluss des Kredites auf fast alle Bereiche der Lebensweise und der Natur erfasst werden. Wird diese analytische Vervollständigung gemacht, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass die Verselbstständigung des Kreditkreislaufes seine Totalisierung auf alle Bereiche der Gesellschaft erzwang und zuließ.

Diese Totalisierung ermöglichte – unterbrochen durch die notwendigen reinigenden Konjunkturkrisen – dann wiederum das scheinbar unbegrenzte Wachstum der kapitalistischen Akkumulation und daher Produktionsweise. Es ist nun dies von Mensch und Natur verselbstständigte Wachstum, was die heutige, euphemistisch als Finanzkrise bezeichnete Systemkrise verursacht. Die aktuelle systemgefährdete Dimension dieser angeblichen Finanzkrise ist in diesem Sinne nur eine Folge der ständigen Aufrechterhaltung der Wirkungsbedingungen des Kapitalismus durch die Ausnutzung der Spielräume des Kredites und nicht der Selbstsucht der Banker. Sie steigerte ihre Krisenhaftigkeit zeitlich und räumlich bis hin zur Katastrophe.

„Schuld und Sühne“-Dogmen des Kapitalismus

Zurück zu Müller bedeutet das alles, dass Rationalität, Anstand und Redlichkeit von diesem System zu verlangen, dem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Nicht die Politik oder ihre Entscheidungsträger an sich sind schuld an der unsäglichen Komödie bzw. Tragödie der sogenannten Rettungsschirme (übrigens auch nicht die mangelhafte politische Transparenz der „Piratenpartei“), sondern ihr Festklammern an den religiösen „Schuld und Sühne“ Dogmen des Kapitalismus. Wenn man sich nach Müller von den finanzkapitalistischen Heiligtümern emanzipieren will, dann muss man sich nicht nur gegen die nutzlosen Entscheidungsträger und die Finanzzocker, sondern vor allem gegen den Kapitalismus an sich richten. Damit läge er dann mit seiner Forderung voll auf der Linie der Väter der Occupybewegung, den kanadischen Adbusters, die mit ihrer Antikonsumismus-Aktion die kapitalistisch wachstumsbedingte Urwurzel der heutigen Krisenerscheinungen angreifen.

Damit wäre er dann auch konsequent atheistisch, weil der Kapitalismus die Religion der heutigen Zeit ist. Die detaillierte Beweisführung der letzten These wäre heute für die atheistische Welt eine notwendige, sowohl mobilisierende, als auch philosophisch weiterführende Aufgabe. Sie zu leisten, stößt jedoch immer noch auf die auch in diesen Kreisen noch verankernden Dogmen dieser neuen Religion. Es wäre zu hoffen, dass die aktuelle existenzbedrohende Finanzkrise diese ideologische Blockierung überwindet. Ansatzpunkte einer solchen Diskussion wären u. a. die These, dass die Religion zum scheinbar unbegrenzten Wachstum der kapitalistischen Produktionsweise beigetragen hat. Nicht im Sinne von Max Weber, der die Religion zum Wegbereiter des Kapitalismus machte, sondern eher im Sinne von Walter Benjamin, nach dem die Religion selbst sich parasitär zum Kapitalismus umwandelte.

Sinngebung durch Geldakkumulation

Danach gelingt es dem Kapitalismus, auf dem Hintergrund der evolutionären Säkularisierung der Religionen, die menschliche Sinngebungssehnsucht durch eine eigene garantierte Sinngebung zu ersetzen: die unbegrenzte Reichtumsakkumulation in Geldform. Instrument dazu ist die kapitalistische Formgebung der uralten religiösen Vehikel Schuld und Sühne zur Bestimmung der Verhaltensweisen der Akteure: die endlose Kreditierung von Arbeits- und Produktionspotenzialen als ewige Verschuldung. Sie ist allerdings im Unterschied zur christlichen Religion nicht zu sühnen, es sei denn durch den Untergang des Kapitalismus selbst, weil, wie heute sichtbar wird, der sühnende Wohlfahrtsstaat selbst der Endlosigkeit des Schuldenzwangs unterliegt. Was automatisch anstatt der Frage nach der Reform seiner Instrumente bzw. Institutionen, die nach der Gestaltung alternativer Paradigmen stellt.