Straßenkind für einen Tag

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Fotos: Töns Wiethüchter

BERLIN. (hpd) Eine Gruppe Jugendlicher macht sich auf dem Neuköllner Rathausplatz bereit für ihren Auftritt. Gemeinsam singen sie lautstark ein Lied und machen sich Mut für ihren Auftrag: Einen Tag, ein paar Stunden in die Rolle eines Straßenkindes zu schlüpfen.

Die Klasse 6c der Richardgrundschule ist entschlossen, an diesem Tag auf die massive und massenhafte Verletzung der Kinderrechte aufmerksam zu machen. Hier auf dem Rathausplatz, sieht man sie, wie sie mit ihren Spendenbüchsen Passanten ansprechen, wie sie mit selbst gebastelten Bauchläden Informationsmaterial anbieten. Sie arbeiten als Schuhputzer und verkaufen von ihnen gestaltete Kekstüten, die sie mit den Kinderrechten beschriftet und bemalt haben.
Unterstützt werden sie von der Lebenskundelehrerin Susan Navissi und der Klassenlehrerin Jana Werner. Doch es sind die Schüler, die sich im Rahmen eines Lebenskunde Projektes für diese Aktion entschieden haben: Sie haben den Tag geplant, gebastelt, getextet. Heute sollen sich ihre Mühen auszahlen.

Der Termin für die Aktion ist nicht zufällig gewählt: Am 20. November 1989 wurde die Konvention für Kinderrechte von der UN-Vollversammlung angenommen und in der Folge von fast allen Ländern der Welt ratifiziert – nur die USA und Somalia verweigerten ihre Unterschriften. Die Kinderrechtskonvention garantiert allen Kindern dieser Welt grundlegende Rechte. Scheinbare Selbstverständlichkeiten: Sie schützen Kinder vor Kriegen und Ausbeutung, vor Gewalt und sexuellem Missbrauch. Alle Kinder haben das Recht auf Bildung, auf den Zugang zu Informationen, ja auf Freizeit, freie Meinungsäußerung und auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Doch das Elend der Kinder dieser Welt wird nicht geringer und hat viele Gesichter. Gleichgültig welche Katastrophe über die heimischen Bildschirme flimmert: Immer sind es die Kinder, die am stärksten betroffen sind. Sie erregen Mitleid. Denn in ihren Gesichtern spiegelt sich das Versagen der Gesellschaften, für menschenwürdige Lebensverhältnisse zu sorgen. Deutlicher als durch das Leid und die Ohnmacht der Kinder kann das skandalöse Elend nicht werden.

Doch auch jenseits der Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche gibt es eine alltägliche Form des Elends, die kaum Beachtung findet: Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO leben weltweit rund 33 Millionen Kinder auf der Straße. Andere Quellen nennen bis zu 100 Millionen Straßenkinder. Davon allein in Bolivien geschätzte 800.000! 800.000 Kinder, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben: Sie halten sich mit schlecht bezahlter Arbeit über Wasser, als Straßenverkäufer, Müllsammler, Putzhilfen, Straßenmusiker oder Lastenträger. Andere versinken in einem Teufelskreis aus Prostitution, Alkohol- und Drogenkonsum und leben vom Betteln. Die Gesellschaft lehnt sie ab, Diskriminierung ist ihr Alltag. Viele der Straßen- und arbeitenden Kinder leiden unter mangelndem Selbstbewusstsein und Schuldgefühlen.

„Auf der Straße zu leben heißt, Hunger zu haben und beraubt zu werden“, so zitiert terre des hommes den 17-jährige Oscar, der sein Leben in der bolivianischen Großstadt Cochabamba beschreibt. „Es gibt Kämpfe untereinander; wir verletzen uns auch. Manchmal findest du Arbeit, aber ans Stehlen musst du dich gewöhnen, um was zu essen.“

Nein, die Schüler und Schülerinnen der 6c müssen nicht hungern, sie leben nicht auf der Straße und müssen für ihren Lebensunterhalt auch nicht klauen. Trotzdem verlangen ihnen ihre Aktionen, die unter dem Motto „Straßenkind für einen Tag“ stehen, alles ab: Zu Neuköllner Rapmusik führen sie schwierige Tanzfiguren auf, ein Theaterstück wird gegeben, es wird gesammelt, diskutiert, informiert und auch gelacht. Viele Passanten reagieren interessiert, manche jedoch abweisend und ohne Verständnis für das humanitäre Engagement der Kinder.

Das verdiente und gesammelte Geld wird der Organisation terre des hommes gespendet, die das boliviananisches Projekt Fundación La Paz, das sich um Straßenkinder in der Hauptstadt Boliviens kümmert, unterstützt. Das Motto der Fundación La Paz sei es, die Kinder derartig zu stärken, dass „diese ihre schwierige Lebenssituation überwinden und ihre Umgebung selbst verändern können“, so die Organisation. Wichtig sei, dass die Straßenkinder durch viele kleine Schritte wieder in die Gesellschaft integriert werden. Immerhin etwa 300 Kinder und Jugendliche nutzten die Angebote von der Fundación, informiert Terre des Hommes auf ihrer Homepage.

Am Ende eines besonderen Lebenskundetages stehen viele Erfahrungen und immerhin 300 Euro, die sich in den Spenden-Boxen angesammelt haben. Was für ein Erfolg von praktischem Humanismus in der Grundschule!

Herr Arnold Mengelkoch, der Integrationsbeauftragte von Neukölln machte sich die Mühe, durch einen kurzen Besuch den Kindern seine Unterstützung zu signalisieren, der einzige aus dem Rathaus Neukölln. Desinteresse zu erfahren und ignoriert zu werden – auch das gehört zu den Erfahrungen eines Tages, der die Schüler und Schülerinnen erschöpft, aber stolz und zufrieden gemacht hat. Sie haben heute etwas erreicht, sie haben sich tatkräftig und solidarisch für die Kinderrechte eingesetzt - für ihre Rechte.

Töns Wiethüchter