Requiem für die antike Kultur

Die Quellen sprechen zu uns, die überlieferte Erlaßlage ist eindeutig und die historischen Fakten beschuldigen Kaiser und Kirche, gemeinsam die Verantwortung für den Untergang einer ganzen Kulturlandschaft zu tragen, ohne Vergleichbares an ihre Stelle setzen zu können. Erstmals verbünden sich Monotheismus und staatliche Macht und zeichnen den Weg aller zur Macht gelangenden monotheistischen Religionen vor. Das Diesseits wird unerheblich und im Zentrum der Bildung stehen nun nicht mehr die sieben Künste, sondern die sieben Stufen der Seele oder des Gebetes (septem gradus cordis/orationis). Genuß ist ebenso verwerflich wie die antike Rede-Kultur, die als vordergründig Überholtes von einer Bildungsidee abgelöst wird, die "hinter die Zeichen" schauen will. Christliche „wahre“ Bekenntnisse werden gegen "falsche" antike Bildung ausgespielt und im Stakkato zerstörerischer Zielstrebigkeit versinken die Götter der Antike als Unholde in die tiefsten Schichten des Aberglaubens.

An ihre Stelle treten neue Gottheiten, mit nicht weniger menschlichen Attributen ausgezeichnet, ebenso widersprüchlich, die der alten Konkurrenz den Krieg ansagen: „Wenn irgendwelche Bildnisse noch in Tempeln oder Schreinen stehen, und wenn sie heute oder jemals zuvor Verehrung von Heiden irgendwo erhielten, so sollen sie heruntergerissen werden“, so ordnet es der Codex Theodosianus an. Libanios schildert in einem Brief an Kaiser Theodosius die Zerstörungswut durch „Banden schwarz gekleideter Mönche“ und Johannes Chrysostomos (349–407), damals Bischof von Konstantinopel, triumphiert in seiner apologetischen Schrift „Gegen die Heiden“: „Obwohl daher diese teuflische Farce [das Heidentum] noch nicht vollständig vom Erdboden ausradiert wurde, so ist das bereits Geschehene ausreichend, euch hinsichtlich der Zukunft zu überzeugen. Der größere Teil ist in sehr kurzer Zeit zerstört worden. Fortan wird niemand über die Überreste streiten wollen“.

Jubel über die Zerstörungen

Der Kirchenschriftsteller Theodoret bejubelt im fünften Jahrhundert den totalen Zerstörungsakt: „Wahrlich, ihre Tempel sind so vollständig zerstört, dass man sich nicht einmal ihre frühere Stätte vorstellen kann, während das Baumaterial nunmehr den Märtyrerschreinen gewidmet ist. … Siehe, statt der Feste des Pandios, Diasos und Dionysios und eure anderen Feste werden die öffentlichen Veranstaltungen nun zu Ehren des Petrus, Paulus und Thomas zelebriert! Statt unzüchtige Bräuche zu pflegen, singen wir nun keusche Lobeshymnen“.

In einer konzertierten Aktion werden die Kultstätten der häretischen und heidnischen Religionsgemeinschaften geschleift, die Tempel und Statuen entweiht und heilige Bäume abgeholzt. Philosophien, Akademien, Gymnasien, Theater, Stadien, Bibliotheken, Bücher, Kunstwerke, Festkalender, Olympiaden, Thermen, tausend Jahre Kultur, alles wird als belangloses Diesseitiges zu Boden getreten. Die wissenschaftlichen Untersuchungen versiegen, die Philosophie erstickt unter kirchlichen Dogmen und wird zu einer „Unvollendeten“ im Dienste der Kirche, die Vielfalt der bildenden Künste schrumpft, die öffentlichen Bibiotheken starren den Besucher aus leeren Bücherhöhlen an, die Musik wird in den exklusiven Dienst der Liturgie gezwungen, die Architektur auf die Errichtung immer höherer und teuerer Kirchen kanalisiert, die mathematischen Disziplinen dienen nur noch "der Berechnung des Ostertermins, der Festsetzung des Kalenders, der Ostung der Kirchenbauten und ähnlichen Gegebenheiten", die Astronomie darf lediglich das kirchliche Bild eines geozentrierten Universums vermitteln und das plastische Schaffen versickert in einer neuen "höheren Geistig-keit" der Jenseitserwartung, die den Formen der bisherigen Kunst überlegen sein soll und dennoch über Jahrhunderte der ergreifenden Schönheit des "Sterbenden Galliers" nicht das Wasser reichen kann. Antike Statuen werden mit abgeschlagenen Nasen der Nachwelt übergeben, der Erlaßlage nach vermutlich meist um 400/450 von Christen demoliert. Säkulare, frei auf einem Sockel stehende Statuen verschwinden für die folgenden tausend Jahre und die Reiterstatue Marc Aurels überlebt nur, weil sie irrtümlich als eine Constantin-Statue angesehen wird.

Der Archäologe Eberhard SAUER diagnostiziert: „Auf der Grundlage des literarischen und archäologischen Befundes kann es keinen Zweifel geben, daß die Christianisierung des Römischen Reiches und des frühmittelalterlichen Europas mit der Zerstörung von Kunstwerken einher ging in einer Größenordnung, die man in der Geschichte der Menschheit nie zuvor sah“.

Das Schulwesen verschwindet

Gemeinsam mit den Büchern und Skulpturen verschwindet das antike Schulwesen und an dessen Stelle treten die kirchlichen Lehranstalten. Die Klosterschulen aber nehmen, abgesehen von adligen Sprößlingen, nur in Ausnahmefällen Schüler auf, die nicht für die geistliche Laufbahn bestimmt sind. Für die übrigen gibt es so gut wie keine Möglichkeit, eine auch nur halbwegs elementare Erziehung außerhalb kirchlicher Einrichtungen zu erwerben. Während in der Antike das Ziel schulischer Ausbildung eine möglichst virtuose Beherrschung des sprachlichen Ausdrucks, die klare Entwicklung der Gedanken und ein ausdrucksstarker, hinreißender Vortrag gewesen ist, verlernen im frühen Mittelalter selbst die Angehörigen der mittleren und oberen Führungsschicht die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben. Die völkerverbindende griechische und lateinische Schriftlichkeit versiegt zu einem Rinnsal und droht von zahlreichen Volksidiomen überflutet zu werden.

Latein wird zur Sprache der Liturgie, der Kanzleien und weniger Gelehrter, während das Volk über keine Schriftsprache mehr verfügt. Jahrhundertelang wird es fortan ein Privileg der Geistlichkeit sein, lesen und schreiben zu können. Erst mit Kaiser Barbarossa wird um 1180 der Beginn der "höfischen Dichtung" markiert, die jedoch ausschließlich vom Adel getragen wird. Damit erlischt die Schriftlichkeit. Nach tausend Jahren breit gestreuten Lese- und Schreibkenntnissen, nach einer griechisch-römischen Epoche, in "der das Lesen und Schreiben ... grundsätzlich jedermann verfügbar war", in der ein überraschend großer Teil der Bevölkerung, auch des dritten Standes, dank der elementaren Schulausbildung, zahlloser Bibliotheken und der öffentlichen, auf Plätzen, in Bädern und Theatern vorgetragenen recitationes die großen griechischen und lateinischen Hauptwerke kennt, nach tausend Jahren geistiger Hochblüte wird der Analphabetismus normal und keinesfalls als ein Stigma empfunden. In den Gerichtssälen verschwinden die öffentlichen Gerichtsschreiber, das Volk erfährt über die biblia pauperum, die Bilderbibel für die geistig Armen, was Glaubenssache ist, und das Urkundenwesen verfällt, erkennbar an den überlieferten Subskriptionen: Ab dem siebten Jahrhundert mehren sich die Kreuze und Zeichen gegenüber autographen Bestätigungen. Zukünftig wird es an jeder Straßenecke sogenannte Stadtschreiber geben, die für andere Menschen gegen Bezahlung vorlesen oder schreiben. Am Ende wird selbst die tausendjährige römisch-antike Zeitrechnung aufgehoben.