Requiem für die antike Kultur

Monotonie religiöser Jenseits-Ausschließlichkeit

Ein unendlich reiches Erbe der Menschheit, von dem das gesamte Abendland noch heute zehrt, droht in einem einmaligen Kultursturm unterzugehen, weil die Antike als gottloser Irrweg an den Pranger gestellt wird und das Übernommene nur noch "äußerliches Formelgut“ ist, „herange-schwemmt von dem blinden Gezeitengang der Geschichte". Eine neue Welt tut sich auf, in der alles in der Monotonie religiöser Jenseits-Ausschließlichkeit versinkt, in der die verfeinerten Gedan-kengänge der Antike in den Untergrund handfester Vergröberungen von Gut und Schlecht gezogen werden und das irdische Vergnügen als anstößig gilt. Der aristotelische Ansatz, das Wirken und Werden in der Natur mit Hilfe einer empirisch fundierten Naturwissenschaft erklären zu wollen, wird von einem anmaßenden Wunderglauben abgelöst, eingesponnen in apokalyptischen Bildern, in Furcht vor Ungeheuern und Unmenschlichkeiten in einer fernen Welt und von dumpfen Jenseits-Hoffnungen erfüllt.

Mit der offenbarungsschweren Abrißbirne der Dogmatik wird auf die filigrane antike Denkarchitektur eingeschlagen und alles, was ehemals Bestand hatte, in Frage gestellt: Die Freiheit des Geistes, die Aristokratie der Vernunft, die Ehrfurcht vor den Gesetzen der Alten, die andächtige Scheu vor allen religiösen Gestalten, der Respekt vor der geordneten großen Welt. Stattdessen wird den Menschen die neue Weltgesinnung der Polarisierung vorgesetzt, das Entweder-Oder, Hölle oder Himmel, Glauben oder Unglauben, Christ oder Ungläubiger, Gehorsam oder Tod. Es ist in Wahrheit das Armageddon, die letzte endzeitliche Entscheidungsschlacht gegen die alten Götter, der Krieg gegen eine steinalte Kultur, ein apokalyptischer Kulturverfall.

Mystik, Aberglaube und Wundersucht

So sieht es eine Phalanx von Wissenschaftlern, die immer und immer die gleiche Botschaft wiederholt: Das kulturelle Milieu hat sich unter dem Einfluß der Jenseits-Dominanz radikal verändert.

Eine liberale, bunte, strömungsreiche, sich selbst erneuernde Welt voll lebhafter Wärme, "vielfältig, sich wandelnd, innovativ, widersprüchlich", mutiert in eine literarisch, künstlerisch und philosophisch monotone, von finsteren Dämonen und heiligen Dogmen beherrschte Kunstwelt mit allerlei Wunder-, Heiligen- und Märtyrergeschichten, voll gieriger Bereitschaft für das Ungewöhnliche, Vernunftswidrige, Unwahrscheinliche und Wunderbare. Man fühle "sich ... in eine andere Welt versetzt", schreibt der Verfasser des Handbuchs der Altertumswissenschaften M. MANITIUS: "Mystik, Aberglaube und Wundersucht überwuchern jetzt die früher oft so logische und sachgemäße Darstellung". "Bildung hat in ihr keinen Platz, an ihre Stelle ist der Glaube getreten", meint der Mainzer Archäologe G. HAFNER und fährt resignierend fort: "Der ... Versuch, den Menschen die Freiheit zu geben, selbst über sich zu entscheiden und Probleme durch logisches Denken zu lösen, hatte sich nicht durchsetzen können". 

Allianz von Staat und Kirche

Wen kann es wundern, daß diese Allianz aus Staat und Kirche beinahe zerbricht, die Kirche sich gegen ihren gefälligen Partner wenden und alle Macht verlangen wird? Geradezu fahrlässig haben die Kaiser des vierten Jahrhunderts die Rolle eines pontifex maximus aufgegeben, ohne gleichzeitig den Laizismus vorwärts zu treiben, haben sich schließlich religiös entmannt und eine zweite unabhängige Macht an ihrer Brust großgezogen. Ohne Not, ohne Druck der Straße haben sie dem Erzfeind des politischen, auf Ausgleich und Kompromiß bedachten Handelns, dem Dogmatismus, Raum zur Entfaltung gegeben, mehr noch ihn gefördert, blind für die vorhersehbaren Folgen.

Militärs, geboren aus dem Übergewicht der Heere, haben alles verschleudert, Naive ohne gründliche philosophische Bildung. Ein neuer Augustus, der altersklug und lebensweise die Gewichte austariert, ist nirgendwo zu sehen. Lediglich Julian, ein zweiter Marc Aurel, Philosoph auf dem Kaiserthron, scheint die Gefahr des religiösen Totalitarismus zu erkennen. Er regiert nur zwei Jahre. Stattdessen beginnt und endet das Jahrhundert, das dem antiken Geist ein Ende setzt, mit "Großen": Konstantin und Theodosius. Sie erhalten den schmückenden Beinamen von der christlichen Kirche. Ihnen, den "Großen", folgen die dunklen Jahrhunderte, eine Zeit der "Erschlaffung und Verödung, in der nur die kirchliche Literatur und Bildung weiterblüht".

Römisch-katholische Kirche

Am Ende ist der Wandel vollzogen und der kulturelle Rückfall in längst vergangen geglaubte Epochen abgeschlossen. Die Kriege mögen ihren Anteil beigetragen haben, ebenso die "Wanderung der Völker". Gewiß haben sich auch Teile der spätantiken Kultur überlebt, die in Retrospektive zu lange mit sich selbst beschäftigt gewesen ist. Auch ist es richtig, daß der Übergang von der Antike ins frühe Mittelalter keine Zäsur darstellt, keinen Bruch an sich. Denn die neuen Herren übernehmen ja die römische Gesetzgebung, die Rechtsprechung, die Verwaltungsverfahren, die Städte und viele zivilisatorische Errungenschaften. Ja selbst der pontifex maximus und die provinziale Gliederung werden von der katholischen Kirche übernommen. Neu hingegen ist der Wille, die alte Kultur - von den olympischen Spielen bis zu den philosophischen Schriften - hinwegzufegen. Neu ist die rigorose Arroganz, mit der das überquellende antike Erbe der Menschheit in praktisch allen Belangen bekämpft wird, ohne daß es gelingt, eine neue Kultur ähnlicher Vielfalt und Tiefe aufzubauen.

Dafür müssen wir mit dem Finger auf die geistlichen und weltlichen Träger der christlich-kirchlichen Weltanschauung weisen, die in weitgehender Verblendung, was Irdische überhaupt über die Unendlichkeit Gottes Vernünftiges zu sagen hätten, die Menschen zu einer gehorsamen, antriebsar-men, jenseitsgewandten Schau zwingen, zu einer Verleugnung und Zurücksetzung des eigenen Seins, zu einer ausschließlichen Verherrlichung alles Seelischen, zu ihrer Schau. Unter dem Diktat des antiken memento mori, das als Begründung für die Nichtigkeit des Diesseits mißbraucht wird, zerreißt die Gesellschaft und mit ihr die Kunsterziehung, die Feinsinnigkeit, das Verlangen nach Bildung und Luxus, der geistige Austausch, die Idee von der Freiheit des Forschens, Fragens, Suchens, Meinens, Denkens, Erkennens und Wollens, ja der selbstbestimmten Freiheit als eines erfüllbaren und erstrebenswerten Ideals überhaupt, der wissenschaftliche Diskurs, die öffentliche Rede, der gesellige Verkehr. Schließlich gibt es sie nicht mehr: die freie und widersprüchliche Gesellschaft. Und es darf als eine Meisterleistung der Kirche anerkannt werden, daß dieser apokalyptische Wandel selbst in Wissenschaftskreisen bis heute weitgehend unaufgedeckt bleibt, bestenfalls von Literaturwissenschaftlern - eher en passant - erwähnt wird. Als Folge wird noch heute unbefangen von den „christlichen Werten“ gesprochen, so als hätten nicht dreihundert Jahre vor der Geburt des Religionsgründers Jesus die griechischen Philosophen längst die Grundlagen für unser modernes Verständnis von den unveräußerlichen Menschenrechten gelegt.

Daß die Zeit damals durchaus offen gewesen ist für eine Fortführung der antiken Hochkultur, zeigen das byzantinische Ostreich, die arabischen Staaten und das maurische Spanien. Wenn wir also von einem dramatischen Kulturverfall im frühen Mittelalter sprechen, dann immer in Bezug auf das ehemalige, nunmehr christliche Westreich.

 

*) Der Text pointiert mit den Worten des Referenten, was in dem Artikel „Der Untergang des Abendlandes“ bereits berichtet wurde.

Es ist die gekürzte Fassung eines längeren wissenschaftlichen Textes.
Der ausführliche Text mit allen ausführlichen Anmerkungen und Quellenbelegen findet sich im
FOWID-Textarchiv.

Mit Einverständnis und freundlicher Erlaubnis der Redaktion von "Aufklärung und Kritik" und der Gesellschaft für kritische Philosophie, Nürnberg.