"Du bist nicht deine Gruppe – und deine Gruppe repräsentiert nicht die Menschheit!" Dies ist eine der Kernaussagen des Schwerpunktthemas "Mein Kopf gehört mir!", mit dem die Giordano-Bruno-Stiftung den "Identitätspolitiken" unserer Zeit entgegentreten will. Der Stiftung geht es dabei nicht zuletzt um die Verteidigung der offenen Gesellschaft, die von identitären Kräften zunehmend unter Druck gesetzt wird.
Die offene Gesellschaft orientiert sich am Individuum – nicht an der Gruppe. Die einzelne Person hat eine unantastbare Würde, sie steht im Mittelpunkt der Grund- und Menschenrechte, nicht die Familie, die Ethnie oder die Religionsgemeinschaft. Es ist kein Zufall, dass die Feinde der offenen Gesellschaft exakt den umgekehrten Weg gehen, also das Kollektiv an die erste Stelle setzen und von ihm aus das Individuum bestimmen. So sehr sich christliche Abendlandretter, Nationalisten oder Islamisten in ihren Ansichten auch unterscheiden, in diesem Punkt zeigt sich eine große Gemeinsamkeit: Sie alle legen die Individuen auf vermeintlich stabile Gruppenidentitäten fest und verteidigen ihr angestammtes kulturelles Getto reflexartig gegen das vermeintlich Feindliche des "Fremden", was immer wieder zu Akten "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" führt.
Eine besonders wichtige Form dieses Gruppendenkens ist der sogenannte "Familismus", der die Familie – und nicht das Individuum – als Basiseinheit der Gesellschaft begreift. Besonders in streng muslimischen Familien ist diese familistische Beschränkung der individuellen Freiheit stark ausgeprägt, worunter vor allem Mädchen und junge Frauen zu leiden haben. Gegen diese Freiheitsbeschränkungen gibt es bislang kaum vernünftige Gegenmaßnahmen, was wohl auch daran liegt, dass viele Politikerinnen und Politiker die Ideologie des Familismus selbst noch nicht überwunden haben.
Staatlich geförderte Echokammern
Genau an diesem Punkt setzt das gbs-Schwerpunktthema "Mein Kopf gehört mir!" an. Es verdeutlicht, "dass es katholische, protestantische, sunnitische oder schiitische Kinder ebenso wenig gibt wie christlich-soziale, liberale, sozialdemokratische oder grüne Kinder – tatsächlich gibt es bloß Kinder, deren Eltern bestimmte Partei- oder Weltanschauungspräferenzen aufweisen," führt gbs-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon aus. "Zwar dürfen Eltern ihre Kinder im Sinne ihrer jeweiligen Präferenzen erziehen, aber das heißt keineswegs, dass der weltanschaulich neutrale Staat eine solche Perspektivverengung aktiv unterstützen darf. Im Gegenteil, denn Kinder haben ein Recht darauf, möglichst vorurteilsfrei in die Welt eingeführt zu werden. Sie haben ein Recht darauf, die Tatsachen des Lebens zu erfahren und verschiedene Perspektiven kennenzulernen, mit deren Hilfe sie später ihre eigene Sicht der Dinge entwickeln können, ohne von Vornherein ideologisch in eine bestimmte Richtung gedrängt zu werden."
Dabei ist es, wie Schmidt-Salomon betont, "die wohl vornehmste Bildungsaufgabe des Staates, allen Kindern, gleich aus welcher Familie sie stammen, im Namen der Chancengleichheit Zugang zu Wissensquellen zu verschaffen, die ihnen in ihrem Elternhaus womöglich verschlossen bleiben." Leider aber versage das deutsche Bildungssystem auf diesem Gebiet auf tragische Weise, was sich insbesondere im Fall des Religionsunterrichts zeige: "Beim konfessionellen Religionsunterricht handelt es sich um eine ›staatlich geförderte Echokammer‹, die Gruppenidentitäten und -konflikte verstärkt, statt ihnen entgegenzuwirken. Einen schärferen Gegensatz zur guten, alten Maxime der Allgemeinbildung, ›alle alles auf umfassende Weise zu lehren‹, kann man sich kaum vorstellen."
Teil des gbs-Schwerpunktthemas ist daher eine Kampagne zur Einführung eines verpflichtenden Philosophie- und Ethikunterrichts für alle Schülerinnen und Schüler. Der Standpunkt der Stiftung ist dabei klar, wie die stellvertretende gbs-Vorsitzende Ulla Wessels ausführt: "Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Herkunft sollten gemeinsam kritisches Denken üben und über grundlegende Werte des Zusammenlebens, über kleine und große Fragen der Menschheit und über wichtige Mechanismen zur Lösung von Konflikten nachsinnen. Es gilt auf diese Weise das Miteinander und den demokratischen Habitus zu stärken: schon in der Schule und mit Wirkung weit darüber hinaus."
Das große Paradoxon unserer Zeit
Die Einführung eines für alle Schüler*innen verpflichtenden Philosophie- und Ethikunterrichts ist für die Stiftung allerdings nur ein notwendiger, keineswegs ein hinreichender Schritt, um die Individuen aus den "Zwängen der Kollektive" zu befreien. Vonnöten sei eine "echte Bildungsoffensive, die zu einer Entprovinzialisierung der oft hoffnungslos begrenzten Weltbilder führt, welche viele Menschen von Kindesbeinen an in sich aufgenommen haben", meint Michael Schmidt-Salomon. Für ihn zeigt sich an diesem Punkt auch das "große Paradoxon unserer Zeit", das dringend aufgelöst werden müsste:
"Noch nie haben Menschen so viel über die Evolution der Materie, des Lebens und des Bewusstseins gewusst – zugleich hat es jedoch noch nie so viele Menschen gegeben, die nicht einmal ansatzweise wissen, was wir bereits wissen. Mit dem James-Webb-Weltraumteleskop können wir heute Galaxien erkunden, die Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind – zugleich sind Abermillionen von Menschen noch immer in ideologischen Bonsai-Welten eingesperrt, deren intellektueller Denkhorizont auf ein solches Miniaturniveau zusammengeschrumpft ist, dass die 'eigene Religion', das 'eigene Volk' oder die 'eigene Nation' ungeheuer groß erscheinen müssen. Solange wir dieses Bildungsproblem nicht gelöst haben, werden wir die offene Gesellschaft kaum verteidigen können."
Selbstverständlich vertritt die Giordano-Bruno-Stiftung nicht den Anspruch, dieses Bildungsproblem lösen zu können. In Kooperation mit dem (von der gbs getragenen) Hans-Albert-Institut (HAI) will sie aber zumindest Anregungen geben, wie man Kindern und Jugendlichen ein weniger limitiertes Weltbild vermitteln könnte. Erfolgen soll dies unter dem Label "Philo-Kids", das als Ergänzung zu dem bereits etablierten "Evokids"-Projekt der Stiftung gedacht ist, welches die Evolutionstheorie an deutsche Grundschulen bringt. "Philo-Kids soll Schülerinnen und Schülern das notwendige philosophische Rüstzeug geben, um Fakten von Fakes, richtige von falschen Schlussfolgerungen und inhumane von humanen Aussagen unterscheiden zu können", erklärt HAI-Leiter Florian Chefai. "Denn nur so werden sie in der Lage sein, die Weltbilder, mit denen sie aufgewachsen sind, kritisch zu hinterfragen."
"Klare Kante" gegenüber Extremisten zeigen
So wichtig ein breit aufgestelltes Bildungssystem ist, allein wird es kaum ausreichen, um der identitätspolitischen Bedrohung der Demokratie entgegenzuwirken. Mindestens ebenso entscheidend dürfte sein, dass der weltanschaulich neutrale Staat die Spielregeln der offenen Gesellschaft konsequent durchsetzt – vor allem gegenüber denjenigen, die vormoderne religiöse Dogmen an die Stelle individueller Freiheitsrechte setzen wollen. Mit diesem Problem ringt das (ebenfalls von der gbs getragene) Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) bereits seit Jahren. Momentan begleitet das Institut u.a. die Fälle von drei Ex-Muslimen, die im August 2022 gegen das inzwischen geschlossene "Islamische Zentrum Hamburg" demonstriert haben. Nach einer Intervention des iranischen Mullahstaats erhielten die drei Kritiker*innen mithilfe des deutschen "Gotteslästerungsparagrafen" 166 StGB Strafbefehle in Höhe von 60 bis 90 Tagessätzen.
Insofern ist auch die im vergangenen Jahr gestartete "Free Charlie!"-Kampagne zur Abschaffung des "Gotteslästerungsparagrafen" als Bestandteil des aktuellen gbs-Schwerpunktthemas zu sehen. "Viel zu lange schon", meint Michael Schmidt-Salomon, "wurden ausgerechnet die reaktionärsten, identitärsten Gruppen innerhalb der Religionsgemeinschaften mithilfe von ›Gotteslästerungsparagrafen‹ protegiert, während die progressiven, weltoffenen Gruppen zusätzlich unter Druck gesetzt wurden. Es ist an der Zeit, diese unvernünftige Strategie zu beenden und ›klare Kante‹ gegenüber Extremisten zu zeigen!"
In dem mit vielen Karikaturen ausgestatteten "Free Charlie!"-Buch, das am 7. Januar zum 10. Jahrestag des Attentats auf "Charlie Hebdo" erscheinen wird, heißt es dazu: "Wir sollten den Strenggläubigen jeglicher Provenienz unmissverständlich vor Augen führen, dass der Verehrung der 'Jungfrau Maria' oder des 'Propheten Mohammed' in einem säkularen Staat keine höhere Bedeutung zukommt als etwa die Verehrung des FC Bayern München, von Monty Python oder Dolly Buster."
Drei Großveranstaltungen im Herbst
Zum diesjährigen Schwerpunktthema der Giordano-Bruno-Stiftung zählen nicht nur die erwähnten Kampagnen, sondern auch drei Großveranstaltungen im Herbst 2025: Der Veranstaltungsreigen wird eröffnet durch das (von der gbs unterstützte) Kortizes-Symposium "Identität im Wandel", das vom 3. bis 5. Oktober im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg stattfindet. Am 25. Oktober folgt in Berlin die Tagung "Auf dem Weg in die säkulare Gesellschaft?", die zum 20-jährigen Bestehen der (von der gbs getragenen) Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) ausgerichtet wird und bei der es nicht zuletzt auch um das Problem der "religiösen Identität" in einer weitgehend religionsfreien Gesellschaft gehen wird.
Identitätspolitische Fragestellungen wird schließlich auch das (von der gbs unterstützte) Philosophie-Festival "Philo.live!" behandeln, das vom "Philosophie Magazin" und der "phil.COLOGNE" vom 15. bis 18. November in Berlin organisiert wird. Weiterführende Informationen zum gbs-Schwerpunktthema 2025 und den mit ihm verbundenen Veranstaltungen wird die Stiftung zu gegebener Zeit auf ihrer Website sowie im gbs-Newsletter veröffentlichen.
Erstveröffentlichung auf der Website der gbs.