Die Zeiten sind hart in Österreich. Eine antidemokratische Partei bekommt die meisten Stimmen bei der Nationalratswahl, das Zusammenleben in der Gesellschaft wird gefühlt immer schwieriger, es gibt Berichte von Antisemitismus, gestiegenen Hassverbrechen und Jugendbanden. Glücklicherweise naht Rettung aus einer unerwarteten Richtung: Bei verschiedenen Veranstaltungen wird der große Beitrag des Religionsunterrichts für die Demokratie beschworen.
Der Bürgermeister lädt ins Rathaus ein und begrüßt die Teilnehmenden, dann wird "über die Rolle und Verantwortung des Religionsunterrichts im Hinblick auf Demokratiebildung diskutiert". Zuletzt am 18. November 2024. Der Vizebürgermeister verweist "in seiner Begrüßung ebenso auf die wichtige Rolle, die der Religionsunterricht bei der demokratischen Wertevermittlung innehabe".
Der konfessionelle Religionsunterricht wird uns also retten. Die Teilnehmer:innen der Veranstaltung weisen zwar darauf hin, dass viele Konflikte entlang religiöser Grenzen aus der Vergangenheit bis zur Gegenwart andauern, dass die Religionen selbst antidemokratisch verfasst sind, dass sie aber gleichzeitig die Lösung dieser Probleme darstellten: Sie unterrichteten nämlich das gesellschaftliche Zusammenleben, Toleranz, Gleichberechtigung und Demokratie. Bischof Franz Lackner erklärte bereits im Sommer: Religionsunterricht sei wichtig für die Demokratie. Anlass der damaligen Diskussion war der Vorschlag eines Demokratieunterrichts von niemand anderem als Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr. Seither hören wir immer wieder, wie wichtig der Religionsunterricht für den Zusammenhalt in der Gesellschaft, die Toleranz und das Verständnis für andersdenkende und damit eben für Frieden und Demokratie sei. Medienkompetenz, auch in Verbindung mit Sozialen Medien, ist ein weiteres häufig genanntes Bildungsziel. Der Nutzen des modernen Religionsunterrichts in der Schule sei also, dass die schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen darin genau diese Werte vermittelt bekommen.
Nicht alle
Der konfessionelle Religionsunterricht ist in Österreich das einzige "Pflichtfach", von dem man sich abmelden kann. Dieses Schulfach kann ganz einfach in der ersten Schulwoche abgewählt werden; jederzeit möglich ist der Austritt aus der Religionsgesellschaft, womit auch während des Jahres die Grundlage des Unterrichtsbesuchs entfällt. In den ersten acht Schulstufen gibt es gar keinen Ersatz; in den meisten Schultypen hat die Oberstufe seit drei Jahren den Ethikunterricht für jene, die nicht in Religion gehen.
In Wien ist die Hälfte der Bevölkerung konfessionsfrei, österreichweit 32 Prozent. Dies ist nicht eins zu eins das Verhältnis unter den Schüler:innen, aber auch da stellen die Konfessionsfreien eine große und schnell wachsende Gruppe. Für sie ist der konfessionelle Religionsunterricht gar nicht gedacht. Bei den Mitgliedern von Religionsgesellschaften sind die Abmelderaten von 21 Prozent (katholisch) über 38 Prozent (muslimisch) bis 68 Prozent (orthodox) der Schüler:innen der jeweiligen Konfession zu beachten.
Der Religionsunterricht erreicht also einen ziemlich großen Teil der Kinder und Jugendlichen gar nicht. Sie werden bei der Einteilung der Schüler:innen nach der Religion der Eltern (unter 14 Jahren haben sie keine volle Religionsfreiheit) einfach ignoriert, wenn sie konfessionsfrei sind, oder abgemeldet, weil die Eltern nicht wollen, dass ihnen "ihre" Religion unterrichtet wird. Es ist auch nicht abwegig, anzunehmen, dass Eltern ihre Kinder (oder die Jugendlichen ab 14 sich selbst) in einzelnen Fällen genau deswegen von Religion abmelden, weil dort Demokratie und etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter unterrichtet werden könnte. Diese Familien bevorzugen die Religionsunterweisung innerhalb der eigenen Gemeinschaft – ohne öffentliche Kontrolle, ohne demokratische Mitgestaltung der Lerninhalte.
Aber wenigstens erreicht der Religionsunterricht derzeit doch noch die Mehrheit der Schüler:innen und kann ihnen so Grundwerte der Demokratie, der Menschenrechte und die anderen wichtigen Themen nahebringen.
Keine Demokratie, keine Gleichberechtigung
Die Lehrpläne der 16 "anerkannten" Religionsgesellschaften werden in Österreich von ihnen selbst erstellt, dem Unterrichtsministerium vorgelegt und dort als Verordnung des Ministers veröffentlicht. Sie sind also öffentlich zugänglich, ihre Inhalte leicht überprüfbar und rechtlich bindend.
Darüber hinaus existiert noch ein "Religionsunterrichtsgesetz", das zwar die Umstände der konfessionellen Varianten des Religionsunterrichts, aber nicht seine Ziele oder Inhalte beschreibt. Demokratie, Gleichberechtigung, Menschenrechte suchen wir darin also vergebens. Ziel und Inhalt des Unterrichts beschreibt jeweils der Lehrplan für den jeweiligen konfessionellen Religionsunterricht.
Der offizielle, bindende Lehrplan für den römisch-katholischen Religionsunterricht in Volksschulen enthält weder das Wort "Demokratie" noch den Begriff "Gleichberechtigung". Der für die Gymnasien? Fehlanzeige. Varianten von Gleichberechtigung wie Gleichstellung, gleiche Rechte? Leider nein. Menschenrechte vielleicht? Tut mir leid.
Evangelisch? Ohne Demokratie, ohne Gleichberechtigung.
Alevitisch: Keine Demokratie, aber immerhin Gleichberechtigung … von Religionen, ein besonderes Anliegen der alevitischen Religionsgesellschaft, die vor Gericht erkämpfen musste, überhaupt als unabhängige Religion zu gelten. Die Frauen müssen leider weiter auf ihre Gleichberechtigung warten.
Orthodox: Keine Demokratie, keine Gleichberechtigung, keine Menschenrechte. Die orthodoxen Kirchen sind in Österreich die zweitgrößte christliche Gruppe.
Neuapostolische Kirche: Keine Treffer. Diese Religionsgesellschaft bräuchte sowieso dringend Nachhilfe beim Leben in demokratischen Gesellschaften, da sie in ihrem Katechismus die eigenen Vorschriften ("göttliche Gesetze") über die staatliche Rechtsordnung stellt.
Mormonen / buddhistischer Religionsunterricht: Keine Demokratie, keine Gleichberechtigung, keine Menschenrechte. Die Zeugen Jehovas haben noch nicht einmal einen Lehrplan für die Schule entwickelt, weil sie die religiöse Unterweisung ausschließlich in ihren Gemeinden durchführen.
Nur beim Islam und den Freikirchen wird man fündig. Es ginge also. Allerdings fehlen derzeit noch Studien, die ergeben hätten, dass jene, die im islamischen Religionsunterricht waren, besonders demokratische Einstellungen zeigten.
Das Fehlen dieser Konzepte im Großteil der Lehrpläne bei gleichzeitiger Beteuerung, wie wichtig exakt diese Dinge im Unterricht seien, fällt schon auf. Die Vertreter:innen der Religionsgesellschaften gehen zu Veranstaltungen und schwingen Reden über ihre wichtige Rolle für die Demokratie – und haben gleichzeitig bisher verabsäumt, das Thema in ihre Lehrpläne zu integrieren!
Ja gut, der Lehrplan mag zwar rechtlich bindend sein, aber den Unterricht kontrollieren eigene Inspektor:innen der jeweiligen Religionsgesellschaft. Und die drücken sicherlich wohlwollend ein Auge zu, wenn zusätzlich zum Lehrplan in der üppigen verbleibenden Zeit das wichtigste aller Themen, die Demokratie, die es leider nicht so benannt in den Lehrplan geschafft hat, doch noch unterrichtet wird.
Keine Zeit übrig
Die meisten Lehrpläne sind für zwei Wochenstunden, die normalerweise für den Religionsunterricht eingeplant sind, geschrieben.
Allerdings führen die Säkularisierung und die religiöse Fragmentierung in derzeit 16 Gesellschaften dazu, dass pro Klasse die Anzahl der Teilnehmenden leicht unter zehn fallen kann. Das Gesetz hat dafür eine Konsequenz vorgesehen: Die Stunden werden halbiert, es gibt nur mehr eine Stunde Religion pro Woche (Religionsunterrichtsgesetz § 7a (2)). Sicherlich eine schwierige Situation, aber die Religionslehrer:innen sind glücklicherweise an Universitäten und Hochschulen entsprechend ausgebildet, um Demokratie, Toleranz und Gleichberechtigung zusätzlich zu den Inhalten im Lehrplan auch in der halben Zeit unterzubringen.
Keine Ausbildung an der Uni
An diesem Punkt überrascht es nicht mehr: Auch die Studienpläne für die verschiedenen Religionspädagogiken nennen die Demokratie und verwandte Konzepte nicht. Nicht der katholische in Wien, nicht in Salzburg, auch in Innsbruck keine Spur von Demokratie, bei den Evangelischen unglücklicherweise auch null Treffer. Aber das kann man ja alles ändern, schließlich ist das eine ganz wichtige Sache, es geht um die Zukunft der freien demokratischen Gesellschaft.
Änderungen sind schwierig
Der Religionsunterricht ist das einzige Schulfach, das im Staatsgrundgesetz erwähnt ist. Änderungen daran müssen eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erreichen. Diese Festlegung führt zur häufigen Fehlannahme, dass der konfessionelle Religionsunterricht "in der Verfassung" stünde.
Die 16 Religionsgesellschaften bestimmen selbst über die Inhalte. Es müssen also nur ebenso viele Lehrpläne für jeweils mehrere Schultypen geändert und im Unterrichtsministerium abgesegnet werden – dafür müssen nur alle an einem Strang ziehen und effizient arbeiten, wie es für Österreich so typisch ist. Dann noch eine zweistellige Anzahl von Studienordnungen an Universitäten, einige von ihnen vom Papst beglaubigen lassen, und schon können entsprechend ausgebildete Religionslehrer:innen ganz regulär nach dem Lehrplan Demokratie unterrichten. Jetzt gerade halt noch nicht, weil der Religionsunterricht beginnend mit dem Konkordat so stark wie möglich einbetoniert wurde.
Dieses Einbetonieren war gewollt und über Jahrzehnte sehr bequem für die ehemalige Staatskirche. Sie konnte sich darauf verlassen, dass öffentliche Schulen, aus Steuergeldern bezahlt, die von der jeweiligen Kirche verfassten Inhalte "unterrichten" und damit neue Mitglieder an sie binden würden. Jetzt gäbe es vielleicht den Wunsch nach Änderungen, doch es geht nicht. Der Religionsunterricht ist das starrste, am schwierigsten zu entwickelnde Fach, und das wollten der Vatikan und Engelbert Dollfuß, der Austrofaschist der 1930er Jahre, so.
Aber wer rettet dann die Demokratie? Wo können die Kinder und Jugendlichen darüber lernen?
Demokratie im Lehrplan
Demokratie, Menschenrechte, die Gleichstellung von Frau und Mann, Medienkompetenz und andere wichtige Dinge stehen in Fächern, von denen sich niemand abmelden kann, im Lehrplan. Entsprechend akademisch ausgebildete Lehrer:innen unterrichten sie in der Volksschule, in der Mittelschule, in den Allgemeinbildenden Höheren Schulen. So wie moderner Unterricht sein soll, fächerübergreifend und regelmäßig, öffentlich kontrolliert, in ständiger Weiterentwicklung der Inhalte und der Didaktik. Aber jede zusätzliche Stunde, in der Demokratie und Menschenrechte besprochen werden, hilft, insofern können wir dem Religionsunterricht dankbar sein, dass er dieses wichtige Thema wirksam und mit langfristiger Wirkung behandelt.
Das Totalversagen des Religionsunterrichts
In der aktuellen Studie "Was glaubt Österreich" stimmen "nur mehr gut 22 % der Aussage zu, dass es einen Gott oder eine göttliche Wirklichkeit gibt". "Knapp 36 % glauben an ein höheres Wesen, eine höhere Energie oder geistige Macht."
Eine Umfrage Ende 2023 ergab: 16 Prozent der wahlberechtigten österreichischen Bevölkerung glauben, dass es "einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gibt". 45 Prozent glauben an ein "höheres Wesen oder geistige Macht".
Worum geht es eigentlich im römisch-katholischen Religionsunterricht, an dem die überwiegende Mehrzahl der österreichischen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens teilgenommen hat? Der Lehrplan für mehrere Schultypen beschreibt unter "Inhalt und Anliegen des Religionsunterrichts" unter anderem: "Daher sind Inhalt des Religionsunterrichts sowohl das menschliche Leben als auch der christliche Glaube" und "Dieser Glaube hat in Jesus Christus seine Mitte."
Stellen wir uns vor, dass nur 22 Prozent der erwachsenen Österreicher:innen in der Lage wären, ein- und zweistellige Zahlen richtig zu addieren. Das wäre ein Totalversagen des Pflichtfaches Mathematik, seine Grundlagen nachhaltig zu verankern. Oder dass nur 16 Prozent korrekt den Namen der Herrscherfamilie, die deutsch-römische und später österreichische Kaiser stellte, nennen könnten. Das würden wir zu Recht als Totalversagen des Geschichtsunterrichts einordnen, weil dieses Wissen in der "Mitte" der österreichischen Geschichte steht.
Wenn also die überwiegende Mehrzahl von Menschen, die einen speziellen "Unterricht" wahrgenommen haben, zentralen Aussagen dieses "Unterrichts" später nicht mehr zustimmt, steht in Frage, ob dieses Unterrichtsfach überhaupt seine selbst gesteckten Ziele erreicht. Ob seine didaktischen Methoden überhaupt geeignet sind, irgend etwas in der Mehrzahl der Betroffenen zu verankern. Oder ob relativierende, vieles als subjektiven Glaubensinhalt einordnende Ansätze vielleicht dazu führen, dass es gar keinen Nutzen hat, die Demokratie und Menschenrechte ausgerechnet in jenen Unterricht einzubringen, der seine Allgemeingültigkeit schon durch die zwangsweise Auftrennung der Schüler:innen in verschiedene Untergruppen widerlegt.
Lügen beginnt häufig bei sich selbst
Es mag ja sein, dass die versammelten Religionsvertreter:innen im Dialog mit der Politik überzeugt sind, dass ihr "Unterricht" geeignet und wichtig sei, die Demokratie ausreichend vielen Menschen näherzubringen und wirksam zu verankern. Andere könnten nach diesen öffentlich zugänglichen, leicht überprüfbaren und zwingenden Argumenten zu einem anderen Schluss kommen.
Problematisch wird es, wenn die Vertreter:innen des Staates und der Bundeshauptstadt nicht merken, dass sie getäuscht werden. Und nicht nur das, sondern durch Einladungen zum "Dialog", bei dem nur eine Seite mit starkem Interesse an öffentlicher Finanzierung überhaupt sprechen darf, die Desinformation auch noch aktiv befördern und verbreiten.
Etwa die Hälfte der Wiener Bevölkerung ist konfessionsfrei. Deren Vertreter:innen und ihre Positionen wären bei Veranstaltungen, zu denen die Politik einlädt, auch relevant, weil sie (auch österreichweit) die am schnellsten wachsende Gruppe sind. Aber bislang: Fehlanzeige. Die Narrative, die Selbsttäuschung, die Täuschung wirken. Und das ist ein Armutszeugnis für die Politik in einer Republik, in der Staat und Religion getrennt sein sollen.
Strukturell ungeeignet
Wir können vom Religionsunterricht in Österreich nicht erwarten, dass er eine wichtige Rolle für die Demokratie übernimmt. Er erreicht einen bedeutenden Anteil der Schüler:innen gar nicht, er hat Demokratie mehrheitlich nicht im Lehrplan, die Lehrer:innen lernen Demokratie und Menschenrechte nicht in ihrem Studium und der Religionsunterricht schafft es nicht einmal, seine zentralen Inhalte in der Mehrheit zu verankern. Gegenteilige Behauptungen von Menschen, die mit den gesetzlichen und gesellschaftlichen Grundbedingungen vertraut sind, können nicht als ehrlich und wahrheitsgemäß bezeichnet werden.
Wir haben aber in den Lehrplänen der öffentlichen Schulen Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Medienkompetenz festgeschrieben. Dieser Unterricht findet mit entsprechend ausgebildeten Lehrkräften interdisziplinär statt. Ihnen sollte unsere Unterstützung gelten, wenn wir die Bildung über Demokratie weiterentwickeln wollen. Sie verdienen jede Unterstützung und Anerkennung, die die Gesellschaft ihnen geben kann.
3 Kommentare
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Kommentare
Wolfgang Kloste... am Permanenter Link
Zum Religionsunterricht in Deutschland habe ich mich hier kritisch geäußert:
https://reimbibel.de/religionsunterricht .
Darin habe ich u.a. zu diesem Text ausführlich Stellung genommen:
Roland Fakler am Permanenter Link
Religion und Demokratie erfordern Gegensätzliches. Die Religion braucht gläubige und die Demokratie mündige Menschen.
A.S. am Permanenter Link
Die Kirchen wollen im Spiel bleiben. Dreist behaupten sie, Religion sei wichtig für den Demokratie.
Dumm nur, dass die geschichtlichen Fakten ein anderes Bild ergeben.