„Trotz Revolution wird doch gearbeitet“

 

hpd: Was passierte nachdem die Wahllokale geschlossen waren?

Es wurde ausgezählt und wir haben zugeschaut. Zum Schluss wurde das Ergebnis bekannt gegeben. Und das haben wir aufgeschrieben: die Zahl der abgegebenen gültigen und ungültigen und der Ja- und Nein-Stimmen. Diese Zahlen waren für uns entscheidend. Im Gemeindesaal der Samariterkirche haben wir Wahlbeobachter uns danach getroffen. Dort wurden die Ergebnisse gesammelt und addiert. Am Ende des Abends oder am nächsten Tag – das weiß ich nicht mehr so genau – waren die Summen dann bekannt. Es ist uns gelungen, die Auszählung in 83 der 89 Wahllokale in Berlin-Friedrichshain zu beobachten und die Ergebnisse zusammenzutragen. Es fehlten uns zwar sechs Wahllokale, aber wir hatten den Großteil der Ergebnisse. Soweit, wie wir es beobachtet hatten, liefen die Auszählungen korrekt und ohne Fälschungen.

Die Wahlergebnisse

hpd: Was wurde denn gefälscht und wie ist es aufgefallen?

Am nächsten Tag stand das vorläufige Wahlergebnis schon in der Zeitung und dann zwei Tage später das endgültige. Da uns ja Wahllokale fehlten, konnten wir das Ergebnis nicht tatsächlich überprüfen. Fest stand aber, dass wir in den beobachteten 83 Wahllokalen in Friedrichshain schon dreimal so viele Nein-Stimmen hatten, wie das endgültige Wahlergebnis für den ganzen Stadtbezirk auswies.

Um die Größenordnung deutlich zu machen: Als endgültiges Wahlergebnis wurden für Berlin-Friedrichshain (89 Wahllokale) 1.611 Nein-Stimmen veröffentlicht. Wir hatten aber schon 4.721 Nein-Stimmen – also dreimal soviel – allein durch die Addition der Ergebnisse der 83 Wahllokale ermittelt, in denen wir beobachtet hatten.

hpd: Warst Du überrascht?

Man hat es nicht gewusst, aber man hat es ihnen schon zugetraut, dass sie die Wahl fälschen könnten. Also insofern eher nicht. Es waren offiziell in Berlin-Friedrichshain 98,11 % Ja-Stimmen und 1,89 % Nein-Stimmen. Wenn man jetzt unser Ergebnis heranzieht bedeutet dies, dass es mindestens 5,54 % mit Nein-Stimmen gab. Aber 94,46 % waren Ja-Stimmen. Das ist zum einen durch den gesellschaftlichen Druck zu erklären, und damit, dass manche mit Ja gestimmt haben, obwohl sie etwas anderes dachten, weil sie sich etwas davon versprachen oder unter einem gesellschaftlichen Druck standen.

Die DDR-Führung war so unter Druck, dass sie die Wahl fälschen musste. Wenn sie sie nicht gefälscht hätte, wären es zwar immerhin noch 94 % Ja-Stimmen in Berlin gewesen. Aber es hätte Auswirkungen auf die nächste Wahl gehabt. Wenn die Bürger gemerkt hätten, dass es nicht nur 2 % sondern sogar 6 % Nein-Stimmen gab, so hätte das bei der nächsten Wahl viel mehr Wähler ermutigt, mit Nein zu stimmen, und die Zahl der Nein-Stimmen hätte lawinenartig zugenommen und die Legitimation der Regierung wäre dadurch infrage gestellt worden. Das musste mit allen Mitteln verhindert werden. Außerdem hätte die DDR-Regierung das Problem gehabt, schon bei dieser Wahl den Verlust an Zustimmung zu ihrer Politik zu erklären, wo doch alles angeblich immer besser und schöner wurde.

hpd: Habt ihr Einblick in die Stimmenthaltungen bekommen?

Nein, die Anzahl der Wahlberechtigten war uns nicht bekannt und schon gar nicht in Hinblick auf die einzelnen Wahllokale.

hpd: Nachdem nun klar war, dass das offizielle Ergebnis ein anderes war, als die tatsächliche Stimmauszählung erbracht hatte, was passierte dann?

Dieses Wissen wurde an die West-Medien weiter gegeben, und die DDR-Bevölkerung hat diese Nachricht über diesen Umweg erfahren. Die Information lief über Eppelmann und auch andere Kanäle. Dann war es unser Bestreben, mit rechtsstaatlichen Mitteln die Wahlfälschung aufzuklären. Wir, d. h. viele von uns, haben im eigenen Namen Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet und Eingaben an die Wahlkommission geschrieben. Es gab in der DDR kein Verwaltungsrecht, es gab keine Rechtsmittel, sondern nur diese Eingaben und das ist so eine Art von Bittstellung. Ich selber habe Eingaben an den Nationalrat der Nationalen Front und an den Staatsrat geschrieben und eine Strafanzeige beim Generalstaatsanwalt erstattet.

Angst, Mut oder Zivilcourage

hpd: Warst du durch Dein eigenes Handeln gefährdet?

Nein, zu der Zeit nicht. Für eine Karriere wäre es allerdings nicht gut gewesen. Ich hatte aber meinen Job und keine Idee, aufzusteigen. Ich hatte die Eingaben sachlich formuliert und in der Anzeige den Verdacht der Wahlfälschung begründet.

hpd: Hätten viel mehr Menschen mutig sein können – so wie ihr?

Ja, aber Viele wussten nicht davon. Wenn wir damit an die Öffentlichkeit hätten gehen können, dann hätten sich wahrscheinlich viel mehr Menschen daran beteiligt, aber dann wäre es auch von der Stasi unterbunden worden. Wir haben unsere Arbeit aber vor dem Wahltag nicht groß publik gemacht.

Noch einmal zu meiner Anzeige. Im Juni 1989 bin ich zur Staatsanwaltschaft Friedrichshain zum Gespräch eingeladen worden. Dort wurde mir mitgeteilt, dass mit der Wahl alles in Ordnung gewesen sei. Wie es zu der Differenz zwischen unserer Auszählung und dem amtlichen Ergebnis gekommen war, wollte der Staatsanwalt mir nicht erklären. Damit war dann die Sache beendet.

hpd: Für dich auch?

Na ja, an dem Punkt ging es erstmal nicht weiter. Eine Dienstaufsichtsbeschwerde gab es im Osten nicht und schriftliche Beweise auch nicht, keine geschriebene Zeile, alles blieb mündlich. Man sollte bei der Wahlkommission schon darauf vertrauen, dass alles richtig lief, so war die Verlautbarung und dann war das Gespräch zu Ende.