Alice Miller: Anwältin der Opfer

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Alice Miller / Foto: Julika Miller

BERLIN. (hpd) Die Schweizer Psychoanalytikerin und Erziehungswissenschaftlerin Alice Miller starb am 14. April im Alter von 87 Jahren, wie der Suhrkamp Verlag am Freitag mitteilte. In ihren Werken forderte sie immer wieder den Schutz vor Kindesmisshandlung und plädierte für eine liebevolle und gewaltfreie Erziehung.

Neben ihren 13 Büchern, die in hohen Auflagen und in 30 Sprachen erschienen wurde Alice Miller nicht müde, zum Schutz der Kinder vor Misshandlung aufzurufen: in Flugblättern, Artikeln, offenen Briefen. Selbst an Papst Johannes Paul II und Kardinäle schrieb sie mit der Bitte, die Eltern über die Folgen von körperlicher Gewalt gegen Kinder aufzuklären. Der Vatikan antwortete nicht.

Unermüdliches Engagement

Wer hingegen ihre Botschaft gerne annahm, waren und sind die Opfer von Kindesmisshandlung in der ganzen Welt. Der Tenor zahlreicher Leserbriefe, die sie auf ihrer dreisprachigen Website seit 2005 beantwortete und veröffentlichte war Dank dafür, dass sie unbestechliche Anwältin für die misshandelten Kinder war, dass sie den Mut hatte, das Tabu des 4.Gebots („Du sollst Vater und Mutter ehren“) zu brechen. Gerade letzteres unterscheidet ihren Ansatz von zahlreichen Therapieformen, allen voran der Psychoanalyse, die die misshandelnden Eltern in Schutz nimmt und das Kind im Stich lässt.
„Jeder Klaps ist eine Demütigung“ lautet eines der Flugblätter. Inzwischen haben Hirnforscher wie Martin Teicher und Dr. Bruce Perry bestätigt, dass körperliche Misshandlung in den ersten 4 Lebensjahren nachhaltige Schäden im Gehirn hinterlassen: der für Empathie zuständige Bereich wird stark beeinträchtigt.

Folgen für die Gesellschaft

Immer wieder hat Alice Miller auf die gesellschaftlichen Folgen der Kindesmisshandlung hingewiesen:
„Alice Miller sieht nämlich die Wurzeln der weltweiten Gewalt in der Tatsache, dass überall Kinder geschlagen werden, und dies noch in den ersten Jahren, zur Zeit der Ausbildung des Gehirns. Schäden, die aus dieser Praxis entstehen, werden von der Gesellschaft kaum wahrgenommen, sind aber verheerend. Denn gegen die an ihnen ausgeübte Gewalt dürfen sich Kinder nicht wehren, sie müssen die natürlichen Reaktionen wie Zorn und Angst unterdrücken und entladen diese starken Emotionen erst als Erwachsene an ihren eigenen Kindern oder an ganzen Völkern. Alice Miller beschreibt diese Dynamik in ihren 13 Büchern und illustriert sie nicht nur anhand ihrer Fallgeschichten, sondern auch anhand ihrer zahlreichen Studien über Lebensläufe der Diktatoren und berühmter Künstler. Die Vermeidung dieser Thematik in allen ihr bekannten Gesellschaften führt dazu, dass extrem irrationales Verhalten, Brutalität, Sadismus und andere Perversionen ungestört in der Kindheit produziert und die Produkte als naturgegeben oder als genetisch bedingt angesehen werden. Erst durch das Bewusstwerden dieser Dynamik kann die Kette der Gewalt unterbrochen werden, meint Alice Miller und widmet diesem Ziel ihr ganzes Lebenswerk.“ (Aus „Portrait von Alice Miller“ auf ihrer Internetseite.)

Die Malerin

Zahlreiche Bilder, die in einem Buch und auf ihrer Website veröffentlicht wurden zeugen von einer außerordentlich begabten und authentischen Künstlerin. Durch eine raffinierte Schabtechnik sind ihre Bilder vielschichtig und hochemotional. Sie erzählen von einer intensiven Gefühlswelt und von Grausamkeit, die sie in ihrer Kindheit erfahren musste.

Das Anliegen

Die Aufklärung über die Folgen von Kindesmisshandlung für Individuum und Gesellschaft war ihr wichtigstes Anliegen.
Ein Großteil der wissenschaftlichen Fachwelt und –medien und der PolitikerInnen scheint immer noch taub für dieses Anliegen zu sein. Es ist die gleiche Taubheit, die die Stimmen der als Kinder Misshandelten (in Familie, Heim, kirchlicher Institution, Schule/Internat, etc.) nicht hören wollte, gewissermaßen eine Gefühlstaubheit oder ein erheblicher Mangel an Empathie, der sich laut Alice Millers Thesen aus den Folgen der Kindesmisshandlung ergibt. Denn fast alle heute Erwachsenen wurden in ihrer Kindheit geschlagen.

Katharina Micada

 

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