BERLIN. (hpd) In England hat sich knapp die Mehrheit der Bevölkerung für den Brexit entschieden, in den USA sind fast 50 Prozent für Trump und in der Türkei hat über die Hälfte der Bevölkerung demokratisch für einen Präsidenten gestimmt, der nun ihre demokratischen Rechte beschneidet. Sie alle jubeln und feiern sich selbst. Was macht währenddessen eigentlich die andere Hälfte der Bevölkerung?
Es geht ein Riss durch die Welt. Nicht irgendwo. Direkt vor unserer Haustür. Nein: Mitten durch unser Haus.
Bis zuletzt hatte Kontinentaleuropa gehofft, dass in Großbritannien nur einige Spinner für den Brexit stimmen würden. Aber es kam anders. Etwas mehr als Hälfte der britischen Bevölkerung erklärte, dass sie mit Europa nichts mehr zu tun haben und sich fortan selbst um ihre Angelegenheiten kümmern wolle. Die andere Hälfte der britischen Bevölkerung war und ist darüber ebenso schockiert wie der Rest Europas.
In Österreich ist man im Mai nur knapp am selben Schock vorbeigeschrammt. Dort wünschte sich fast die Hälfte der Bevölkerung den Kandidaten der rechtspopulistischen FPÖ als Bundespräsidenten. Nicht einige wenige Ewiggestrige, nein, auch hier: die Hälfte der Bevölkerung. Und die Gefahr des Schocks ist bei Weitem nicht gebannt. Weil man in einigen Dorfschenken unfähig war, sich an die vorgeschriebenen Abläufe zu halten und Briefwahlstimmen zu früh auszählte, wird die Wahl im Herbst wiederholt. Schockmöglichkeit inklusive.
Auch in den USA geht der Riss durch die Mitte der Gesellschaft. Für die Präsidentschaftswahl zwischen Trump und Clinton wird ein knappes Ergebnis vorhergesagt. Und es ist durchaus nicht auszuschließen, dass der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ein "armseliger, ungebildeter, gefährlicher Teilzeit-Clown und Vollzeit-Soziopath" sein wird – um es in den Worten des Filmemachers Michael Moore auszudrücken. Falls das geschieht, geschieht es auch hier wieder, weil die Hälfte der Amerikaner es so will. Die Hälfte!
Was ein Mann im Präsidentenamt anrichten kann, der einen Staat nach seinem Ebenbild formen will, erlebt die Welt derzeit in der Türkei. Und auch dieser Mann ist von über der Hälfte seiner Bevölkerung gewählt worden. Mehrfach. Und diese Hälfte jubelt ihm zu, während er die Demokratie der Türkei in eine inhaltsleere Worthülse verwandelt.
Ja, sie jubeln. Ebenso wie die Brexit-Befürworter in Großbritannien, wie die FPÖ-Anhänger in Österreich, wie die Trump-Fans in den USA. Sie feiern sich selbst und ihre Stärke und freuen sich darauf, die politischen Gegner endlich mundtot machen zu können.
Und was macht währenddessen die andere Hälfte? Jene, die sich für die intellektuelle Elite hält? Sie schaut mit Herablassung auf den rechten Mob, rümpft die Nase, wendet den Blick in eine andere Richtung und versucht das Problem zu verharmlosen. Mitunter erinnert die Verharmlosung an jene Szene aus dem Film "Die Ritter der Kokosnuss" von Monty Python, in der einem Ritter nach und nach alle Gliedmaßen abgeschlagen werden, während er standhaft darauf beharrt, es sei nur eine Fleischwunde.
Was in unseren Gesellschaften passiert, ist schon lange keine Fleischwunde mehr. Und ich weiß, dass an dieser Stelle eines Kommentars üblicherweise eine schlaue Empfehlung zur Lösung des Problems steht. Aber ich habe keine. Weder ein Patentrezept, um den Verlust weiterer Gliedmaßen zu verhindern, noch genug Verbandszeug, um wenigstens die vorhandenen Blutungen zu stillen. Ich weiß nur, dass der erste Schritt zu einer möglichen Änderung stets die Erkenntnis und Kenntnisnahme von Tatsachen ist. Egal wie bitter sie sein mögen.
6 Kommentare
Kommentare
valtental am Permanenter Link
Liebe Autorin, ich schätze Ihre sonstigen Artikel über Informationen in Inn- und Ausland. Obiger ist aber eher ein Zeugniss von Hilflosigkeit in Verbindung mit sachlichen Fehldarstellungen:
"Etwas mehr als Hälfte der britischen Bevölkerung erklärte, dass sie mit Europa nichts mehr zu tun haben ... wollte."
Nicht mehr als die Hälfte der Bevölkerung, sondern der Abstimmenden, was rund 37% der Bevölkerung entspricht, stimmten nicht gegen Europa, sondern die EU, was ein Unterschied ist. (Übrigens auch in Österreich waren es bei 72% Wahlbeteiligung rund 35% der Bevölkerung pro FPÖ, und nicht die Hälfte.)
"Und was macht währenddessen die andere Hälfte? Jene, die sich für die intellektuelle Elite hält? Sie schaut mit Herablassung auf den rechten Mob, rümpft die Nase, wendet den Blick in eine andere Richtung und versucht das Problem zu verharmlosen."
Zumindest die deutsche Politik- u. Medienlandschaft versucht wohl eher "die politischen Gegner endlich mundtot machen zu können." - wenn man deren kontraproduktive Haudrauf-Mentalität der letzten Monate verfolgt.
Und dann schreiben Sie mehrmals von "Schock". Wenn man die Entwicklungen insb. seit den Finanzverbrechen um 2009 verfolgt, ist die aktuelle politische Lage nur logische Folge. Und vor Strache gab es schon einen erfolgreichen Haider, was kann da heute schockieren?
Und auch Trump wird gegen Clinton gewinnen, trotzdem oder gerade weil er als "armseliger, ungebildeter, gefährlicher Teilzeit-Clown und Vollzeit-Soziopath" dargestellt wird, selbst wenn er das sein sollte.
"Und ich weiß, dass an dieser Stelle eines Kommentars üblicherweise eine schlaue Empfehlung zur Lösung des Problems steht. Aber ich habe keine."
Was nicht verwundert, wenn das Problem nur beklagt, aber dessen Ursachen nicht thematisiert werden.
Karl-Heinz Büchner am Permanenter Link
Zitat: "Was nicht verwundert, wenn das Problem nur beklagt, aber dessen Ursachen nicht thematisiert werden."
Letzten Endes stellt sich die Frage, ob die "Aufspaltung der Gesellschaft" in zwei relativ gleich große Teile nicht zwangsläufige Folge einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Profiteuren der Gesellschaft (bzw. denen, die sich dazu zählen) und ihren Verlierern darstellt? Verlierer eines Systems wird es immer geben, wenn die Zahl der (zumindest gefühlten) Verlierer aber so groß wird, dass sie imstande ist, das System von innen heraus zu kippen, dann hat die Führung es versäumt, einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu führen, der zu einer neuen Balance und in ihrer Folge zu stabilen Mehrheiten führt.
Wolfgang am Permanenter Link
Die eine Hälfte der Bevölkerung ist dumm, die andere schlau. Allerdings kann sich auch das verschieben und keiner kann dieses
Hirn vom Himmel " wird ungehört verhallen.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
„Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“ (Winston Churchill)
Das Kernproblem ist der Mensch. Wegen ihm hat keine diktatorische Regierungsform funktioniert, selbst wenn sie mir guten Ideen startete, wegen ihm funktioniert auch die Demokratie nicht, weil er dann eben Diktatoren wählen kann. Eigentlich ist der Mensch total unfähig, regiert zu werden oder zu regieren.
Es wird immer eine unzufriedene Hälfte geben. Mal sind die Hardliner dran, mal die Weicheier. Da es den Mensch in unterschiedlichsten Ausführungen gibt und ein uniformierter Einheitsmensch auch ein Gräuel wäre, müssen wir damit wohl irgendwie klarkommen.
Wir sind halt noch Urmenschen, die auf den nächsten Schub der Evolution warten. Sind wir also reif für die technischen Wunderwerke, die wir uns mit unserem Erfindergeist geschaffen haben? Gewiss nicht! Genies erfinden Spielzeuge für Idioten. Die Idioten können diese Spielzeuge benutzen, ohne deren physikalisches Grundprinzip zu verstehen. Der Urmensch konnte auch Wasser trinken, ohne dessen molekularen Aufbau zu kennen.
Wir sind also instinktgesteuert, wir haben Bedürfnisse, die sehr wenig mit rationalem Verständnis oder ethisch verantwortungsvoller Politik zu tun haben. Menschen sind Egoisten und das ist eine natürliche Schutzreaktion und kein böser Wille.
Die Weltgeschichte ist voll von wirkmächtigen Despoten, die testosteronstrotzend über Leichen gingen und niemand hat daraus gelernt. Betroffenheit, ja, Scham, Wunsch nach Veränderung. Aber langfristig haben diese Totalkatastrophen der Historie niemanden beeinflusst.
Wie leicht wäre es, den Türken zu erklären, dass Hitler auch demokratisch gewählt wurde, dass ihm die Massen fähnchenwinkend zujubelten, ihn verehrten, wie heute Erdogan. Doch das wird nichts bringen, denn Erdogan ist nicht Hitler - die werden ja schon ganz anders buchstabiert. Und außerdem brauchen wir doch einen Macho an der Spitze, weil doch die hinterhältigen Kurden und der böse Gülen und der Putin und Europa und überhaupt...
Stets liefert die Zeit neue Argumente und schon wird das Konstruktionsprinzip unseres Unglücke nicht mehr erkannt.
Was bleibt? Rumsitzen und auf die Evolution hoffen? Oder aufklären, auch wenn man sich dabei hin und wieder wie Don Quijote fühlt...
ThomasHaas am Permanenter Link
der Kommentar ist granatenstark - würde man heute sagen. Darf ich Sie zitieren?
Beste Grüße aus Köln,
Thomas Haas
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Darf ich Sie zitieren?"
Gerne, es ist ja hier eh veröffentlicht.