Wie Kirchenvertreter NS-Tätern zur Flucht verhalfen

MÜNSTER. (hpd/exc) Der Historiker Olaf Blaschke schreibt über die sog. "Klosterroute" und zur Frage, warum Argentinien noch vor 70 Jahren Deutschland den Krieg erklärte und dennoch zum "Eldorado für Nazis" wurde.

Mehrere tausend Nationalsozialisten und NS-Kollaborateure sind nach Kriegsende vor 70 Jahren Historikern zufolge mit Hilfe von Ordens- und Kirchenleuten nach Argentinien geflohen. Nazi-Verbrecher wie Adolf Eichmann brachten sich über die sogenannte Klosterroute in Sicherheit, obwohl Argentinien noch am 27. März 1945, vor genau sieben Jahrzehnten, als letzter Staat der Welt Nazi-Deutschland den Krieg erklärte, wie Zeithistoriker Prof. Dr. Olaf Blaschke vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" auf www.religion-und-politik.de schreibt.

Die späte Kriegserklärung aus Buenos Aires sei an sich von geringer Bedeutung, da nicht gekämpft wurde und Deutschland bald kapitulierte. "Aussagekräftig ist das späte Datum aber für die Frage, warum Argentinien im Grunde deutschfreundlich blieb und bald zum Eldorado für geflohene Nationalsozialisten wurde", so Prof. Blaschke. Tausende Täter hätten das Land durch "klerikale Helfer" erreicht. "Wenn im Mai 2015 siebzig Jahre Befreiung vom NS-Terror gefeiert werden, sollte nicht vergessen werden, wie leicht es vielen NS-Tätern gemacht wurde, sich in den Jahren danach ihrer Verantwortung zu entziehen."

Prof. Blaschke legt in dem Beitrag dar, wie und warum Vertreter kirchlicher Institutionen und Orden sowie des Roten Kreuzes beim "Durchschleusen" von Nationalsozialisten und Kollaborateuren halfen. Die Liste dieser Personen sei "lang und erschreckend": "Neben Eichmann auch Josef Mengele, KZ-Arzt von Auschwitz, Walter Rauff, Chefkonstrukteur der Gaswagen, in denen mehr als 200.000 Menschen ermordet wurden, Klaus Barbie, SS- und Gestapochef von Lyon, verantwortlich für Judendeportationen und die eigenhändige Folterung von Mitgliedern der französischen Résistance, Erich Priebke, SS-Offizier, seit 1943 Gestapoleiter in Rom und verantwortlich für das Massaker an 335 Geiseln in den Ardeatinischen Höhlen, außerdem Erich Müller, ein enger Mitarbeiter Josef Goebbels." Einige von ihnen seien später aufgespürt worden, etwa Eichmann 1960 in Argentinien und Barbie 1983 in Bolivien. Prof. Blaschke: "Ihnen wurde endlich der Prozess gemacht."

Buch beschreibt Vergangenheitspolitik der Kirchen ab 1945

Insgesamt erreichten nach Schätzungen von Historikern mehrere tausend Faschisten und Kollaborateure aus Italien, Belgien, Ungarn, Kroatien und anderen Ländern Argentinien, auch 300 bis 800 höhere NS-Funktionäre, darunter rund 50 schwer belastete Massenmörder und Kriegsverbrecher, wie der Forscher ausführt. Sein jüngstes Buch "Die Kirchen und der Nationalsozialismus" aus dem Reclam Verlag beleuchtet das Verhältnis der christlichen Kirchen zum NS-Staat und seiner Ideologie. Der Überblicksband folgt der Frage, ob Christentum und Faschismus unvereinbar waren, oder ob es eine Nähe gab. Am Ende der chronologischen Darstellung (die zunächst einen europäischen Überblick gibt und die Weimarer Republik und fünf Phasen der NS-Diktatur beschreibt) beleuchtet der Autor die Vergangenheitspolitik der Kirchen ab 1945.

Flüchtige NS-Täter gelangten ab 1945 über Klöster in Südtirol und Italien nach Rom, wo ihnen die "Päpstliche Hilfskommission für Flüchtlinge" Papiere mit zum Teil frei erfundenen Personaldaten ausstellte, wie der Historiker in seinem Beitrag erläutert. Damit hätten sie beim Roten Kreuz das begehrte Reisedokument für die Fahrt nach Argentinien bekommen. Dass das Land "deutschfreundlich" gewesen sei, zeige nicht nur die "späte Geste der Kriegserklärung", die erst auf Druck der Alliierten erfolgt sei. Auch sympathisierte das in Argentinien mächtige Militär demnach mit den Achsenmächten und Präsident Juan Péron bewunderte Benito Mussolini und Adolf Hitler. "Er förderte die Einwanderung, vorausgesetzt, die Kandidaten waren 'weißer Rasse', am besten katholisch und keinesfalls jüdisch." Die ehemaligen Nazi-Größen sollten dem Forscher zufolge das Land wirtschaftlich und sozial an die Spitze des Kontinents bringen.

Motive der kirchlichen Fluchthelfer

Zu den Motiven der kirchlichen Helfer schreibt der Wissenschaftler, sie hätten ihre Fluchthilfe erstens als Akt christlicher Nächstenliebe verstanden, "denn die Flüchtenden galten als Opfer, denen zu helfen sei". Zweitens sollten die Verbrechen der NS-Täter und der Antisemitismus vergeben werden, "denn sie hätten ja nicht eigenmächtig gehandelt, sondern nur Befehle derjenigen befolgt, die im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher (November 1945 bis Oktober 1946) schon verurteilt worden seien". Den Antisemitismus habe man "gut nachvollziehen" können, "pflegte der Katholizismus doch selber starke Ressentiments gegen Juden, die darin gipfelten, Antisemitismus für 'erlaubt' und gut katholisch zu halten, solange er nicht in Rassenhass ausarte", heißt es im Beitrag. Drittens habe die Kirche in den flüchtigen "kampferprobten SS-Männern", die zum Teil wiedergetauft wurden, einen "vielversprechenden Ausgangspunkt für das 1945 einsetzende Projekt der Rechristianisierung Europas" gesehen. "Ein im Christentum gefestigtes Europa stärke – damit viertens – den Kampf gegen den Kommunismus, den die katholische Kirche schon im 19. Jahrhundert als antichristlich verurteilt hatte."

Prof. Dr. Olaf Blaschke (Foto: privat)

Prof. Dr. Olaf Blaschke (Foto: privat)

Ob die Fluchthelfer die Identität und die Verbrechen der Flüchtlinge kannten, sei für die Geschichtswissenschaft schwer herauszufinden, so Prof. Blaschke. "Zweifellos – so argumentieren kirchennahe Historiker – handelte es sich in den Jahren ab 1944 um eine unübersichtliche Situation. Die Lager in Italien waren voll von Kriegsgefangenen, vor der Roten Armee oder Titos Partisanen Geflohenen, Balten, staatenlosen 'Volksdeutschen', NS-Tätern und Massenmördern. Wer sollte die alle identifizieren? Die Behörden waren überfordert, und die Kirche drückte gnädig ein Auge zu. Wie oft Tätern im klaren Wissen um ihre Taten oder in naiver Unkenntnis geholfen wurde, ist tatsächlich nicht zu ermitteln." Für die Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte seien noch nicht alle nötigen Archive öffentlich zugänglich.

Für manche NS-Täter sei aber nachweisbar, dass sie von ihren Helfern erkannt wurden, so der Zeithistoriker. Bischof Alois Hudal, ein Freund von Papst Pius XII, der seit 1944 als Fluchthelfer tätig gewesen sei, habe etwa den Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, "klarnamentlich" begrüßt. Dieser habe in der Villa Hudals wohnen dürfen, "wo ständig vier bis fünf Nationalsozialisten versteckt wurden". Bischof Hudal kooperierte eng mit anderen Bischöfen und Klerikern, dem Roten Kreuz, der Caritas und dem argentinischen Präsidenten Perón, wie der Beitrag ausführt. "In seiner 'Lebensbeichte' bekannte er 1976, wie sehr seine ganze karitative Arbeit den früheren Angehörigen des Nationalsozialismus und Faschismus gegolten habe, 'besonders den sogenannten Kriegsverbrechern'." Das Verhalten von Hudal entsprach nach Einschätzung von Prof. Blaschke einer verbreiteten Haltung in kirchlichen Kreisen, bei deutschen Politikern und in der Bevölkerung.

 


Olaf Blaschke: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart: Reclam Sachbuch 2014, 288 Seiten, ISBN: 978-3-15-019211-5, 8,00 Euro