Nazi-Morde: Der Staat und die Opfer

Auf dem rechten Auge blind?

Vor dem Hintergrund des allgemeinen Umgangs des Staates mit rechtsradikalen Straftaten in Deutschland, dem umstrittenen Einsatz von V-Leuten innerhalb der NPD und anderen rechtsextremen Organisationen und der starken Betonung der Gefahr durch islamistischen oder linksextremen Terror, stellt sich sowohl im Inland als auch im Ausland immer deutlicher die Frage, ob deutsche Behörden, Ermittler und Politiker „auf dem rechten Auge blind sind“.

Ein deutliches Zeichen für die Vernachlässigung entsprechender Taten sind die offiziellen Zahlen zu den Todesopfern rechter Gewalt. Die Bundesregierung und ihre Behörden zählen im Zeitraum zwischen 1990 und 2010 insgesamt 47 Todesopfer rechts motivierter Gewalttaten. Auf die Zeit zwischen 2000 und 2010 entfallen hierbei fünf solcher Taten.

Eine gemeinsame Recherche von ZEIT und Tagesspiegel kommt im Jahr 2010 zu völlig anderen Ergebnissen. Die Redakteure konnten zwischen 1990 und 2010 insgesamt 137 Fälle ermitteln, in denen Menschen in Deutschland ihr Leben infolge rechter Gewalt verloren. Zwischen 2000 und 2010 zählt die Untersuchung alleine 31 Tötungsdelikte, ohne hierbei die Morde der Zwickauer Terrorzelle zu berücksichtigen.

Rechnet man diese Taten zu den Ergebnissen von ZEIT und Tagesspiegel hinzu, dann ergeben sich in den letzten zehn Jahren 41 Todesopfer rechtsmotivierter Gewalttaten, während die Bundesregierung fälschlicherweise von fünf Opfern ausgeht.

Der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke ist Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin und leitete von 2002 bis 2007 den Fachbereich Rechts- und Sozialwissenschaften an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. In dem ARD-Magazin FAKT merkte er am 15. November 2011 an, dass in Deutschland alleine in den 90er Jahren 100 Todesopfer rechtsextremer Gewalt zu beklagen waren: "Das ist in der Bilanz natürlich ein Vielfaches der Opferzahlen der RAF und auch sehr viel mehr als seitens der islamistisch bedingten Gewalt."

Martin Jander unterrichtet in den Berlin-Programmen der New York University und der Stanford University sowie an der Universität Köln. In einem Interview mit der Tagesschau vom 12.10.2011 sagte der Historiker und Politikwissenschaftler über terroristische Bestrebungen in Deutschland: „Zwischen links und rechts gibt es einen wesentlichen Unterschied: Seit dem 3. Oktober 1990 hat es rund 150 Todesopfer von rechtsradikal motivierten Straftaten gegeben. Sie wurden totgeprügelt, verbrannt, und anderes. Auf der linken Seite gibt es Auseinandersetzungen mit Polizisten, es gibt in Berlin diese Truppe, die Autos anzündet. Aber Todesopfer durch linke Gewalt gab es in den vergangenen 20 Jahren meines Wissens nach nicht.

Geht man davon aus, dass die staatliche Bekämpfung linker und islamistischer Gewalt in Deutschland richtig und angemessen ist, dann kommt man, alleine unter Berücksichtigung der konkreten Opferzahlen, nicht umhin, in Bezug auf die Bekämpfung der rechtsextremistischen Gewalt ein deutliches Defizit zu erkennen. Dieses Defizit als „Blindheit auf dem rechten Auge“ zu bezeichnen, ist also angemessen.

Vertrauliche Gesprächsrunde im Schloss Bellevue

Die Politik in Deutschland spielt die Gefahren des rechtsextremistischen Terrors seit Jahren konsequent herunter. In den offiziellen Statistiken wird nur ein Bruchteil der tatsächlichen Opfer rechter Gewalt erfasst, Zentral- und Verbunddateien des BKA enthalten lediglich eine kleine Zahl rechter Gewalttäter. Die Rolle des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute in der rechten Szene ist umstritten. Im Rahmen eines NPD-Verbotsverfahrens sieht sich das Bundesverfassungsgericht 2003 nicht in der Lage, zu beurteilen, welche Positionen und Statements tatsächlich von reinen Parteimitgliedern und welche von V-Leuten des Verfassungsschutzes stammen und stellt das Verfahren deshalb schließlich ein. Gleichzeitig beziehen NPD und andere rechte Organisationen einen Teil ihrer Finanzierung aus den Honoraren, die der Staat an die V-Leute zahlt.

Obwohl die tatsächliche Gefährdung durch rechtsextremistischen Terror mittlerweile für jeden offenkundig geworden ist, verweigern die Bundesregierung und ihre Vertreter den Angehörigen der Opfer ihre Anteilnahme und ihre Entschuldigung. Stattdessen instrumentalisieren sie die Morde und nutzen sie zu parteipolitischen Zwecken, zur persönlichen Profilierung oder als Argument für eine Ausdehnung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen des Staates.

Bundespräsident Wulff plant, sich hinter verschlossenen Türen mit den Angehörigen der Opfer zu treffen. Selbst jetzt will der Staat den Umgang mit Rechtsextremismus so leise und unauffällig gestalten, wie nur möglich.

Mitgefühl und Anteilnahme

Durch den unterschiedlichen Umgang mit den verschiedenen Formen des Terrors erweckt der Staat den Eindruck, als würde er den jeweiligen Opfern einen unterschiedlichen Wert beimessen.

Rechtsextremistische Anschläge zielen meist auf Menschen mit ausländischen Wurzeln, auf Juden, auf Linke oder auf Homosexuelle. Hält sich hier nicht nur die Empathie der Regierung oder ihrer Behörden sondern auch das Mitgefühl breiter Bevölkerungsschichten in Grenzen? Bei den potenziellen Zielen von Linksextremisten und islamistischem Terror handelt es sich dagegen um die Machtzentren des Staates, um Regierungsmitglieder und Funktionsträger oder doch zumindest um öffentliche Gebäude und die Fahrzeuge von Mittelstand und Oberschicht.

Wir alle müssen Sorge dafür tragen, dass sich Vergleichbares in der Zukunft nicht wiederholen kann. Hierzu gehört vor allem, die Opfer und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt zu stellen. Wir müssen uns selber und der Welt zeigen, dass wir Mitgefühl und Trauer empfinden, wenn in unserem Land Menschen von extremistischen Tätern ermordet werden.

Als ein rechtsradikaler Terrorist im Sommer diesen Jahres in Oslo 77 Menschen tötete, reagierte die norwegische Regierung mit Bestürzung, Trauer und Anteilnahme. Ihr Aufruf an die eigene Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft: Dem Rechtsextremismus mit noch mehr Demokratie und noch mehr Toleranz mutig zu begegnen.

Hieran sollte sich die deutsche Regierung ein Beispiel nehmen.
 

Jacob Jung
 

Der Autor betreibt den Jacob Jung Blog