Das Amt des Bundespräsidenten ist fest in protestantischer Hand. Mit Heinrich Lübke und Christian Wulff haben sich bisher nur zwei Katholiken ins Schloss Bellevue verirrt, während alle acht anderen deutschen Staatsoberhäupter Protestanten waren. Joachim Gauck war sogar Pfarrer und Johannes Rau so bibelfest, dass er den Spitznamen "Bruder Johannes" bekam. Frank-Walter Steinmeier fügt sich nicht nur nahtlos in diese Tradition ein, sondern lässt keine Gelegenheit aus, die Bedeutung des Christentums und anderer Religionen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu betonen. Atheisten kommen in seinem Weltbild nicht vor.
Jüngstes Beispiel: Am 12. März nahm Frank-Walter Steinmeier an einem interreligiösen Fastenbrechen teil. Ein symbolischer Akt, gewiss – doch einer, der eine größere Debatte aufwirft. In seiner Rede hob der Bundespräsident hervor, dass "durch die religiöse Strukturierung der Zeit das ganze Leben in eine andere, über die alltägliche Welt hinausreichende Dimension gestellt wird". Eine bemerkenswerte Aussage für einen Repräsentanten eines säkularen Staates. Während die Kirchen immer mehr Mitglieder verlieren und der Anteil konfessionsfreier Menschen in Deutschland stetig steigt, scheint für Frank-Walter Steinmeier eine Gesellschaft ohne Religion leer und bedeutungslos zu sein.
Apropos Ramadan: Die gesellschaftliche Aufwertung des Ramadan ist ein neues Phänomen: In Frankfurt, Köln und München erstrahlen im Fastenmonat beleuchtete Sterne, Laternen und Halbmonde. Und im französischen Lille wurde das Champions-League-Duell gegen Borussia Dortmund für drei Minuten unterbrochen, um muslimischen Spielern die Gelegenheit zur Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme zu geben. Ausdruck einer pluralistischen Gesellschaft oder schleichende Islamisierung? Angesichts der Sichtbarkeit religiöser Bräuche fragt man sich, warum die stetig wachsende säkulare Bevölkerung weitgehend ignoriert wird.
Steinmeiers Weltbild
Frank-Walter Steinmeier ist Mitglied der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde in Berlin. Das reformierte Christentum, das auf die Lehren Calvins zurückgeht, lehnt beispielsweise die Vorstellung des freien Willens ab. Stattdessen ordnet man sich der Idee der göttlichen Vorherbestimmung unter: Erwählung oder Verdammnis, der Mensch ist ein Spielball der göttlichen Macht. Der Bundespräsident ist in diesem strengen, fast fatalistischen Glaubenssystem fest verankert – ein Weltbild, das in der modernen Gesellschaft nur eine Randexistenz führt.
Atheismus scheint in Steinmeiers Lebenswelt nicht vorzukommen. Schlimmer noch: In einer Eröffnungsrede zum Ökumenischen Kirchentag rief er 2021 dazu auf, säkularen Bestrebungen Einhalt zu gebieten: "Ob die Pandemie nicht auch hier als Brandbeschleuniger wirkt, dem Prozess der Säkularisierung zusätzlichen Schub verleiht, die Kirchen aus der Mitte der Gesellschaft drängt." Das kam nicht überall gut an. "Wer im Zusammenhang mit der Säkularisierung von einem 'Brandbeschleuniger' spricht, gibt zu erkennen, dass er diesen 'Brand' löschen will. Ein 'Zurück zur Normalität' bedeutet für den Bundespräsidenten offenbar eine Wiederherstellung der christlichen Vormachtstellung in Politik und Gesellschaft", empörte sich Michael Schmidt-Salomon, der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung. Man kann sich nur wundern über einen Bundespräsidenten, der die Augen vor der Wirklichkeit verschließt und es als seine Aufgabe betrachtet, sich dem fortschreitenden Niedergang der Religionen mit breiter Brust entgegenzustellen.
"Die heutige deutsche Gesellschaft ist nicht areligiös, sondern pluri-religiös. Sie ist geprägt durch eine neue Vielfalt der Religionen und religiösen Ausdrucksformen", äußerte sich Steinmeier an anderer Stelle. Doch wo bleibt sein Bekenntnis zu den Millionen Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen, sich dennoch gesellschaftlich engagieren und das politische, kulturelle und soziale Leben in Deutschland aktiv mitgestalten? Pluralismus bedeutet nicht nur das friedliche Nebeneinander verschiedener Glaubensrichtungen, sondern auch die gleichwertige Berücksichtigung säkularer und humanistischer Weltbilder. Leider blendet das deutsche Staatsoberhaupt diese Perspektive konsequent aus und brüskiert immer wieder konfessionsfreie Menschen in Deutschland.
Der Atheismus gehört zu Deutschland
Wie bereits sein Amtsvorgänger Wulff, so betonte auch Steinmeier letzte Woche in einer Moschee in Berlin-Wilmersdorf, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Während er regelmäßig religiöse Traditionen und Bräuche lobend hervorhebt, war aus Schloss Bellevue in den letzten Jahren leider keine einzige wertschätzende Bemerkung über konfessionsfreie Menschen zu hören, obwohl sie fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Frank-Walter Steinmeier sollte sich endlich bewusst werden, dass es die Würde seines hohen Amtes erfordert, dass der Bundespräsident die gesamte deutsche Bevölkerung repräsentiert und nicht nur die christliche, muslimische und jüdische Minderheit!
In seiner Amtszeit als Bundespräsident bemüht sich Steinmeier unentwegt, die religiöse Deutungshoheit über das gesellschaftliche Leben zurückzugewinnen. Ist das bloße Ignoranz oder eine unverhohlene Form der Missionierung? Ein Blick auf die Statistik könnte hilfreich sein: Ein Großteil der deutschen Bevölkerung tritt aus den Kirchen aus, nicht ein. Soziokulturelle Vielfalt geht weit über religiöse Empfindungen hinaus – daher wäre es wünschenswert, wenn künftige Amtsinhaber diese Realität nicht nur anerkennen, sondern öffentlich würdigen würden.
Oder, in Anspielung auf eine Wahlanzeige von 1998 ("Der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein"): "Der nächste Bundespräsident muss ein Atheist sein." Besser noch: eine atheistische Bundespräsidentin – 2027 wäre es an der Zeit, erstmals eine Frau in das höchste deutsche Staatsamt zu wählen!

12 Kommentare
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Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Klasse Artikel, mit einem derartigen Bundespräsidenten müssen wir uns noch abfinden,
es ist an der Zeit die Realität, welcher dieser noch ignoriert, umzusetzen und sich an die
kann ich nur zustimmen, da Frauen m.E. viel realistischer Denken können als alte Männer.
Stefan Räbiger am Permanenter Link
Dieser jetzige Bundespräsident scheint bei Religion und ihren Folgen, auch wenn dies einen permanenten Bruch der Menschenrechte bedeutet, kein Problem zu haben.
A.S. am Permanenter Link
Die Kirche ist bestens vernetzt in der Politik. Es ist auffällig, wie religiöse PolitikerInnen darum kämpfen, die Macht der Kirchen zu erhalten.
Dabei lehrt die historische Erahrung:
Gib einem Menschen (bzw. einer menschlichen Organisation) Macht und er wird sie missbrauchen.
Zu ergänzen wäre, religionsunabhängig formuliert:
Gib einem religiösen Führer (bzw. einer religiösen Organisation) Macht und er wird sie missbrauchen.
Ein anderer Gedanke: Immaterielle Bestechung
Müssen wir gläubige PolitikerInnen als "bestochen" ansehen, als bestochen in spe mit der Verheißung auf das ewige Leben im Paradies?
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Dieses Relikt aus der Kaiserzeit- die Bundespräsidentschaft- ist meines Wissens gar nicht zwingend notwendig, aber dafür teuer.
Lachmann am Permanenter Link
Die 10 Gebote in Stein gemeißelt oder das Grundgesetz auf Papier?
Was ist die Basis unserer demokratischen Gesellschaft?
Reicht Religion, zumindest in Teilen, in den Phänomenbereich der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ ?
Oder mit der Überschrift eines hpd-Artikels: Wie viel Religion verträgt die aufgeklärte Gesellschaft?
LeonhardLe Hinkel am Permanenter Link
Der Christ Steinmeier hat ganz offensichtlich die unrühmliche Rolle, die er im Fall Murat Kurnaz gespielt hat, gänzlich vergessen zu haben.
ist nicht einmal meine Verachtung wert.
Beckert am Permanenter Link
Der Bundespräsident hat die philosopfische arbeit von allionso nicht gelesen, im grin -Verlag erschienen, dann würde er vielleicht vernünftiger argumentieren.
Thomas Spickmann am Permanenter Link
Schmidt-Salomon war nicht empört. Er ist grundsätzlich gegen sogenannten Empörialismus, wie seiner Literatur zu entnehmen ist, sondern er hat entschieden kritisiert. Ansonsten ist dieser HPD-Artikel sehr gut.
Helene am Permanenter Link
Besonders verlogen daran ist dass seine eigene Tochter auf einer migrantenfreien evangelischen Schule im Berliner Südwesten war- warum eigentlich wenn er doch so pluralistisch und tolerant ist?
Assia Harwazinski am Permanenter Link
Auch Konfessionsfreie haben ihre Bräuche, Feste und Riten, selbst religiöse (in anderer, abgeschwächter oder umgewandelter Form).
Der Zwang besteht darin, dass Manche glauben, es sei der Gipfel der Integrationsleistung, regelmäßig und ständig an Festen und Ritualen anderer Glaubensgemeinschaften teilzunehmen, was bei konfessionell-religiös gemischten Familien normal und verständlich ist. Die Integration geschieht im Alltag in ganz anderen Bereichen: Kindergärten, Schulen, Arbeitsstellen, Sportbereich usw. Manchmal will man unter sich bleiben - das ist legitim und auch verständlich. Man muss auch Distanz wahren können.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Immer wieder bestürzend wie dummdreist diese „christlichen Wurzeln“ beschworen werden. Steinmeier als Protestant sollte sich doch darüber im Klaren sein, dass es ein gemeinsames „christliches Erbe“ gar nicht gibt.
Kardinalstaatssekretär Parolin behauptet, dass Werte wie Menschenwürde und Solidarität „gerade auf diesem christlichen Erbe gründen“. Die Menschenwürde, die auf dem christlichen Erbe gründet, ist die sogenannte „ontologische Würde“, die für die Lebenswirklichkeit vollkommen irrelevant ist. Die Solidarität, die auf dem christlichen Erbe gründet, ist bis vor kurzem die Solidarität innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft. Erst in letzter Zeit entdecken sie die Bedrohung der gemeinsamen finanziellen Interessen und das gemeinsame Interesse in der Abwehr der Säkularisierungstendenzen.
Wenn es ein christliches Erbe gibt, dann sind das Bigotterie und Heuchelei, dann ist es die unsägliche verklemmte Einstellung zur Sexualität. Die dazu geführt hat, dass sie „umtuschelt und umzotet“ (Deschner) wird, oder, wie die Missbrauchsuntersuchungen in den Kirchen gezeigt haben, in klerikalen Kreisen gar nicht oder nur genant verschlüsselt angesprochen wird.
Der katholische Theologe Gregor Maria Hoff spricht davon, dass es im christlichen Glauben vor allem „um die Glaubwürdigkeit des Evangeliums ging und geht“. Dieses Evangelium, die Bibel (AT und NT), ist der Boden in dem diese „christlichen Wurzeln“ wuchern. Tatsache ist, dass man Menschen, die diese Bibel, ein Sammelsurium von Horrorgeschichten, als HEILIGE SCHRIFT propagieren und verteidigen, mit äußerstem Misstrauen begegnen sollte. Allein die Sintflut als barmherzige Tat eines allgütigen Gottes schönzureden, ist doch grenzenloser Zynismus. In kitschigster romantizistischer Manier wird da von dem Regenbogen über dem Berg Ararat geschwärmt. Wie kann man verdrängen, dass der über den aufgeschwemmten Wasserleichen von Millionen Menschen und Tieren erscheint ? Und unter den Opfern sind auch die sonst viel beschworenen „Kleinsten“, Klein- und Kleinstkinder, von denen selbstverständlich behauptet wird, sie seien „schlecht“ gewesen, weil ja nur Noah „an Gott glaubte“. Das als „Narrativ“ zu deklarieren macht die Sache nicht besser und wird den KITA-Kindern auch nicht so vermittelt, ist ihnen in diesem Alter auch nur als Tatsache zu vermitteln. Überhaupt ist es wert, darauf hinzuweisen, dass bei all den grauenhaften Strafaktionen des LIEBEN GOTTES, Kinder nie verschont werden und keiner Erwähnung wert sind.
Zwar rühmen sich die Kirchen, allerlei Maßnahmen gegen Missbrauch zu ergreifen, der systemisch bedingte geistliche Missbrauch, der in der religiösen Indoktrination, sogar von Kleinstkindern, liegt, wird in keiner Weise in Frage gestellt. Dabei hat schon Schopenhauer diese Form des Missbrauchs geschildert:
„Die Religionen wenden sich ja eigenständlich nicht an die Überzeugung, mit Gründen, sondern an den Glauben, mit Offenbarungen. Zu diesem letzteren ist nun aber die Fähigkeit am stärksten in der Kindheit: daher ist man, vor Allem, darauf bedacht, sich dieses zarten Alters zu bemächtigen. Hierdurch, viel mehr noch als durch Drohungen und Berichte von Wundern, schlagen die Glaubenslehren Wurzeln. Wenn nämlich dem Menschen, in früher Kindheit, gewisse Grundansichten und Lehren mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Meine des höchsten, bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes wiederholt vorgetragen werden, dabei die Möglichkeit eines Zweifels daran ganz übergangen, oder aber nur berührt wird, um darauf als ersten Schritt zum ewigen Verderben hinzudeuten; da wird der Eindruck so tief ausfallen, daß, in der Regel, d. h. in fast allen Fällen, der Mensch fast so unfähig seyn wird, an jenen Lehren, wie an seiner eigenen Existenz, zu zweifeln; weshalb dann unter vielen Tausenden kaum Einer die Festigkeit des Geistes besitzen wird, sich ernstlich und aufrichtig zu fragen: ist Das wahr?“ (Artur Schopenhauer, „Über Religion/Ein Dialog“)
zitiert nach Henkel, Peter. Irrtum Unser! oder Wie Glaube verstockt macht (S.39-40). Tectum Wissenschaftsverlag. Kindle-Version.
Liefert diese Analyse Schopenhauers nicht eine korrekte Begründung für die Verstocktheit eines Steinmeier und anderer deutscher Politiker ?
Allerdings kommt meiner Meinung nach noch schlichte Erpressung durch die Kirchen hinzu. Mit ihrem Geld und vor allem mit ihrem Grundbesitz. Wieviele KITAs sind katholisch, weil für ihren Bau ein Grundstück benötigt wurde, das dem Bischof gehört ?
https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2025-03/vatikan-parolin-ruft-zu-entwaffnung-der-worte-auf.html
„Eine Gesellschaft ohne Christen läuft Gefahr, sich zu radikalisieren.“
https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2019-05/papst-franziskus-rumaenien-kardinalstaatssekretaer-interview.html
„Der Papst wird natürlich an die Grundwerte dieses Europas, an seine christlichen Wurzeln, erinnern. Wir dürfen nicht vergessen, dass Werte wie Menschenwürde und Solidarität gerade auf diesem christlichen Erbe gründen, ...“
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Klasse Kommentar, das ist Kirche wie Sie leibt und lebt, besser kann man sie nicht beschreiben!
Genau so funktioniert Indoktrination und verbiegt die Köpfe von Kindern schon im Anfangsstadium.