Wenn Atheisten beten

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Alan Posener / Foto: starke-meinungen.de

BERLIN. (hpd) Atheist werden ist nicht leicht. Eigentlich liegt es eher nahe, irgendwie religiös zu sein. Obwohl meine Eltern beide nicht besonders gläubig waren (mein Vater ein jüdischer Agnostiker mit Sympathien für das Christentum, meine Mutter eine anglikanische Agnostikerin mit einer Schwäche für Astrologie), war ich als Kind ein frommer Christ.

Allerdings rang ich als Neunjähriger mit folgendem Problem: Wenn ich der Sohn Gottes wäre, und ich wüsste, dass mein vorübergehender Tod die Welt erlösen würde – na, dann würde ich mich doch opfern. Ein viel größeres Opfer, schien es mir, hatten unsere tapferen britischen Soldaten gebracht, die fürs Vaterland oder für ihre Kameraden ihr Leben hingegeben hatten, ohne Gewissheit des ewigen Lebens und ohne Gewissheit, dass ihr Opfer etwas nutzen würde.

Da las ich den Bericht des Markus vom Gebet Jesu in Gethsemane: „Da ergriff ihn Furcht und Angst, und … er warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe. Er sprach: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir!“ Mir wurde einerseits klar, dass ich es mir etwas einfach gemacht hatte. Auch ein Gott graust sich vor dem Tod. Und andererseits, dass Gott, wenn er schon die Gebete seines Sohns nicht erhört, sicher die Gebete seiner anderen Kinder nicht hört, schon gar nicht erhört. Es sei denn, man betet wie Jesus einschränkend: „Doch nicht was ich will, sondern was du willst, soll geschehen.“

Nebbich. Das geschieht ja sowieso. Dafür braucht man nicht zu beten.

Dass Gebete nicht erhört werden, wurde übrigens inzwischen wissenschaftlich – das heißt aufgrund eines wiederholbaren Versuchs – nachgewiesen. Dr. Herbert Benson vom Mind/Body Medical Institute bei Boston ließ vor einigen Jahren 1802 Patienten, die sich einer Bypass-Operation unterzogen hatten, in drei Gruppen einteilen. Für die erste Gruppe wurde gebetet, ohne dass die Patienten davon wussten, für die zweite – die Kontrollgruppe – wurde nicht gebetet, und für die dritte wurde gebetet, und die Patienten wurden davon informiert. Das Beten übernahmen drei – ich nehme an protestantische – Kirchengemeinden in verschiedenen US-Bundesstaaten. Alle nahmen in ihr Gebet die Bitte „für eine gelungene Operation mit schneller Genesung und ohne Komplikationen“ auf. Es wird wohl niemanden überraschen zu erfahren, dass es zwischen der ersten und der zweiten Gruppe nicht den geringsten Unterschied gab. In der dritten Gruppe aber – unter den Patienten, die wussten, dass man für sie betete – war die Zahl der postoperativen Komplikationen signifikant höher. Das gibt mir zu denken, denn auf Webseiten wie „kath.net“ schreiben die Kommentatoren oft, mit zusammengebissenen Zähnen, sie würden für mich beten. Bitte nicht! Ich habe den Beipackzettel gelesen!

Dass Beten nicht hilft, wusste allerdings schon Hiob. Und der Doppelblindversuch ist seitdem tausendmal wiederholt worden, auch in den Gaskammern von Auschwitz. Mich wundert daher, dass sich die Kirchengemeinden auf den Versuch einließen. Denn angesichts der Erfahrungstatsache, dass Gebete nicht erhört werden, hat die christliche Bibel eine Falsifizierungssperre eingebaut: „Du sollst Gott nicht auf die Probe stellen“, sagt Jesus dem Satan in der Wüste. Der hatte ihm ja gesagt, er könne Gott um alles Mögliche bitten, er werde seinem Sohn doch nichts abschlagen. Dr. Benson hat Gott auf die – wissenschaftliche – Probe gestellt.

Beten hilft nichts. Und doch beten die Menschen. Menschen haben Wünsche und Ängste, und die Vorstellung, dass es keine übergeordnete Instanz gibt, an die man seine Wünsche richten und bei der man seine Ängste ablegen könnte, ist für ein Lebewesen, dessen erste Lebenslektion die totale Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen ist, im Wortsinn widernatürlich. Wenn ich eine Kirche besuche, blättere ich immer in den dort ausliegenden Kladden, in die man seine Gebete und Wünsche eintragen kann. Mich rühren da nicht die religiös korrekten und gänzlich uneigennützigen Wünsche für den Weltfrieden oder dergleichen, die man dort immer findet, sondern die Herzensschreie. In der Kirche des Augustinerklosters in Erfurt (wo Luther Mönch war, und die Papst Benedikt XVI. neulich besuchte) hatte ein Junge mit Krakelschrift geschrieben: „Bitte mach, das mir meine Eltern ein Hund schenken.“ Das rührte mich fast zu Tränen. Und dass irgendein Dauerstudienrat mit grüner Tinte die beiden grammatikalischen Fehler verbessert hatte, als ob Gott das sonst nicht lesen könnte, macht mich noch heute zornig. Es könnte mir egal sein, ist es aber nicht. Und ich frage mich, ob der Junge jetzt seinen Hund hat.

Mir ist in fast sechzig Jahren Leben nicht viel Schlimmes zugestoßen. Sicher, beide Eltern sind tot, aber Eltern sterben nun einmal. Sicher, es gab Liebesleid und Enttäuschungen und einige Dinge, die ich bereue. „But then again, too few to mention“, wie Frank Sinatra sang. Deshalb hatte ich wenig Anlass, um und für mich zu beten. Aber – um bei Haustieren zu bleiben – als meine geliebte schwarze Katze Shira eines Tages verschwand, ertappte ich mich beim Verhandeln. Ich schrieb damals in meinem Blog: „Eigentlich war der Juni ein schöner Monat. Wir haben uns zum Geburtstag meiner Frau neue Fahrräder geleistet, mein erstes seit zwanzig Jahren. Außerdem habe ich ihr eine wunderbare Stahl-Stele des Bildhauers Achim Pahle geschenkt, die wir im Garten aufstellen wollen. Ich habe die Arbeit an meinem Europa-Buch beendet, das jetzt in Druck gehen kann. Und doch: die Stele und die Räder würde ich zurückgeben, das Buch ungeschrieben machen, wenn ich dafür nur einmal morgens beim Zähneputzen am Badezimmerfenster das Klopfen hören könnte, das mir signalisiert, Shira ist da und will jetzt – sofort, nicht später – hereingelassen werden und ihren Fressnapf gefüllt bekommen. Auf dem Weg die Treppe herunter in die Küche wird sie mir wortreich von ihren nächtlichen Erlebnissen erzählen, sich aber dann dem wirklich Wichtigen zuwenden und mich keines weiteren Blickes würdigen. Vollkommenes Glück.“

Das ist die atavistische, dem Menschen wohl angeborene Haltung, man könne durch irgendein Opfer das Unabwendbare abwenden. Da ist der aufgeklärte Atheist plötzlich dabei, wie der abergläubischste Heide zu sagen: „Nimm das, und lass mir dies.“ Wem sagt er das?

Und dann gibt es den perfekten Tag. Im Skiurlaub, blauer Himmel, Neuschnee, man kann immer noch die Piste mit der Tochter herunterrasen wie früher; oder zuhause, beim Anblick der Frau, die Tee kocht, das plötzlichen Bewusstsein, wie gut, wie völlig unverdient gut man es hat. Das Leben könnte morgen vorbei sein, und es wäre gut gewesen. Spontan möchte man dafür danken. Wem?

Es ist also nicht so, dass ich die Leerstelle nicht spüren würde. Ich lerne, damit zu leben. Was ja nicht heißt, das Gefühl verdrängen, im Gegenteil. Der Gejagte, der darum bittet, nicht sterben zu müssen; der Junge, der einen Hund haben will; der erwachsene Mann, der dem Schicksal ein Gegenangebot für seine Katze macht oder plötzlich von Dankbarkeit überwältigt wird – sie scheinen mir alle etwas darüber auszusagen, was es heißt, Mensch zu sein.

Alan Posener

 

Erstveröffentlichung:  Starke Meinungen – mit freundlicher Genehmigung des Autors.