Interview mit Thomas von der Osten-Sacken

"Politischer Islam und Verfassung widersprechen sich"

thomas_von_der_osten-sacken_-_p1030208_-_1.jpg

Thomas von der Osten-Sacken
Thomas von der Osten-Sacken

Im Januar besuchte Thomas von der Osten-Sacken Syrien, ließ sich durch Foltergefängnisse führen und sprach mit den Menschen des Landes. Osten-Sacken, der die im Nordirak aktive Hilfsorganisation Wadi leitet, arbeitet seit Jahrzehnten in der arabischen Welt. Die weitere Entwicklung in Syrien ist seiner Ansicht nach offen. Viele würden sich eine bürgerliche Republik und keinen Gottesstaat wünschen.

hpd: Nachdem das Ende des Assad-Regimes im Dezember von vielen Menschen gefeiert wurde, gab es in den vergangenen Wochen Massaker an Angehörigen von Minderheiten. Entwickelt sich Syrien unter dem Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa zu einer islamistischen Diktatur?

Thomas von der Osten-Sacken: Ich halte den Minderheiten-Diskurs vor dem Hintergrund, dass es in Syrien sehr verschiedene Bevölkerungsgruppen gibt, für sehr problematisch. Die Kurden sind in ihrer Mehrheit sunnitische Muslime und unterscheiden sich durch ihre ethnische Zugehörigkeit von den meisten anderen Syrern, die wiederum sich mehrheitlich als Araber sehen. Ihnen geht es vor allem um die nationale Anerkennung des kurdischen Volkes. Für sie geht es deshalb auch, wenn sie als kurdische Parteien oder Organisationen auftreten, um Dezentralisierung des Staates, Selbstverwaltung und Föderalismus, wie es ihn im Irak gibt, in dem die Kurden in ihren Regionen autonom, aber auch Staatsbürger des Irak sind.

Die Drusen sprechen Arabisch und sind eine Religionsgemeinschaft. Die Christen mit ihren vielen unterschiedlichen Konfessionen sind entweder Araber oder wurden in den vergangenen Jahrzehnten arabisiert. Die Alawiten, zu denen auch die Familie Assad gehört, gelten als islamisch, werden allerdings der Schia, der im Iran vorherrschenden islamischen Strömung, zugeordnet, sind aber de facto eine eigene religiöse Gruppe. Die sunnitischen Araber stellen die Mehrheit der Bevölkerung, sind aber nicht in allen Regionen in der Mehrheit.

Nun ist es aber so, dass 80 Prozent der im Bürgerkrieg Vertriebenen sunnitische Araber waren. Vor allem sie wurden mit Fassbomben beworfen und mit Chemiewaffen attackiert. Die Alawiten waren während der Assad-Diktatur dagegen überrepräsentiert im Geheimdienst, dem Militär, der Polizei und dem Gefängnispersonal. Deshalb sind nach den blutigen Jahren des Bürgerkriegs viele Rechnungen offen. Deshalb spielt Rache als Motivation für die Massaker in der Küstenregion sicher eine Rolle, weil sich nach dem Sturz von Assad dorthin sehr viele Täter des Regimes zurückgezogen haben, sich dort verstecken konnten und auch untergekommen sind. Es gab auch vereinzelt Morde an Christen, aber die waren wohl nicht systematisch. Christen waren aber auch keine Folterknechte, und es gab keine christlichen Milizen, die ganze Ortschschaften zerstört haben. Wenn jetzt die vermeintliche Mehrheit an der Macht ist, bedeutet das auch, dass viele auf vergangenes Unrecht so – leider mit neuem Unrecht – reagieren. Dazu kommt, dass für sunnitische Islamisten Alawiten als Abtrünnige gelten, die man zu bekämpfen hat. Das wiederum zieht sich traumatisch durch die alawitische Geschichte der letzten Jahrhunderte, denn es hat immer wieder Massaker an dieser Gruppe gegeben.

Wo siehst du das Problem bei einem Minderheiten-Diskurs?

Es gibt sehr viele verschiedene Gruppen, sehr unterschiedliche Bruchlinien. Die neue syrische Verfassung nennt Syrien eine arabische Republik. Die Kurden wären nach dieser Logik eine Minderheit, aber sie bestehen zu Recht darauf, dass sie keine Minderheit, sondern in Kurdistan das Staatsvolk sind – und sie wollen eine Verfassung und eine politische Realität, in der ihre nationale Existenz anerkannt wird. Wenn jetzt die europäische Politik Ahmed al-Scharaa dazu aufruft, die Rechte der Minderheiten zu achten, begeht sie einen grundsätzlichen Fehler. Sie macht einen Unterschied zwischen dem Staatsvolk und religiösen und ethnischen Gruppen, die in der Minderheit sind. Aber es sollte nicht in erster Linie um Minderheitenschutz gehen, sondern um in der Verfassung geschützte Rechte des einzelnen Bürgers – unabhängig von Gruppenzugehörigkeit und Identität.

So etwas bildet die neue Verfassung nicht ab?

Die Verfassung ist stark islamistisch und arabisch geprägt, auch wenn es eine Vereinbarung mit den Kurden gibt, denen ein gewisses Maß an Autonomie zugestanden wird. Nein. Diese Verfassung ist ein Witz, sie wurde von sieben Leuten in fünf Wochen zusammengeschrieben. Sie ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Zum Vergleich: Im Irak arbeiteten viele an einem Verfassungsentwurf mit, es wurde lange diskutiert und am Ende wurde die Verfassung in einer Volksabstimmung angenommen.

Ahmed al-Scharaa und seine Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS), die ja früher zu Al-Qaida gehörten und sich Al-Nusra-Front nannten, sind Islamisten. Politischer Islam und Verfassung widersprechen sich. Im Politischen Islam ist die Scharia die Verfassung. So ist es im Kern auch in den Golfstaaten und in Saudi-Arabien. Die Muslimbrüder, die ja auch Islamisten sind, arrangieren sich – wie die AKP in der Türkei – mit der Demokratie, haben aber auch das Ziel, letztendlich eine islamische Gesellschaft zu errichten. In der Scharia gibt es einen Herrscher – der kann auch liberaler werden, wie wir es in den Golfstaaten sehen, und tolerant zu Minderheiten sein –, aber Gott und nicht das Volk ist der Souverän. Der Ansprechpartner des Staates ist auch nicht der Bürger, sondern zum Beispiel nach dem saudischen Basic Law der Familienvater. Und Gott hat über die Scharia den Menschen Gesetze gegeben – es sind göttliche Gesetze. Sterbliche Menschen können sie nicht infrage stellen.

"Diese Verfassung ist ein Witz"
Thomas von der Osten-Sacken

Aber in einer Demokratie sind die Bürger der Souverän, sie wählen und sind vor dem Gesetz alle gleich. Das klingt für Europäer banal, ist aber im Nahen Osten die zentrale Frontlinie. Die wichtigste Forderung der syrischen Zivilgesellschaft, aber auch während des Arabischen Frühlings, war "One law for all" – ein Gesetz für alle, alle müssen vor dem Gesetz gleich sein. Dem kommt die syrische Verfassung nicht entgegen. Sie geht auch wieder von einer Ungleichheit durch Geburt aus. Es geht aber darum, dass es auch in Syrien und der arabischen Welt Citizenship gibt – Bürger, die vor dem Gesetz gleich sind und Rechte haben, die der Staat zu achten hat.

Die syrische Verfassung ist widersprüchlich: Sie garantiert Meinungsfreiheit, aber bezeichnet den Staat und nicht den Bürger als Souverän. Nach der syrischen Verfassung gewährt der Staat Rechte – Bürger haben sie nicht qua Geburt. Ich habe mich sehr gefreut, als ich vor wenigen Tagen mitbekam, dass ein Komitee in Syrien Bürgerrechte mit der Parole "Religion für Gott, das Land für alle" eingefordert hat.

Syrien ist also dabei, ein weiterer islamistischer Staat zu werden.

Das ist sicher das Ziel von Ahmed al-Scharaa und der HTS, aber ob das auch so kommt, ist keineswegs klar. Viele Syrer fordern Bürgerrechte und eine demokratische Republik. Mit ihnen muss sich al-Scharaa auseinandersetzen. Und er muss die Frage beantworten, was islamistische Herrschaft im Augenblick in Syrien bedeutet. Gruppen wie die HTS oder der Islamische Staat waren früher für alle Demokraten Feinde. Man konnte nur mit Militär auf sie reagieren. Die US-Armee hat den IS in Syrien geschlagen. Aber die HTS ist im Moment kein Feind, sondern für viele ein politischer Gegner. Die HTS muss sich mit den Syrern auseinandersetzen – und die sich mit der HTS. Und auch al-Scharaa dürfte bewusst sein, dass alle Versuche, den Politischen Islam mit radikalen Maßnahmen durchzusetzen, eher gescheitert sind: zwei Drittel aller Iranerinnen und Iraner zum Beispiel würden lieber heute als morgen die Islamische Republik loswerden. Es ist noch offen, wie er und die anderen Islamisten sich in Zukunft orientieren werden. Aber er muss Gespräche führen, denn die Massaker haben auch gezeigt, dass er seine Macht noch nicht gesichert hat. Wie das ausgehen wird, ob er eine Antwort findet – das ist vollkommen offen. Klar ist: Viele Menschen in Syrien wollen einen demokratisch-republikanischen Nationalstaat und werden dafür auch kämpfen.

Dieser Forderung läuft der Minderheiten-Diskurs entgegen, den europäische Politiker gerade mit Ahmed al-Scharaa führen. Mit Minderheiten können Islamisten eigentlich sogar ganz gut umgehen, wenn sie als "Religion des Buches" gelten. Bürgerrechte und das Volk als Souverän sind mit der Scharia nicht vereinbar. Syrien wird von der Unterstützung Europas noch lange abhängig sein. Es sollte Bürgerrechte und nicht Minderheitenrechte fordern, denn die sind die Grundlage einer bürgerlichen Republik. Sieht man die Menschen nicht als Individuen, sondern nur als Teil religiöser oder ethnischer Gruppen, zerfällt eine Gesellschaft. Solche Debatten kennen wir ja auch im Westen. Rechte und linke Identitätspolitik zielt ja darauf ab, die Menschen in Gruppen einzuteilen und denen Rechte zuzusprechen – nicht den Individuen.

Aber wie viele Syrer wollen eine bürgerliche Republik? Spielen religiöse und ethnische Identitäten nicht ebenso eine große Rolle wie die Zugehörigkeit zu Großfamilien und regionalen Wurzeln?

Ja, das gibt es alles, und es spielt auch eine Rolle. Aber der Wunsch nach Bürgerrechten ist eine Grundtendenz, die schon den Arabischen Frühling prägte. Es geht auch jetzt um das Konzept des Citizenship. Europäer könnten jetzt wichtige Gesprächspartner auf Augenhöhe sein, verschiedene Verfassungsmodelle vorstellen und die Syrer so dabei unterstützen, ihren eigenen Weg zu finden. Wir müssen genauer hinschauen, wie Citizenship – also Staatsbürgerschaft – in multireligiösen und multinationalen föderalen Systemen funktionieren kann. Dabei lohnt sich etwa der Blick nach Belgien mit seiner besonderen föderalen Struktur aus Flamen, Wallonen und der Region Brüssel. Auch Kanada bietet ein interessantes Modell – insbesondere, wie dort die Spannungen zwischen französisch- und englischsprachigen Bevölkerungsgruppen gelöst wurden. Und schließlich Deutschland, dessen föderale Struktur ja bewusst als Gegenentwurf zur präsidial geprägten Weimarer Republik und zur Diktatur entstanden ist – was sich unter anderem in einer dezentralisierten Polizei ausdrückt. Spannend bleibt letztlich die Frage: Welche dieser Modelle lassen sich auf die komplexen Realitäten im Nahen Osten übertragen – und dort möglicherweise synthetisieren?

Das Interview führte Stefan Laurin für den hpd.

Unterstützen Sie uns bei Steady!