BERLIN. (hpd) Bundespräsident Gauck würdigte bei seinem Israelbesuch die Opfer nationalsozialistischen Terrors in einer Weise, die dem, was damals geschah, der Form nach gewiss angemessen war. Aber ist er dabei ganz ehrlich gewesen, unterschlug er nicht einen wesentlichen Teil der Wahrheit? Gerade er, der zugleich Repräsentant einer Religion ist, die von ihrem Beginn an Antijudaismus bzw. Antisemitismus praktizierte, hätte mehr zu erklären.
Ein Kommentar von Uwe Lehnert.
Ein besonderes Kapitel, gerade für uns Deutsche, stellt in der Tat die blutige Verfolgung der Juden dar. Die Opfer in den zwei Jahrtausenden von Beginn des Christentums addieren sich zu einer zweistelligen Millionenzahl. Sie wurden erschlagen, ertränkt, verbrannt, erschossen, vergast oder sonst wie zu Tode gebracht, fast immer aus christlich-religiösen Motiven; die Nationalsozialisten gaben rassische Gründe an. Besonders über die Massenvernichtung unter Hitler ist in tausenden Büchern und zehntausenden Aufsätzen ausführlich und kompetent berichtet und über Ursachen nachgedacht worden. Es erscheint daher entbehrlich, dass man sich nochmals dazu äußert. Aber ich möchte einen wesentlichen Aspekt beleuchten, der so in Schule und politischer Aufklärung nie zur Sprache kam und bis heute in der öffentlichen Diskussion tabuisiert wird.
In den wenigen Geschichtsstunden in meiner Schulzeit zu diesem Thema, hauptsächlich jedoch bei der Zeitungslektüre über Prozesse gegen KZ-Kommandanten, fragte ich mich immer wieder, wie es möglich war, in der relativen Kürze der nationalsozialistischen Herrschaft ein solches Vernichtungsprogramm umzusetzen. Es muss – so meine damals unterschwellige Vermutung – schon eine breite antisemitische, mindestens jedoch gleichgültige Haltung in der Bevölkerung vorhanden gewesen sein. Denn ohne diese wäre die rassisch-ideologische Begründung dieser Vernichtungsmaßnahmen nicht von so vielen Mithelfern und Mitwissern so einfach hingenommen worden.
Der Hinweis auf die – tatsächlich ja begründete – Angst der Menschen vor eigener Verfolgung, wenn Widerspruch offen geäußert oder gar Widerstand geleistet worden wäre, erklärt dieses Phänomen in keiner Weise. Selbst hohe Kirchenvertreter, denen Amt und gesellschaftliche Stellung genügend Schutz vor unmittelbarer Bedrohung geboten hätten, verurteilten diese Verfolgungen nicht, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen. Ich kann mir das nur mit einer latent schon vorhandenen, und zwar europaweit verbreiteten, antijüdischen Grundhaltung weiter Bevölkerungskreise und -schichten erklären. Und blickt man zurück in die Geschichte, dann stellt man schnell fest, dass es tatsächlich schon seit Jahrhunderten furchtbare Pogrome und Vernichtungsaktionen gegen die Juden gegeben hat. Der Antisemitismus ist also keine Erfindung der Nationalsozialisten, wie uns durch Schule und Nachkriegsaufklärung suggeriert werden sollte, sondern hat viel tiefer und viel weiter zurück liegende Ursachen. Die Wurzeln dieses Antisemitismus gründen – und diese Erkenntnis war auch für mich zunächst unglaublich – praktisch ausschließlich in der christlichen Lehre und der sich auf sie berufenden Kirche!
Diese für viele gutgläubige Christen sicherlich schwer zu ertragende Behauptung wird inzwischen von vielen Religionswissenschaftlern, ja selbst von evangelischen Theologen, zum Beispiel von GERD LÜDEMANN, und katholischen, zum Beispiel UTA RANKE-HEINEMANN, ausführlich begründet und vertreten. RANKE-HEINEMANN formuliert: »Die 2000-jährige Geschichte des Christentums ist eine Geschichte 2000-jähriger Judenverfolgung.« Der aus der Kirche ausgetretene Theologe JOACHIM KAHL führt in seinem Bestseller »Das Elend des Christentums« unter anderem aus:
»[Die Evangelien bemühen sich,] die Schuld am Tode Jesu von den römischen Behörden (Pilatus) ganz auf die Juden abzuwälzen. Schon bei Markus, dem ältesten Evangelium, sträubt Pilatus sich, Jesus zu verurteilen (15, 10: ›Denn er erkannte, daß ihn die Hohenpriester aus Neid überliefert hatten‹). Noch eindringlicher läßt Lukas den Pilatus die Unschuld Jesu beteuern (23, 4: ›Pilatus aber sagte zu den Hohenpriestern und der Volksmenge: Ich finde keine Schuld an diesem Menschen‹, vgl. 23, Verse 14, 20, 22, 25). Matthäus vollends fügte die bekannte Szene ein, wo Pilatus sich die Hände wäscht und beteuert: ›Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten; sehet ihr zu‹ (27, 24). Dann folgt jener berüchtigte Vers, der sich in den folgenden Jahrhunderten schauerlich erfüllen sollte: ›Und alles Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‹ Diese Selbstverfluchung, die Matthäus infam erfand – wie die historisch-kritische Forschung längst nachgewiesen hat –, halst dem jüdischen Volk als Ganzem die Schuld am Tode des Gottessohnes auf.« (1)
Was wäre aus der christlichen Lehre geworden, wenn den Juden nicht diese Rolle zugedacht worden wäre, wenn Judas Jesus nicht verraten hätte? Wäre Jesus verhaftet und gekreuzigt worden, wäre er wie beschrieben auferstanden? Wäre Jesus dann für uns zu jenem göttlichen Erlöser erklärt worden? So wie geschehen, lief es ja eigentlich entsprechend Gottes Willen ab: Verrat, Verurteilung, Hinrichtung. KAHL fährt auf derselben Seite fort:
»Der antisemitisch zugespitzte Vorwurf des Christusmordes findet sich auch bei Paulus, der im ersten Thessalonicherbrief schreibt: ›Sie haben den Herrn Jesus und die Propheten getötet und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind gegen alle Menschen feindselig. Sie hindern uns, den Heiden zu ihrem Heil zu predigen, damit sie das Maß ihrer Sünden jederzeit voll machen. Doch das Zornesgericht ist endgültig über sie gekommen‹ (2, 15f).« ... »Den unüberbietbaren Gipfel neutestamentlichen Antisemitismus stellt das Johannesevangelium dar, an dem sich besonders deutlich ablesen läßt, daß jede christliche Theologie notwendig ihren Juden, die mythische Projektion des absoluten Außenfeindes, braucht. Klarer als alle anderen Schriften durchzieht das vierte Evangelium ein strenger Dualismus, der mit den Begriffen: Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, oben und unten, himmlisch und irdisch, Gott und Teufel, Freiheit und Knechtschaft, Leben und Tod operiert. Dem Licht gehört an, wer dem Offenbarer glaubt, der da sagt: ›Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich‹ (Joh 14, 6) Der Finsternis und der Lüge ist verfallen, wer den himmlischen Gesandten abweist, ja, wer nur nach seiner Legitimation fragt. Der entscheidende Begriff, der den Ungläubigen beigelegt wird, ist der der ›Welt‹ – oder der der ›Juden‹. Beides wird durchgängig austauschbar gebraucht. Die Juden stammen weder von Gott noch von Abraham ab, sondern vom Teufel (Joh 8, 44). Als Kinder des Teufels, des Vaters der Lüge und des Menschenmörders von Anfang an, trachten sie Jesus notwendigerweise nach dem Leben.«
Des weiteren führt KAHL aus, dass Kirchenlehrer und Kirchenväter auf der Basis dieser und weiterer Bibelstellen bereits in den ersten Jahrhunderten in ihren Schriften die Juden als Mörder von Christus, als Fälscher der Heiligen Schrift, als geldgierig und verbrecherisch, ihre Synagogen als Satansburgen (Offenbarung des Johannes, Kap. 3, Vers 9!) brandmarkten. Unter Kaiser Konstantin (4. Jahrhundert) und seinen Söhnen wurde der Übertritt zum Judentum mit schweren Strafen belegt und Mischehen zwischen Juden und Christen mit dem Tode bestraft. Unter Kaiser THEODOSIUS II. (5. Jahrhundert) wurden die Juden von allen öffentlichen Ämtern und Würden ausgeschlossen. Das IV. Laterankonzil (1215) legte eine besondere Judentracht fest: Ein gelber Fleck im Obergewand und eine gehörnte Kappe. KAHL verweist darauf, dass unzählige Mysterien-, Passions- und Fastnachtsspiele, Traktate und Heiligenlegenden die Juden verhöhnen und verleumden. Viele mittelalterliche Bilder stellen den Teufel mit einer gebogenen Nase (Judennase) dar. In vielen alten, gelegentlich noch heute zu hörenden Sprichwörtern und Redewendungen steht das biblisch bezogene »Jüdische« als Synonym für das Böse und Negative schlechthin.
Diese wenigen, hier nur angedeuteten Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren. Sie lassen unzweideutig erkennen, dass durch die gesamte Kirchengeschichte, und zwar von Anfang an, die Juden als teuflische Elemente angesehen und für alle Übel dieser Welt verantwortlich gemacht wurden, beispielsweise auch für die verheerende, Millionen Menschen dahinraffende Pestepidemie von 1347-1349. Muss man sich da noch wundern, dass sich auf diese Weise eine tiefsitzende Abneigung, ja geradezu Hass – so bar jeder rationalen Begründung auch immer – in allen Bevölkerungsschichten breit gemacht und tief verankert hat? Wenn dann noch eine so sprachgewaltige Autorität wie Martin Luther mit seinem weitreichenden, bis in unsere Zeit wirksamen Einfluss seine wohlüberlegten Hetztiraden gegen die Juden loslässt (siehe sein Buch „Von den Juden und ihren Lügen“, das bis in Einzelheiten das nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungsprogramm vorwegnahm), dann kann ich nicht anders, als von einer systemimmanenten, das heißt, dieser christlichen Lehre als Wesensbestandteil innewohnenden Ungeheuerlichkeit zu sprechen. Nur in seltenen Fällen widersprachen Päpste und Bischöfe diesen Verleumdungen und Verfolgungen.
Wer an den Begriffen »Wesensbestandteil« und »Ungeheuerlichkeit« Anstoß nimmt, überlege sich, was alles aus dem Neuen Testament gestrichen werden müsste, welche Konsequenzen das für die Leidensgeschichte von Jesus und die darin tragende Rolle der Juden hätte und welchen Verlauf die moralische und zivilisatorische Entwicklung in Europa genommen hätte, wenn den Juden nicht diese infame Rolle zugewiesen worden wäre. »Judas der Verräter« und »die Juden als Gottesmörder« sind begriffliche Etiketten, die ihre diffamierende Wirkung bis heute entfalten.
Wer diese Zeilen nur mit abwehrendem Kopfschütteln lesen und nicht akzeptieren mag, nehme wenigstens die Seiten 42-52 in JOACHIM KAHL: »Das Elend des Christentums« zur Kenntnis oder in KARLHEINZ DESCHNER »Abermals krähte der Hahn« die Seiten 442-464. Wer sich umfassender informieren möchte, lese – wie oben schon erwähnt – »Das Unheilige in der heiligen Schrift« des evangelischen Theologen GERD LÜDEMANN oder »Nein und Amen – Mein Abschied vom traditionellen Christentum« der katholischen Theologin UTA RANKE-HEINEMANN.(2)
In seinem jüngst erschienenen Buch »Gesichter des Antisemitismus« beschreibt der international als Wissenschaftler und Autor zahlreicher historischer Werke ausgewiesene Antisemitismusforscher WALTER LAQUEUR, welche Formen des Hasses den Juden schon in der Antike entgegenschlugen. Neben der üblichen, in allen Kulturen anzutreffenden Fremdenfeindlichkeit war es hier vor allem die christlich-religiöse Begründung. LAQUEUR stellt fest (S. 14): »Aus historischer Sicht bedeutsam ist die Tatsache, dass sich das von den christlichen … Theologen geschaffene Stereotyp des Juden über Jahrhunderte hinweg hielt und bis heute weiterwirkt«. Er verweist auf einschlägige antijüdische Stellen im Matthäus-, Lukas- und Johannes-Evangelium (S. 60f). Als besonders feindselig gegenüber den Juden erwähnt er die Kirchenmänner Justin der Märtyrer, Origines, Bischof von Alexandria, und Johannes Chrysostomos, Erzbischof von Konstantinopel, sowie den bis heute hoch geschätzten Kirchenvater Aurelius Augustinus (S. 62f).(3)