Der Ethikrat kriegt die Kurve

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Fotos: Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Der Ethikrat tagte jüngst, symptomatisch war der Titel: Beschneidung von Minderjährigen aus religiösen Gründen. Damit war die Sicht von Vornherein verengt und so blieb sie auch. Bis auf eine lobenswerte Ausnahme.

In ihren einleitenden Worten meinte die Vorsitzende des Ethikrats, Christiane Woopen, es handele sich um eine „historische Chance zu zeigen, dass wir in einem so tiefgreifenden Konflikt zu einer Lösung kommen können.“ Allein dem Juristen Reinhard Merkel ist es zu verdanken, dass diese Lösung entstand und auch rational nachvollziehbar ist. Nachdem er ausführlich dargelegt hatte, dass und weshalb die nicht medizinisch indizierte Beschneidung von Jungen eine Körperverletzung darstellt und daher Unrecht ist, gelang es ihm, aus den traditions- und religionslastigen Vorlagen seiner Professoren(!)-Kollegen einen tragfähigen Kompromiss aufgrund der historischen Schuld Deutschlands an den Juden zu kreieren.

Was war so außergewöhnlich am Vortrag Merkels? Nun, Merkel baute seinen Vortrag Schritt für Schritt logisch und rational auf, führte das Publikum zu einem eindeutigen Ergebnis. Unter dem Titel „Zur religiös motivierten früh- kindlichen Knabenbeschneidung. Strafrechtliche und rechtsprinzipielle Probleme“ ging der Hamburger Professor auf strafrechtliche, verfassungsrechtliche, familienrechtliche und rechtspolitische Aspekte der Knabenbeschneidung ein. Im Kern ginge es nicht um eine strafrechtliche, sondern um eine verfassungsrechtliche bzw. familienrechtliche Problematik, nämlich um die Religionsfreiheit und das Erziehungsrecht sowie die Grenzen des Sorgerechts und um das Kindeswohl.

Sorgerecht: ein treuhänderisches Mandat zum Kindeswohl

Er betonte, es gebe kein Freiheitsrecht, unmittelbar in den Körper anderer Personen einzudringen (bis auf Notrechte wie etwa Notwehr). Die Religionsfreiheit spiele keine Rolle, das Grundrecht der Eltern auf Pflege und Erziehung stelle dagegen den wirklichen Kern des rechtlichen Problems dar. Allerdings handele es sich beim Sorgerecht um kein genuines Freiheitsrecht. Dies sei vielmehr ein treuhänderisches Mandat zum Wohl der Kinder. Das Sorgerecht erlaube moderate Eingriffe in die Körperintegrität unmündiger Kinder (wie beispielsweise den Frisörbesuch). Jede Art von Gewalt, auch zu Erziehungszwecken, sei jedoch verboten. Bei der Beschneidung handele es sich um einen gewaltsamen Akt gegen den kindlichen Körper.

Beispielbild
Reinhard Merkel
Zur Lösung des Konfliktes beleuchtete Merkel zwei Fragen: 1. Wie gewaltig ist der Körpereingriff, wie gravierend sind die Folgen? 2. Ist das Beschneidungsgebot für die jeweilige Religionsgemeinschaft unabänderlich und zwingend? Denn nicht alle Juden und Muslime seien beschnitten.

Zum Gewicht des Eingriffs bemerkte der Referent, Verharmlosungsversuche seien ganz und gar unangemessen. Ohne Anästhesie sei der Eingriff gerade bei Neugeborenen nicht nur schmerzhaft, sondern qualvoll (an dieser Stelle bewies der Jurist mehr medizinische Fachkompetenz sowie Einfühlungsvermögen als jeder andere Redner). Grob unterschätzt würden Folgeschäden des Eingriffs, hier gebe es eine erhebliche Dunkelziffer. Zu den schweren Folgeschäden gehörten Nekrose, Eichel- und Penisamputationen, Tod. Allein in den USA komme es jährlich zu 117 Todesfällen aufgrund einer Zirkumzision.

Rechtspolitischer Notstand

Da es sich um einen jüdischen Brauch handele und wegen der deutschen Geschichte eine besondere Sorge um jüdische Belange zu respektieren sei, bestehe ein rechtspolitischer Notstand. Würde es sich um einen muslimischen Brauch oder den einer neuen Religionsgemeinschaft handeln, wäre wohl, so Merkel, „nichts passiert“.

Aus diesem Grunde plädierte Merkel für folgende Forderungen an den Gesetzgeber: die Anästhesie müsse wirksam sein; der Eingriff dürfe nur von medizinisch geschultem Personal durchgeführt werden; Eltern müssten über die Tiefe des Eingriffs und mögliche Folgen aufgeklärt werden; mögliche psychosexuelle Folgen sollten erforscht werden; eine gesetzliche Meldepflicht für besonders schwere Komplikationen solle eingeführt werden.

Während die anderen Kollegen - Dr. (TR) Dr. phil. Ilhan Ilkilic, Prof. Dr. iur. Wolfram Höfling, Prof. Dr. theol. Peter Dabrock und die anschließenden Diskutanten – mehr oder weniger ins selbe, traditionslastige Horn bliesen, soll ein Referent noch kurz präsentiert werden, der besonders stark in dieses Horn blies: Prof. Dr. med. Leo Latasch.

Latasch verlas zunächst wahllos wirkende Blogeinträge zum Thema, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass sie im Internet zu lesen waren. Sein Ziel bestand offenbar darin, kinderrechtliche Argumente mit antisemitischen und ausländerfeindlichen Aussagen in einen Topf zu werfen. Den Offenen Brief zur Beschneidung von Professor Dr. med. Matthias Franz, der von hunderten Medizinern und Juristen unterzeichnet worden war, verlas Latasch ausschnittweise aus dem Kontext gerissen und bezeichnete die Passage, in der die Beschneidung als sexuelle Gewalt bezeichnet wird, einfach mal als „ungeheuerlich“.

Besonders hervorzuheben ist an Lataschs Vortrag jedoch, dass er einen kleinen Ausschnitt aus einem Video zeigte, in welchem die Beschneidung eines wenige Tage alten Säuglings dargestellt wird. Mehrere Männer machen sich am Körper und am Penis des Winzlings zu schaffen, woraufhin der so herzzerreißend schreit, dass viele im Publikum nach Luft schnappten, den Kopf schüttelten, fassungslos schienen. Derweil kommentierte Latasch völlig ungerührt den Eingriff: „Der Mohel tunkt mehrfach den Zeigefinger in süßen Wein.“ „Das Präputium wird nach vorne gezogen, mit Hilfe einer Knopfsonde wird die Verklebung gelöst. Eine Metallplatte...“ Eine Frau fiel ohnmächtig um, jemand rief nach einem Arzt. Einer im Publikum schrie: „Das ist Sadismus!“ Latasch blickte kurz auf, als die Frau ohnmächtig wurde, wartete kurz ab, und setzte dann seine Ausführungen fort, leierte die medizinischen Vorteile der Vorhautamputation herunter. Die Krönung seines Vortrags war der Satz, dass das Kind für den Eingriff nüchtern sein müsse. „Wir wissen also gar nicht, ob das Neugeborene nicht auch aus Hunger schreit oder weil es festgehalten wird“.

„Weil es schon immer so war, muss es auch immer so bleiben“

So wie Latasch argumentierten dann prinzipiell alle anderen außer Merkel: Das Beschneidungsgebot stehe im Alten Testament und sei eines der wichtigsten Gebote. Basta. In der Tendenz lassen sich die Ausführungen zusammenfassen: Die Wirkungen und Nebenwirkungen der Beschneidungen werden entweder ganz geleugnet, das heißt, es gibt gar kein Problem. Oder es gibt zwar Nebenwirkungen, aber man müsse trotzdem einen Weg finden, das Beschneiden zu erlauben, weil es um Traditionen geht, weil es um Juden geht, weil es um Religion geht.

Und so kam der deutsche Ethikrat zu folgendem Ergebnis:

“Ungeachtet tiefgreifender Differenzen in grundlegenden Fragen empfiehlt der Ethikrat einmütig, rechtliche Standards für eine Beschneidung minderjähriger Jungen aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen zu etablieren und dabei folgende Mindestanforderungen umzusetzen:

  1. umfassende Aufklärung und Einwilligung der Sorgeberechtigten
  2. qualifizierte Schmerzbehandlung
  3. fachgerechte Durchführung des Eingriffs sowie
  4. Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen.

Darüber hinaus fordert der Ethikrat die Entwicklung und Evaluation von fachlichen Standards für die Durchführung der Beschneidung unter Mitwirkung der Betroffenen und der beteiligten Gruppen.”

Es ist eher verwunderlich und dankenswert, dass der Ethikrat noch die Kurve kriegte und der stringenten Argumentation Merkels folgte, hatte diese doch wenig gemein mit der Mehrzahl der Redebeiträge. Zugleich war die Strategie Merkels sehr klug, denn hätte er die Beschneidung geradewegs abgelehnt, wäre der Ethikrat ihm wohl nicht gefolgt. Indem er seine Forderungen auf die besonderen Umstände, auf den historisch bedingten „rechtspolitischen Notstand“ aufbaute, konnte er die einschränkenden Bedingungen für den Eingriff einführen.
 

Fiona Lorenz